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4

Wenn man in Nelsons Haus eintrat, kam man in eine große Eingangshalle, die auf drei Seiten von einer Galerie umgeben war, zu der man auf einer breiten Treppe emporsteigen konnte.

Nelson stand an einer Staffelei und betrachtete ein Gemälde, sein Gesicht war nicht zu sehen. Aber Stella brauchte es auch nicht zu sehen, seine Haltung sagte ihr schon genug. Er wandte sich jetzt um und betrachtete seine Tochter mit einem gewissen Unmut. Er hatte ein schmales Gesicht und war ziemlich kahlköpfig. Seine Nase war fein und aristokratisch, Mund und Kinn waren ohne Energie. Ein dünner, brauner Schnurrbart, der grau zu werden begann, gab ihm ein fast militärisches Aussehen, das augenblicklich auch zu seiner kriegerischen Stimmung paßte.

»Nun, endlich zurück?«

Er kam langsam auf sie zu. Seine Hände lagen auf dem Rücken, die Schultern waren zurückgezogen.

»Weißt du auch, daß ich kein Mittagessen hatte?« fragte er düster.

»Ich sagte dir doch heute morgen, daß ich in die Stadt fahren würde. Warum hast du nicht Mary gefragt?«

Sie fürchtete schon seine Antwort.

»Mary habe ich entlassen«, erklärte er hochfahrend.

Stella seufzte.

»Du hast doch nicht etwa auch die Köchin fortgeschickt?«

»Die habe ich auch hinausgeworfen.«

»Hast du ihnen denn auch ihren Lohn gegeben?« fragte sie zornig. »Vater, warum machst du immer so schreckliche Geschichten?«

»Ich habe sie entlassen müssen, weil sie unverschämt wurden«, entgegnete Mr. Nelson würdevoll. »Das genügt doch wohl. Ich bin Herr in meinem eigenen Hause.«

»Ich wünschte, du wärst etwas mehr Herr deiner selbst«, sagte sie müde, ging zum Kamin, nahm eine dort stehende Flasche und hielt sie gegen das Licht. »Immer wirfst du die Dienstboten hinaus, wenn du betrunken bist!«

»Betrunken?« fragte er beleidigt.

Sie nickte. In solchen Augenblicken sagte sie ihre Meinung frei heraus. »Morgen wirst du mir wieder erzählen, daß du dich an nichts erinnern kannst, und dann tut dir alles leid. Ich muß aber wieder nach Beverley und zwei neue Dienstboten auftreiben. Sie werden sehr schwer zu finden sein.«

Nelson hob die Augenbrauen. »Wie, du hältst mich für betrunken?!« rief er vorwurfsvoll.

Aber sie achtete nicht weiter auf ihn, ging in die Küche und machte sich daran, etwas zu kochen. Sie hörte, wie er die Treppe hinaufstieg und immer wieder vor sich hinsagte: »Betrunken?« Dann lachte er höhnisch.

Sie saß am Küchentisch, trank eine Tasse Kakao und aß eine Schnitte Brot mit Butter. Sie sah sich auch nach einem Stückchen Käse um, aber sie wußte im voraus, daß nichts dasein würde. Mr. Nelson hatte eine Vorliebe für Käse, wenn er trank. Hätte er doch nur etwas gearbeitet! Sie ging in das Atelier, das auf der Rückseite des Hauses lag. Die Leinwand, die sie ihm am Morgen aufgespannt hatte, war unberührt, kein Kohlestrich war darauf zu sehen.

Stella seufzte.

»Es hat ja doch alles keinen Zweck«, sagte sie traurig und betrachtete wehmütig die vielen halbvollendeten Studien, die an der Wand hingen.

Sie ließ sich an einem kleinen Schreibtisch in der Ecke des Ateliers nieder und machte Eintragungen in ihr Wirtschaftsbuch, als die Hausglocke läutete. Sie stand auf und ging in die Halle. Draußen dämmerte es schon. Der Herr, der geklingelt hatte, war einige Schritte von der Tür zurückgetreten, so daß sie ihn zuerst nicht erkennen konnte.

»Ach, du bist es, Artur? Komm bitte herein. Vater ist schon nach oben gegangen.«

»Das habe ich vermutet.«

Mr. Artur Wilmot wartete, bis sie das Licht im Wohnzimmer eingeschaltet hatte, bevor er nähertrat.

»Du warst heute in der Stadt?«

»Hast du mich gesehen?« fragte sie schnell.

»Nein, jemand hat es mir erzählt – ich glaube, es war Merrivan. Hast du schon die Geschichte von dem kanadischen Professor gehört? Er ist in Wirklichkeit ein so bekannter Einbrecher, daß sich ein Mann wie Andrew Macleod mit ihm beschäftigt. Macleod ist eigentlich ein Arzt.«

Sie wußte sofort, daß er von dem Mann mit den grauen Augen sprach, aber sie wollte Gewißheit haben.

»Wer ist Andrew Macleod?«

»Ein Detektiv, aber eigentlich ist er Arzt. Man vertraut ihm alle schwierigen, wichtigen Fälle an, und unser Professor ist ein Muster von einem Einbrecher. Er hat den Spitznamen Scottie, wenigstens hat ihn Mr. Macleod so angeredet.«

»Ich muß ihn auf dem Bahnhof gesehen haben, Ein hübscher Mensch mit eigentümlichen Augen.«

»Ich würde Scottie kaum als einen hübschen Mann bezeichnen«, erwiderte Wilmot.

Sie war so verwirrt, daß sie seinen Irrtum nicht korrigierte.

»Ich kann dich leider nicht bitten, heute abend länger zu bleiben; wir haben kein Personal im Hause.«

»Schon wieder einmal kein Personal?« fragte er erstaunt. »Das ist aber doch zu schlimm! Dein Vater benimmt sich wirklich unmöglich! Nun mußt du wieder Köchin und Dienstmädchen spielen, bis du neue Leute gefunden hast.«

»Und mein zerknirschter Vater will mir dabei helfen und steht mir dabei dauernd im Wege. Es ist eine Not mit ihm, und dabei ist Vater doch ein so guter, liebenswürdiger Charakter, wenn –«

Der junge Mann hatte schon die Frage auf der Zunge, wann Mr. Nelson überhaupt einmal nüchtern sei. Er war aber so klug, sie damit nicht zu ärgern. In anderer Weise jedoch war er nicht klug genug, wie sich später herausstellte.

»Was hast du denn in der Stadt gemacht?«

»Warum willst du das wissen?« Sie schaute ihn an.

»Wenn ich geahnt hätte, daß du in der Stadt warst, hätten wir zusammen zu Mittag essen können.«

»Ich denke nicht an Essen, wenn ich nach London gehe. Aber was treibst du eigentlich immer dort? Ich habe dich schon oft nach deiner Beschäftigung gefragt. Erlaube, daß ich einmal indiskret bin und gerne wissen möchte, womit du deinen Lebensunterhalt verdienst.«

Er schwieg zunächst. »Ich habe eben meinen Beruf«, erwiderte er dann unbestimmt.

»Hast du ein Büro?«

»Ja, ich habe auch ein Büro.«

»Wo liegt es denn?«

»Ich benütze meistens andere Büros – ich habe viele Freunde und mein –« Er stockte wieder. »Ich besuche meine Kunden möglichst in ihren Wohnungen.«

»Du bist weder Rechtsanwalt noch Arzt. Du bist auch kein Börsenagent – ich muß sagen, Artur, daß du fast ebenso geheimnisvoll bist wie – wie Scottie, wie du ihn nennst. Ich meine unseren armen Professor. Aber nun gehst du besser nach Hause«, sagte sie dann unvermittelt. »Ich bin nicht peinlich in bezug auf Anstandsregeln« – von oben kam ein Poltern und sie schaute zur Decke hinauf – »aber wenn mein Vater zu Bett gegangen ist ich glaube, er hat eben seine Stiefel ausgezogen –, dann kannst du nicht mehr bleiben.«

»Du hast wohl nicht mehr nachgedacht über –«, begann er zögernd. »Ich möchte dich nicht drängen oder Vorteil aus ... aus der jetzigen Lage ziehen...«

Sie sah ihn freundlich an. Er hatte ein großes Gesicht, gepflegtes Haar und einen kleinen, schwarzen Schnurrbart. Stella hatte manchmal die Vorstellung, daß sich eine schwarze Raupe auf seine Oberlippe verirrt hätte, und zuweilen kam ihr seine ganze Erscheinung ein wenig lächerlich vor. Aber heute abend empfand sie nur Mitgefühl mit ihm.

»Ich habe über alles nachgedacht, Artur – es ist ganz unmöglich. Ich möchte überhaupt nie heiraten. Und nun geh nach Haus und vergiß das alles.«

Er hatte den Blick gesenkt. Es folgte ein tiefes Schweigen. Sie wollte ihn nicht in seinen Gedanken stören, die nicht allzu rosig zu sein schienen.

Aber plötzlich fuhr er auf: »Stella, es wäre besser, wenn du nicht immer derartige Redensarten gebrauchen und mich wie einen kleinen Jungen behandeln würdest, den man beruhigen muß. Du bist eine Frau, ich bin ein Mann. Ich biete dir etwas. Ich habe eine Stellung und eine Existenz, und wenn Merrivan einmal stirbt ... nun, du weißt, ich bin sein einziger Verwandter. Du bist pekuniär in einer sehr bedrängten Lage, erst heute warst du wieder wegen irgendeiner Geldgeschichte in der Stadt. Ich weiß zwar nicht, um was es sich handelt, aber früher oder später werde ich es erfahren. Du kannst dich nicht länger in Beverley Green halten. Dein Vater hat so viel getrunken, daß schon zwei hohe Hypotheken auf dem Haus lasten, und es wird nicht mehr allzulange dauern, bis er auch die Möbel und die ganze Einrichtung vertrunken hat. Wenn du glaubst, es sei schön, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, so irrst du. Fünf von sieben Chefs werden versuchen, mit dir ein Verhältnis anzufangen – das sind altbekannte Geschichten. Ich wäre bereit, den armen, alten Säufer in einem Trinkerheim unterzubringen. Dort wird ihm der Alkohol entzogen. Entweder bricht er dann ganz zusammen und stirbt bald, oder er wird geheilt. Er hat es nicht anders gewollt, es mußte so kommen. Zuerst wollte ich einen anderen Weg einschlagen, aber es ging nicht. Du bist jetzt erwachsen und wirst verstehen, daß Strenge das Beste für solche Menschen ist. Stella, ich liebe dich mehr als sonst etwas auf der Welt – und ich weiß alles!«

Die letzten Worte hatte er mit erhobener Stimme gesprochen. Sie bewegte ihre Lippen, brachte aber kein Wort heraus.

»Ich weiß genau, wie schlimm es um deine Angelegenheiten steht, und ich sage dir, daß ich davon Gebrauch machen werde, um dich zu bekommen. Solltest du bei deiner Weigerung bleiben, so würde ich selbst vor einer verbotenen Handlungsweise nicht zurückschrecken.«

Sie verkehrten schon so lange miteinander, daß sie sich offen und ohne Zurückhaltung die Wahrheit sagten. Er war der einzige Mann, der sie mit ihrem Vornamen ansprach, und auch sie nannte ihn Artur. Für sie war er ein junger Geschäftsmann, der gut Tennis spielte, ausgezeichnet tanzte und mit mehr oder weniger großer Genugtuung von sich selbst sprach. Er besaß ein hübsches Auto und gefiel ihr unter ihren Bekannten am besten.

Sie war bestürzt und ärgerlich, aber sie war nicht verletzt. Sie erschrak nur darüber, daß sie einen Fehler gemacht hatte. Sie hatte das Gefühl, daß sie beim Bridgespiel unachtsam und zerstreut die falsche Karte gegeben und infolgedessen das Spiel verloren hätte. Sie empfand sogar im Augenblick den sonderbaren Wunsch, sich bei ihm zu entschuldigen, weil sie sich dermaßen in seinem Charakter getäuscht hatte. Sie war im Unrecht, nicht er. Artur hatte gerade und offen gesprochen, er war selbstbewußt und seiner Sache ›todsicher‹. Der kanadische Professor hatte diesen Ausdruck einmal in ihrer Gegenwart gebraucht. Artur Wilmot war überzeugt von sich selbst, von seiner Stellung und davon, daß er sie bekommen würde.

Allmählich fand sie ihre Stimmung wieder. »Du gehst jetzt besser, Artur«, sagte sie freundlich.

Sie war noch sehr jung, trotzdem waren ihre Gefühle ihm gegenüber mütterlicher Art. Er benahm sich in seiner Erregung so kindlich, daß er ihr leid tat.

»Ich gehe, wann ich will! Wenn du mich hinauswerfen willst, so rufe doch deinen Vater! Oder rufe die Dienstboten, die er wieder einmal aus dem Haus gewiesen hat! Denke nur nicht, daß du es mit einem dummen Jungen zu tun hast! Ich möchte dir noch einmal die Tatsache ins Gedächtnis zurückrufen, daß du vollständig allein und hilflos dastehst, nicht nur in diesem Haus, sondern auch in der Welt draußen!«

Sie hatte ihre Gedanken gesammelt und konnte sich verteidigen.

»Ja, und du bist der starke Mann. Hättest du mich nicht so gedrängt, wärst du früher oder später vielleicht ans Ziel gekommen.«

Sie lehnte sich an einen Sessel, ihre Hände lagen auf dem Rücken. Ihre ruhige Haltung brachte ihn aus der Fassung. Er hatte vermutet, daß sie ihn trotzig zurückweisen oder sich ergeben würde, aber er fühlte jetzt nur, daß sie ihm irgendwie überlegen war, und das machte ihn unsicher. Er ärgerte sich über sich selbst.

»Ich bin nicht sehr böse über ... über dein lächerliches, tragikomisches Benehmen. Ich will dich nicht heiraten, Artur. Du hast selbst zugegeben, daß du nicht besonders anziehend für mich bist, denn ich muß dich ›nehmen‹, weil du in einer besseren finanziellen Lage bist. Ist das nicht protzig und aufgeblasen? Dann hast du mir mit Erpressung oder etwas Ähnlichem gedroht. Du bist der zweite Betrunkene, den ich heute gesehen habe, nur stehst du unter dem Einfluß eines noch kräftigeren Rauschmittels als mein Vater. Du bist besessen von deiner Eitelkeit, und für solche Leute ist es nicht minder schwer, wieder nüchtern zu werden.«

Ihre Worte hatten ihn getroffen, er war sehr verlegen geworden. Alle Gründe, die er sich so sorgfältig zurechtgelegt hatte, um sie zu besiegen, waren nun hinfällig geworden.

Sie ging zur Tür und öffnete sie.

»Ich möchte nur noch das eine sagen«, begann er.

Aber sie lachte: »Hast du wirklich noch etwas zu sagen?«

Er verließ schweigend das Zimmer, und sie verschloß die Haustür hinter ihm.

Ihre Hand ruhte noch eine Weile auf der Türklinke, und sie blieb nachdenklich stehen. Sie hatte den Kopf vorgebeugt, als ob sie lauschen wollte, aber sie war nur in Gedanken versunken.

Dann drehte sie unten alle Lichter aus und ging in ihr Zimmer hinauf. Es war eigentlich noch zu früh, sich schlafen zu legen, aber sie wußte nicht, warum sie sich unten noch hätte aufhalten sollen. Sie entkleidete sich langsam beim Licht des Mondes, das durch das Fenster hereinfiel. Ihr Zimmer lag im obersten Geschoß, wo sich auch die Räume der Dienstboten befanden. Sie hatte dieses Zimmer gewählt, weil sie von hier aus einen Rundblick hatte, der nicht von störenden Baumgruppen unterbrochen wurde.

Sie zog einen Morgenrock über ihren Pyjama, öffnete das Fenster, stützte sich mit den Ellbogen auf die Fensterbank und schaute hinaus. Das Mondlicht hatte draußen alle Farben verändert. Das helleuchtende Grün der Wiesen war zu einem leichten Grau geworden. Der alte Steinbruch von Beverley am bewaldeten Abhang des Hügels glich einer großen Muschelschale. Die Nacht war ruhig und friedvoll, nur der Ruf einer Eule kam von den Hügeln herüber. Aber plötzlich hörte sie, daß jemand auf dem geschotterten Weg fast im Marschtempo eines Soldaten entlangging. Wer mochte das sein? Sie kannte diesen Schritt nicht. Jetzt kam der Fremde in Sicht.

Zwischen den Ästen zweier Bäume sah sie einen Mann und wußte, wer er war, noch ehe er den Blick zu ihrem Fenster erhob.

Es war der Detektiv mit den grauen Augen – Andrew Macleod!

Sie preßte die Lippen zusammen, um einen Schrei zu unterdrücken, trat hastig zurück und schloß das Fenster behutsam. Ihr Herz schlug wild, sie fühlte den Puls in ihren Halsadern und an den Schläfen.

Was mochte er wollen? Sie schlich sich leise wieder zum Fenster und spähte hinaus. Nach einer Weile öffnete sie es wieder. Sie hörte nicht, daß sich seine Schritte entfernten, aber gleich darauf sah sie ihn wieder. Er ging über den Rasen und verschwand bald. Nach einiger Zeit hörte sie das Geräusch eines Motors, das langsam wieder erstarb.

Sie taumelte zu ihrem Bett und setzte sich nieder.

Auch Artur Wilmot quälten zu dieser Stunde unruhige Gedanken. Was mochte sie von ihm denken? Aber er hätte sich die schlaflose Nacht ersparen können, denn Stella Nelson hatte vollkommen vergessen, daß ein Mensch wie Artur Wilmot überhaupt existierte.


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