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12

Scotties Einquartierung in Nelsons Haus diente einem doppelten Zweck. Einmal hatte Andy auf diese Weise einen klugen Gehilfen in der Nähe, der allerdings wenige oder gar keine Prinzipien hatte. Außerdem war er beruhigt, daß Stella nun noch einen anderen Beschützer hatte außer ihrem Vater. Es war eine unbestreitbare Tatsache, daß sich der Mörder noch irgendwo frei herumtrieb und daß er wahrscheinlich die Unterredung zwischen Stella und Merrivan beobachtet hatte. Es bestand also die Gefahr, daß er ihr die Schuld zuschieben würde, um sich selbst zu retten. Wie wäre ihr Schal sonst in den Obstgarten gekommen? Er konnte nicht einmal vermuten, zu welchem Zweck er entwendet worden war, aber es war ihm klar, daß der Mörder von ihrem Besuch bei Merrivan wußte.

Andy fuhr am Morgen in die Stadt und nahm das halbverbrannte Tagebuch mit sich. Er hatte ihm keine weiteren Aufschlüsse entnehmen können, denn die Hälfte der Seiten war schon herausgerissen und verbrannt worden, ehe das Buch ins Feuer geworfen wurde.

Sein erster Weg führte ihn zum Ashlar Haus. Die Büroräume Albert Selims wurden von der Polizei bewacht. Der wichtigste Fund, den die Beamten gemacht hatten, war ein an Sweeny adressierter Brief. Offenbar war es eine Antwort auf eine Anfrage, die dieser an seinen Chef gerichtet hatte. Es handelte sich darum, wie die Büroräume gereinigt werden sollten und welche Kosten man dafür bewilligen könne. Die Bedeutung des Schreibens lag darin, daß Andy die Schriftzüge mit der Handschrift des Briefes vergleichen konnte, den er auf Merrivans Schreibtisch gefunden hatte.

Sweeny war am Tage vor seiner Ermordung entlassen worden.

Das war die zweite wichtige Tatsache, die durch die Aussage eines Liftboys herausgekommen war. Er kannte Sweeny gut und hatte auch den Grund für seine Entlassung erfahren. Selim hatte Sweeny den Vorwurf gemacht, daß er heimlich Briefe geöffnet und gelesen habe. Allem Anschein nach war diese Beschwerde auch berechtigt, obgleich Sweeny es dem Liftboy gegenüber in Abrede gestellt hatte.

Sonst war nur wenig in Erfahrung zu bringen. Auch Sweenys Vorgänger hatte seinen Chef nie zu sehen bekommen, und er schien dieselben Pflichten gehabt zu haben wie Sweeny. Die Briefe wurden im Geldschrank zurückgelassen und gewöhnlich am Sonnabend und Mittwoch abgeholt. An diesen beiden Tagen durfte der Sekretär nicht in die Nähe der Geschäftsräume kommen. Niemand hatte diesen geheimnisvollen Mr. Selim jemals sein Büro betreten oder verlassen sehen. Auch der Portier des Hauses kannte ihn nicht. Da Andy vermutete, daß vielleicht die Angestellten des benachbarten Mieters Mr. Selim gesehen haben könnten, machte er einen Besuch bei der Schiffahrtsfirma Messrs. Wentworth & Wentworth.

Das Personal dieser Firma bestand aus einer Stenotypistin. Nach ihrer Aussage hatte die Firma früher bessere Tage gesehen und wurde weitergeführt, ohne irgendwelchen Gewinn abzuwerfen.

»Mr. Wentworth ist nicht zugegen«, sagte das Mädchen. »Er ist kränklich und kommt nur zweimal in der Woche hierher. Ich kann Ihnen aber versichern, daß er nicht viel über Mr. Selim mitteilen könnte. Er hat ein- oder zweimal gesagt, wie sonderbar es sei, daß noch niemand Mr. Selim gesehen habe. Ich habe zwar den Sekretär manchmal zu Gesicht bekommen, aber auch der war nur von elf bis eins hier. Es war doch wirklich eine angenehme Stellung für ihn, und ich wundere mich, daß er so leichtsinnig war, sie aufs Spiel zu setzen.«

Sie hatte anscheinend die Geschichte von den heimlich geöffneten Briefen auch gehört.

Andy machte schließlich dem zuständigen Finanzamt einen Besuch und erfuhr dort, daß Mr. Selims Abrechnungen stets in bester Ordnung waren und daß er seine Steuern pünktlich zahlte. Den Mann selbst habe man nie gesehen, und es gab ja auch keine Veranlassung, ihn aufzusuchen.

Andy überließ einem Detektiv die Büroräume Albert Selims zur Beobachtung und Bewachung und fuhr nach Beverley Green zurück.

Würde Scottie etwas wissen – Scottie, der doch die Unterwelt Londons kannte? Andy nahm sich vor, ihn zu fragen. Er hatte ihn schon häufig zu Rate gezogen, seitdem er bei Nelson wohnte und dadurch immer einen Vorwand gehabt, das Haus betreten zu können.

Er fand den ehrenwerten Scottie damit beschäftigt, Stella in die Geheimnisse des Kartenspiels einzuweihen. Mr. Nelson war im Klub.

»Selim? Albert Selim?« fragte Scottie. »Ja, ich habe von ihm gehört, er ist Geldverleiher und, soviel ich weiß, ein ganz gefährlicher Gauner.«

Andy bemerkte, daß sich Stellas Gesichtszüge verfinsterten.

»Ich habe noch niemand getroffen, der ihn persönlich kannte, aber ich bin vielen Leuten begegnet, die Geld von ihm geliehen hatten.«

»War er ein Wucherer, der die Leute, die nicht zahlen konnten, bedrohte?«

»Bedrohte?« rief Scottie verächtlich. »Es gibt nichts, was Selim nicht getan hätte! Ein Freund von mir – ich wollte sagen, ein Mann, von dem ich gehört habe – Harry Hopson, hat ihn mit einer Summe von zweihundert Pfund hereingelegt. Harry wurde kurz darauf zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt – ich will nicht behaupten, daß Harry die Strafe nicht verdient hätte, aber Selim brachte eine schlau eingefädelte Anklage gegen ihn vor wegen einer alten Geschichte, die Harry längst vergessen hatte. Auf alle Fälle hat er seine zehn Jahre abbekommen.«

Wenn Merrivan wirklich in so großer finanzieller Verlegenheit war, daß er sich von Selim Geld lieh, so mußten seine Schulden schon sehr hoch sein. Aber dem widersprachen andere Tatsachen. In den Geschäften war bis zum Sonnabend alles bezahlt, auf der Bank hatte Merrivan mehrere tausend Pfund, und auch sonst: konnte man keinen Anhaltspunkt dafür finden, daß er in Geldschwierigkeiten gewesen war. Wieviel Vermögen er besaß, konnte man erst sagen, wenn die Bücherrevisoren ihre Arbeit beendet hatten. Man hatte auch keine Briefschaften gefunden, denen man hätte entnehmen können, daß er Schulden bei diesem geheimnisvollen Albert Selim hatte.

Ein Punkt war jedenfalls aufgeklärt worden – die ungewöhnlichen Schuhe, die Merrivan trug, als er starb. Er pflegte nächtliche Besuche zu machen. Aber warum zog er diese schweren Stiefel an, die doch einen höllischen Lärm machen mußten, wenn er über einen geschotterten Weg oder über einen Fußboden ging. Sicher wären Gummischuhe für diese Art von Abenteuern geeigneter gewesen. Andy überlegte sich das alles, als er zu Merrivans Haus hinüberging.

Zwei Tage lang war der Garten von Reportern belagert gewesen. Aber jetzt war auch der letzte Journalist wieder gegangen.

Andy hatte sich vorgenommen, das ganze Haus genau zu durchsuchen. Bis jetzt hatten sich seine Nachforschungen nur auf das Arbeitszimmer beschränkt, und er hatte sich damit begnügt, einen oberflächlichen Blick in die anderen Räume zu werfen.

Die Durchsuchung sollte hauptsächlich auf Mr. Merrivans Schlafzimmer konzentriert werden. Es lag im ersten Geschoß nach der Straße zu, war groß, luftig und nur mit den nötigsten Möbeln ausgestattet. Eine Tür führte von hier aus in den Ankleideraum, eine andere ins Bad. Mr. Merrivan hatte alles möglichst bequem einrichten lassen. Besonders das Badezimmer war mit außerordentlichem Luxus ausgestattet, die Wände waren mit Marmor verkleidet. Im Schlafzimmer standen ein großes Bett, ein Nachttisch und ein geräumiger Schrank. Der Fußboden war zum Teil von einem viereckigen, weichen, grauen Teppich bedeckt. Außerdem waren noch eine Kommode mit großem Spiegel, ein kleinerer Tisch, ein niedriger, bequemer Sessel und zwei Stühle vorhanden.

Andy schenkte diesmal dem Bett etwas mehr Beachtung. Es war ein solides Möbelstück, Kopf- und Fußende waren verhältnismäßig stark. Er klopfte das Kopfende ab, aber es war aus massivem Holz. Die Fuß wand war auf der Innenseite sehr schön geschnitzt. Außen war sie fast ganz glatt, nur zwei Wappen waren darauf angebracht, die von einer heraldischen Rose gekrönt waren. Er wandte die Matratzen um, klopfte eine halbe Stunde lang die Zimmerwände ab und prüfte die übrigen Möbel.

Er war erstaunt, daß er keine weiteren Hinweise auf Albert Selim entdecken konnte. Man hatte kein einziges Schriftstück gefunden, das eine Erklärung für den Drohbrief gegeben hätte, den man bei dem Toten gefunden hatte. Albert Selim selbst blieb verschwunden. Man hatte alle Briefe, die in seinem Büro ankamen, geöffnet und den erstaunlichen Umfang seines Geschäftes feststellen können. Aber keinem der Briefe, die um ein Darlehen nachsuchten oder um Zahlungsaufschub baten, konnte man einen Anhaltspunkt entnehmen, wer Albert Selim selbst war. Der Mann war ein Wucherer schlimmster Sorte, und sein Verschwinden mußte vielen unglücklichen Leuten, die er ausgebeutet hatte, eine Erlösung sein.

Aber es war eine ungewöhnliche und die Polizei verwirrende Tatsache, daß keine Geschäftsbücher vorhanden waren, aus denen die Höhe der Schulden seiner Kunden zu ersehen war. Man fand weder in seinem Büro noch in seiner Bank Schuldscheine oder Verträge. Gewöhnlich bringen Geldverleiher ihre Papiere und andere Sicherheiten in den feuersicheren Räumen der Banken unter. Selim hatte auch auf der Bank keinen großen Betrag. Obwohl sein Konto lebhafte Bewegungen aufwies, war sein laufender Bestand doch nie größer als einige hundert Pfund. Wenn er Geld einzahlte, so wurde es auch bald wieder abgehoben. Wenn er Deckung für einen Scheck schaffen mußte, der auf eine größere Summe lautete, so zahlte er jedesmal den nötigen Betrag in Banknoten ein.

Man hätte annehmen sollen, daß Selim unmöglich seiner Bank unbekannt geblieben sein konnte. Zum mindesten mußte er doch einmal zur Bank gegangen sein, um sein Konto zu eröffnen. Aber es ergab sich die merkwürdige Tatsache, daß die erste Einzahlung von einer anderen Bank in der Provinz überwiesen wurde, deren Direktor gestorben war. Doch wenn er noch gelebt hätte, wäre er wohl kaum in der Lage gewesen, Aufschluß über Selim zu geben. Hätte man nun sagen wollen, daß er seine Spuren verwischt hatte, so wäre das auch nicht richtig gewesen, denn er hatte überhaupt keine Spuren hinterlassen, die zu verwischen wären. Er war unerkannt irgendwoher gekommen und ebenso unerkannt wieder ins Nichts verschwunden.


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