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5

Scottie wurde plötzlich mitteilsam, ja geradezu beredt, als er und Andy auf dem Bahnsteig auf den Zug warteten.

»Sie glauben, daß Sie die Kehrseite des Lebens, all den Schmutz und all das Elend kennen, Macleod, weil Sie mit den Spelunken der großen Stadt vertraut sind? Mit den chinesischen Opiumhöhlen und den Freudenhäusern mit den seidenen Vorhängen und den weichen Diwans? Ich weiß, daß Sie nicht so sehr von sich überzeugt sind wie all diese anderen Mißgeburten, die sich Detektive nennen. Ihr Beruf als Arzt hat Sie mehr in die Tiefe schauen lassen. Sie kennen das Leben gründlicher als diese Leute, aber alles wissen Sie auch nicht.«

»Nein, ich weiß nicht alles«, gab Andy zu.

»In diesem Punkt irren sich die meisten Polizeileute – Sie nicht, aber viele andere. Verbrecherkneipen und Lokale, wo sich der Abschaum und die Hefe des Volkes herumtreibt, wo die kleinen Gauner und Verbrecher verkehren, die sich wie Rothschild vorkommen, wenn sie einmal fünf Pfund in der Hand haben – das sind die schlimmsten Plätze nicht.« Er schaute sich um. Der Polizist aus Beverley, der ihn zur Stadt eskortieren sollte, sah gedankenlos drein und hörte nicht zu. »Wenn Sie die wirkliche Hölle finden wollen, dann müssen Sie nach Beverley Green gehen!«

Andy sah ihn erstaunt an, unwillkürlich überlief ihn ein Schauder.

»Wieso denn? Haben Sie irgend etwas Besonderes gehört?«

Scottie schüttelte den Kopf und zog die Lippen zusammen.

»Nein, gehört habe ich nichts, aber ich habe es gefühlt. Ich bin sehr empfänglich für – zum Teufel, wie heißt doch gleich das Wort – für die Atmosphäre. Sie werden vielleicht darüber lachen, aber Sie werden nicht mehr lachen, wenn Sie mein Alibi zu Gesicht bekommen. Schon oft hat mich mein Gefühl vor langen Gefängnisstrafen bewahrt. Es ist etwas ganz Seltsames. Ich werde Ihnen einen Fall erzählen. Ich war in einem Gefängnis, als man einen Mann dort hinbrachte, der gehenkt werden sollte. Niemand wußte, daß er dort war. Man hatte ihn am Tage vor seiner Hinrichtung plötzlich dorthin überführt, weil der Fußboden des Exekutionsgebäudes Feuer fing. Das ist eine Tatsache! Und ich wußte, daß er im Gefängnis war, ich fühlte es sofort, als er das Haus betrat. Und ein ähnliches Gefühl habe ich von Beverley Green. Da ist irgendein Unheil im Gange. Sie sind erstaunt, Macleod? Ich möchte fast sagen, daß einen die Geister und Gespenster berühren, wenn man dort geht. Ich sage Ihnen, es ist unheimlich. Deshalb habe ich die ganze Gegend das Geistertal genannt. Ich werde Ihnen etwas erzählen, was sehr zu meinen Ungunsten spricht, wenn Sie es vor Gericht vorbringen. Aber ich traue Ihnen, Macleod – Sie sind nicht wie die anderen. Sie waren immer ein Gentleman. Ich hatte eine Pistole. Ich besaß stets eine Waffe, ich nahm sie bloß nie mit. Aber in Beverley Green konnte ich mir nicht helfen, ich steckte sie ein, wenn ich dort herumging. Ich trug sie auch bei mir, als Sie mich verhafteten. Als wir nach Beverley hineinfuhren, habe ich sie fortgeworfen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen wo, denn Sie haben es doch nicht gemerkt.«

»Ich habe es genau gesehen – Sie taten es, als wir zu der großen Kurve vor der Stadt kamen. Aber wir wollen uns nicht darüber streiten; ich werde sogar meinen Auftrag widerrufen, die Abhänge neben der Eisenbahn zu durchsuchen. Warum haben Sie das getan, Scottie? Sie fürchten sich doch sonst nicht so leicht?«

Scottie machte ein düsteres Gesicht und war sehr ernst.

»Ich weiß es selbst nicht. Ich bin nicht nervös und war es auch noch nie. Vor einem Menschen aus Fleisch und Blut habe ich keine Angst. Aber ich hatte ein ganz unerklärliches, unheimliches Gefühl – wissen Sie, wenn ich Sternschnuppen sehe, geht es mir auch so. Es war reine Furcht. Ich habe gestern noch mit Merrivan darüber gesprochen. Sie kennen ihn doch, er schwatzt über alles, was in der Gemeinde vorgeht –«

Andy mußte lachen, als er an diesen Reklamechef und Fremdenführer von Beverley Green dachte.

»Er ist kein schlechter Kerl, aber er hat das Zuhören verlernt. Das kommt von der Korpulenz. Das bestätigte er mir selbst, nachdem ich es ihm gesagt hatte. Er hat mir in allem beigepflichtet. Vielleicht macht er das bei jedem Menschen so, er paßt sich an. Macleod, gehen Sie hin und bleiben Sie einen oder zwei Tage in Beverley Green, dann werden Sie dasselbe Gefühl haben. Es brütet etwas in der Luft, es ist wie die Stille, bevor der Blitz in Ihr Haus einschlägt – aber hier kommt der Zug. Und wenn Sie vor Gericht als Zeuge gegen mich auftreten müssen, machen Sie mich nicht zu schlecht.«

»Habe ich schon einmal etwas gegen Sie gesagt, Scottie?« fragte Andy. »Also viel Glück mit Ihrem Alibi!«

Scottie blinzelte.

In diesem Augenblick hielt der Zug an, und Stella Nelson stieg aus dem Abteil, das vor ihnen hielt. Andys Blicke folgten ihr, bis sie außer Sicht war.

»Sie ist auch irgendwie in das Unheil verwickelt«, flüsterte Scottie ihm ins Ohr. »Also auf Wiedersehen, Macleod!«

Scottie fuhr nach London und wurde vor Gericht gestellt. Aber es ging ihm nicht so schlecht, wie er gefürchtet hatte, da sein Alibi gut und einwandfrei war und die Aussage von vier anscheinend ehrenhaften Personen genügte. Sie hatten mit ihm Karten gespielt, als das Verbrechen begangen wurde. Auch die klug aufgebaute Anklage des Staatsanwaltes und das geschickte Kreuzverhör des skeptischen Richters konnten nichts daran ändern.

Andy hatte sich eigentlich vorgenommen, eine schöne Mondscheinfahrt über Land nach seinem Feriensitz zu machen, von dem man ihn so plötzlich weggeholt hatte. Alle Formalitäten des Verhörs von Scottie wurden ja von dem Polizeiinspektor, der den Fall leitete, erledigt. Wenn die Untersuchung oder die Gerichtsverhandlung seine Anwesenheit notwendig machten, konnte er für einen Tag nach London fahren.

Aber Scotties Bemerkung über Beverley Green hatte auf ihn gewirkt wie ätzende Säure auf eine Kupferplatte. Als er zu dem Gasthaus zurückging, wo sein Wagen untergestellt war, hatte er sich entschlossen, in Beverley zu bleiben. Er wunderte sich, daß bereits alle Leute wußten, wer er war. Auf der Straße, wo sie hier und dort in Gruppen herumstanden, wandten sie sich nach, ihm um, als er vorbeiging.

Wenn er schon nicht die Absicht hatte, Beverley in dieser Nacht zu verlassen, so dachte er doch nicht daran, Beverley Green zu besuchen. In seinem Unterbewußtsein mochte dieser Plan allerdings bestanden haben, doch folgte er nur einem augenblicklichen Impuls, als er plötzlich nach dem Abendessen seinen Wagen aus der Garage holte und zu der schönen Villenkolonie fuhr. Er kam zum Gästehaus, stellte den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus. Es war Vollmond, und die magische Wirkung des weißen Lichtes beeinflußte auch ihn.

Er stand lange und betrachtete die herrliche Landschaft, dann ging er über den grünen Rasen und wandte sich zum Haus Mr. Nelsons. Er beobachtete, wie sich die Haustür öffnete und ein Lichtschein herausfiel. Er trat in den Schatten eines der Rhododendronbüsche, die in den Anlagen neben der Straße standen.

Es kam ein Mann heraus, dessen Gang sofort seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Andy hatte sich eingehend mit dem Studium der Menschen befaßt. Er kannte die Sprache der Hände, er konnte aus der Art und Weise, wie sich jemand an den Tisch setzte und seine Serviette entfaltete, viele Schlüsse auf seinen Charakter oder seine augenblickliche Gemütsverfassung ziehen.

Dort geht jemand, der in sehr schlechter Stimmung ist, dachte er und schaute Artur Wilmot nach, der niedergeschlagen den geschotterten Weg entlangging. Der junge Mann öffnete die Gartentür zu seinem eigenen Grundstück, blieb dann aber stehen, als ob ihm ein anderer Gedanke gekommen wäre, trat wieder auf die Straße und ging in ein Haus, das dort an der Ecke der Landstraße stand. Es war Mr. Merrivans Anwesen. Andy erinnerte sich, daß Wilmot Merrivans Neffe war.

Der Detektiv ging weiter, hielt sich aber immer im Schatten der Büsche und Bäume. Etwas wie Furcht hatte auch ihn plötzlich gepackt. Er hatte ein feines Gefühl, das sich jedoch mehr auf praktische Dinge bezog. Sicherlich war er nicht so empfindlich für gewisse Einflüsse, wie Scottie es zu sein behauptete. Er hatte über dessen Erzählung nachgedacht, aber trotz aller Übertreibungen war doch immer noch eine gewisse Aufrichtigkeit dieses Mannes in Betracht zu ziehen, Auch Scotties Furcht hatte er für Übertreibung gehalten, und jetzt beschlich ihn selbst ein unheimliches Gefühl. Ihm war, als ob ein drohender Schatten auf ihn fiel.

Dennoch blieb er in der Nähe von Mr. Merrivans Haus stehen. Er wußte selbst nicht, warum er es tat. Immerhin setzte er das gute Einvernehmen mit den Bewohnern von Beverley Green aufs Spiel. Artur Wilmot hatte die Gartentür offenstehen lassen. Andy überquerte die Straße und trat in den Garten. Er hütete sich aber, den Kiesweg zu benützen, und ging auf dem angrenzenden Rasenstreifen.

Als er die Bäume hinter sich hatte, die die Fassade teilweise verdeckten, sah er, daß das Haus viele Fenster hatte. Die Rahmen waren weiß gestrichen, und der Mond spiegelte sich in den Scheiben, so daß sie wie Silber glänzten. Aus keinem der Fenster drang Licht nach außen. Er folgte dem Weg, bis er dicht unter einem Fenster in der Nähe des Eingangs stand. Hier hörte er plötzlich mit merkwürdiger Deutlichkeit eine Stimme.

»Das wirst du nicht tun – bei Gott, das darfst du nicht tun! Eher will ich dich umbringen!«

Es war nicht Merrivan, der sprach, und Andy vermutete, daß es Wilmot sein mußte. Gleich darauf vernahm er ein Geräusch. Das obere Fenster wurde etwas geöffnet. Die beiden Männer befanden sich wahrscheinlich in diesem Zimmer. Jetzt konnte er Merrivans Stimme deutlich unterscheiden.

»Mach dich doch nicht so lächerlich – was du da redest, ist Unsinn, mein Lieber. Vor deinen Drohungen fürchte ich mich durchaus nicht. Und jetzt werde ich dir etwas sagen – das wird dich in Erstaunen setzen! Ich kenne deine geheimnisvolle Beschäftigung in der Stadt.«

Die Stimmen wurden leiser, und obgleich Andy sich die größte Mühe gab, konnte er nichts mehr verstehen. Er hörte nur noch ein schnelles, dringendes Sprechen, und einmal lachte Mr. Merrivan laut auf.

Dann wurde ein Stuhl gerückt. Andy eilte aus dem Garten und verbarg sich in den gegenüberliegenden Büschen, bis Artur Wilmot herauskam und langsam seinem eigenen Haus zuschritt.

Familienstreitigkeiten erscheinen meistens schwerwiegender, als sie in Wirklichkeit sind. Aber hier handelte es sich doch um eine ungewöhnliche Auseinandersetzung. Welcher Art war wohl die geheimnisvolle Beschäftigung Artur Wilmots, die Mr. Merrivan nur zu erwähnen brauchte, um ihn ganz zahm zu machen? Vorher hatte er geschrien und seinen Onkel mit Mord bedroht, dann war er plötzlich ruhig geworden und hatte normal, fast bittend, gesprochen.

Andy wartete, bis Wilmot seine Haustür geschlossen hatte, dann trat er wieder auf den Weg und ging langsam zurück. Als er in die Nähe von Nelsons Haus kam, blieb er stehen und schaute hinauf. Sein Herz schlug ein wenig schneller. Er konnte das Mädchen oben am Fenster deutlich erkennen. Das Mondlicht ließ ihre Züge noch schöner erscheinen. Sie zog sich zurück, und das Fenster schloß sich langsam. Er wußte, daß sie ihn gesehen hatte. War sie erschrocken? Fürchtete sie sich vor ihm?

Sonderbar, dachte er, als er nach Beverley zurückfuhr, und das Merkwürdigste von allem war, daß er sich wieder wohler fühlte und das Gefühl der Bedrohung ihn verließ, sobald er wieder in die Hauptstraße einbog. Wenn es wirklich Teufel und Gespenster in Beverley Green gab, so mußten sie wirklich sehr mächtig sein, denn sogar Andrew Macleod hatte kurze Zeit unter ihrem Einfluß gestanden.


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