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Stella war totenblaß, tiefe Schatten lagen unter ihren Augen. Aber ein noch untrüglicherer Beweis ihrer Schuld lag für Andy darin, daß ihr ganzes Aussehen darauf schließen ließ, daß sie die letzte Nacht überhaupt nicht zu Bett gegangen war, sie trug noch dieselbe Kleidung wie am Tag vorher.
Stella trat in die Halle zurück, wo Licht brannte. Die Vorhänge waren noch nicht aufgezogen.
»Ich habe Sie erwartet«, sagte sie fast teilnahmslos. »Wollen Sie mir bitte gestatten, daß ich es meinem Vater sage, bevor Sie mich fortbringen?«
Er war wie vom Blitz getroffen.
»Bevor ich ... Sie ... fortbringe?« wiederholte er.
»Ich wußte, daß Sie kommen würden ... ich habe die ganze Nacht auf Sie gewartet, Mr. Macleod.« Sie sah, wie angegriffen er war, und senkte den Kopf. »Es tut mir leid«, flüsterte sie, »ich war von Sinnen ... ich war wahnsinnig.«
Plötzlich riß er sich zusammen. Mit zwei Schritten stand er vor ihr und packte sie an den Schultern.
»Sie armes, dummes Kind – Sie armes, dummes Kind!« sagte er schweratmend. »O Gott, was haben Sie getan!«
Er zog den Schal aus der Tasche und warf ihn auf den Tisch, den Ring legte er dazu.
»Mein Schal – mein Ring« Ach, ich besinne mich.«
Es wurde ihm schwer zu sprechen, sein Herz schlug wild.
»Ach, Stella, auch ich bin von Sinnen. Aber ich kann es nicht ... ich kann Sie nicht in dieser Hölle lassen. Ich liebe Sie ... mir scheint es selbst ganz unglaublich ... ich werde meinen Wagen in einer Viertelstunde bereithalten und Sie wegbringen, bevor nur der Schatten eines Verdachtes auf Sie gefallen ist. Ich weiß, daß es Wahnsinn ist, aber ich kann es nicht mit ansehen, daß Sie –«
Sie schaute ihn verwirrt an, und Tränen schimmerten in ihren Augen: »Ach, Doktor, Sie sind zu gut ... aber das geht nicht. Mr. Merrivan weiß doch alles ... er wird uns verraten!«
Er prallte einen Schritt zurück.
»Was sagen Sie da ... er weiß alles! Er wird uns verraten? Er ist doch tot!«
Sie verstand nicht.
»Merrivan ist tot – er ist in der Nacht ermordet worden!«
»Ermordet?«
Eine Zentnerlast fiel ihm vom Herzen, er wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Ach, ich muß wirklich verrückt gewesen sein, daß ich auch nur daran denken konnte, Sie hätten etwas damit zu tun.«
Er sprang plötzlich zu ihr und stützte sie, als sie taumelte.
Als sie das Bewußtsein wiedererlangte, war ihr erster Gedanke, daß er sie für eine Mörderin gehalten hatte und sie trotzdem retten wollte. Mr. Merrivan war tot! Das war schrecklich. Der Verdacht mußte ja auf sie fallen, aber er hielt sie nicht für schuldig, dieser Mann mit den grauen Augen, der sie so forschend angesehen und den sie so bitter gehaßt hatte!
»Ich kann meine Gedanken nicht sammeln«, sagte sie schwach, und. das Glas, das er ihr reichte, stieß an ihre zitternden Lippen.
Sie schaute ihm in die Augen, als sie trank, und er las in ihrem Blick die gläubige Zuversicht eines Kindes.
»Sie sind so gut zu mir«, flüsterte sie, »und Sie lieben mich trotz allem«, sagte sie unvermittelt. »Es ist entsetzlich, daß Mr. Merrivan tot ist. Ich war gestern bei ihm. Er schickte mir einen Brief, daß er mich sprechen wolle, und ich ging hin, weil ich etwas von ihm brauchte.«
»Was war es, Stella?« fragte er liebevoll.
»Das werde ich Ihnen nie sagen können, selbst wenn ich sterben sollte, Doktor – Andrew. Ich habe Sie so sehr gehaßt – und Sie sind so gut zu mir.«
Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt und stützte ihren braunen Lockenkopf. Während sie sprach, spielte sie mit seinen Fingern.
»Und was geschah dann?«
»Ach, er benahm sich so fürchterlich, es war grauenvoll. Ich mußte es ertragen, daß er mich mit seinen dicken Händen anfaßte« – er fühlte, wie ein Schauder ihren Körper durchrann – »und mich küßte. Dann zeigte er mir die Dinge, die ich haben wollte, und sagte, ich solle meinen Ring abnehmen. Dafür steckte er mir einen großen glitzernden Brillantring an. Er gab mich einen Augenblick frei, und ich ergriff die Dinge – sie lagen noch auf dem Tisch. Er kam dicht hinter mir her, aber ich hielt ihm den Revolver entgegen.«
»Einen Revolver hatten Sie auch? Mein Gott, Stella, Sie haben aber auch alles getan, um sich in Gefahr zu bringen!«
»Vielleicht. Und dann bin ich geflohen –«
»Auf welchem Weg?«
»Durch die Haustür – ich kenne keinen anderen Ausgang.«
»Sie sind nicht durch den Obstgarten gegangen?«
»Nein, warum?«
»Erzählen Sie weiter – Sie gingen direkt nach Hause – wieviel Uhr war es?«
»Elf. Die Beverley-Kirchenuhr schlug gerade, als ich die Haustür öffnete.«
»Warum waren Sie zu ihm gegangen?«
»Er hatte mir einen Brief geschrieben – einen schrecklichen Brief –, er hatte mir alles mit nackten, dürren Worten gesagt und mich vor die Wahl gestellt. Ich habe die Dinge verbrannt, die ich mitnahm. Und dann wartete ich, daß Sie mich verhaften würden. Zuerst wünschte ich, daß nicht Sie kämen, aber später dachte ich, Sie würden nicht so rauh sein wie Inspektor Dane, und als ich sah, daß Sie kamen, hatte ich nur noch den einen Wunsch, daß alles möglichst bald vorüber sein möchte.«
»Hat Sie irgend jemand gesehen, als Sie in sein Haus gingen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Glauben Sie, daß – Wilmot Sie bemerkte?«
»Arthur Wilmot – nein. Warum fragen Sie?«
»Er machte so dunkle Andeutungen. Waren die Gegenstände, die Sie verbrannten, irgendwelche Schriftstücke?«
Sie nickte.
»Wo haben Sie die Dokumente verbrannt – hier oder bei Merrivan?«
»Hier.« Sie zeigte auf den Kamin. »Hier habe ich auch seinen Brief verbrannt.«
»War das der Brief, in dem er Sie aufforderte, zu ihm zu kommen?« fragte er vorwurfsvoll. »Damit hätten Sie doch alles beweisen können!«
Seine Worte machten keinen Eindruck auf sie.
»Das ist mir alles gleich – wenn nur Sie mir glauben.« Sie richtete sich mühsam auf. »Ich werde mich jetzt hinlegen – aber nein, das kann ich ja nicht, es ist niemand im Haus, der meinem Vater das Frühstück macht.«
»Sie legen sich jetzt trotzdem hin«, erwiderte Andy bestimmt. »Das Frühstück Ihres Vaters werde ich schon zurechtmachen. Ich habe gestern mit meinem Diener telefoniert, daß er kommen soll. Er kann perfekt kochen und auch die Zimmer in Ordnung halten.«
»Meinen Sie wirklich?« fragte sie zweifelnd, aber sie ließ sich doch gerne von ihm überzeugen, denn sie war todmüde.
»Ich war so froh, daß Sie kamen«, sagte sie, als er ihre Hand nahm und an seine Wange legte. »Vaters Schlafzimmer liegt im ersten Stock – nach vorn hinaus.« Dann ging sie.
Als sie verschwunden war, zog er die Vorhänge auf und öffnete die Fenster. Er hatte nicht mit seinem Diener telefoniert. Er hatte zwar einen Diener, aber wenn er daran dachte, wie er kochte, überlief ihn ein kalter Schauer. Er durchsuchte Küche und Speisekammer, machte zunächst für sich selbst etwas Tee und begann dann das Frühstück für Kenneth Nelson vorzubereiten. Er wunderte sich über sich selbst, aber noch mehr war Kenneth Nelson erstaunt.
»Welchen Tag haben wir denn heute?« fragte er, als er sich von der Überraschung erholt hatte.
»Es ist Montag«, sagte Andy und setzte das Tablett nieder. »Ich habe Ihre Tochter ins Bett geschickt.«
»Sie ist doch nicht etwa krank?« Kenneth war sehr erschrocken.
»Nein, nur müde – sie hat eine aufregende Nacht hinter sich. Merrivan ist tot. Ich glaube, es ist ganz gut, wenn Sie heute aufstehen. Ein wenig Unterhaltung mit Ihren Bekannten wird Ihnen nicht schaden. Aber trinken dürfen Sie nichts.«
Nelson war durch die Neuigkeit ganz verstört.
»Was – Merrivan ist tot – wann ist er denn gestorben? Er sah doch noch so gesund aus, als ich ihn zuletzt sah.«
Andy erzählte ihm die Einzelheiten erst, als er nach unten kam. Er brachte auch das Tablett mit den Eiern und dem Tee wieder hinunter, und sie frühstückten zusammen.
»Das ist aber eine böse Geschichte – der arme Merrivan – er war ja nicht gerade mein besonderer Freund, aber –«
Andy sah, wie sein Gesicht zuckte, als ob irgendeine häßliche und lange unterdrückte Erinnerung plötzlich in ihm lebendig würde. Er kannte die Schwäche dieses Mannes, und wenn er Zeit gehabt hätte, wäre er der Sache auf den Grund gegangen. Andy beobachtete ihn während des Frühstücks, wie er sich dauernd bemühte, mit sich ins reine zu kommen.
»War Stella die ganze Nacht auf?«
»Sie hat vielleicht den Schuß gehört – vielleicht haben es ihr auch die Leute erzählt. Eins der Dienstmädchen hatte einen Nervenzusammenbruch und schrie eine ganze Stunde lang. Ich wundere mich, daß in Beverley Green überhaupt jemand schlafen konnte.«
Als er fortging, machte sich Mr. Nelson zum Ausgehen fertig. Andy ging zum Gästehaus. Es war acht Uhr, und er hatte bereits sechs anstrengende Stunden hinter sich.
Inspektor Dane kam gerade aus der Tür. »Telefonische Nachricht von Scotland Yard«, berichtete er. »Alle Polizeistationen sind alarmiert worden, heute morgen noch wird ein Haftbefehl gegen Albert Selim erlassen werden. Scotland Yard möchte wissen, ob Sie eine Ahnung haben, wo er wohnt. Sein Büro hat man bereits gefunden.«
Andy konnte darüber auch keine Angaben machen.
»Ist sonst nichts Neues entdeckt worden?« fragte er.
»Nein, aber auf dem polierten Teil des Schreibtisches sind Fingerabdrücke zu sehen. Ich habe schon alles vorbereitet, daß sie fotografiert werden. Der Leichenbeschauer möchte Sie um elf Uhr sprechen.«
Andy war vollständig erschöpft und schlief wenigstens eine Stunde lang. Stella Nelson wachte erst am Nachmittag auf. Ihr erstes Gefühl war, daß sich irgend etwas sehr Schönes ereignet habe. Diese Stimmung hielt auch noch an, während sie ihr Bad nahm und obwohl sie wußte, daß in nächster Nähe ein Mann ermordet worden und sie die letzte Person war, die ihn vor seinem Tod gesehen hatte. Sie sagte sich das alles selbst, aber sie war trotzdem sehr ruhig.
»Ich bin kaltblütig und schlecht, ja unmenschlich«, sagte sie sich. »Keine Frau würde so fühlen können.«
Andrews Diener war offenbar ein oberflächlicher Mensch, der es mit dem Abstauben der Zimmer nicht sehr genau nahm. Sie nahm den Wedel und das Staubtuch fort, die noch auf dem Klavier lagen.
In diesem Augenblick kam Kenneth Nelson nach Hause. Er sprudelte vor Neuigkeiten über, denn er hatte im Klub gegessen, wo er viele Bekannte getroffen hatte.
»Weißt du vielleicht, wo Andrew Macleods Diener ist? Ich möchte mich bei ihm bedanken. Hat er dir das Frühstück gebracht? Du mußt heute morgen sehr überrascht gewesen sein.«
»Allerdings. Doktor Macleod hat mir das Frühstück selbst gebracht. Von seinem Diener habe ich nichts gesehen, es ist mir auch ganz neu, daß er hier einen Diener hat. Stella, ich sage dir, es ist schrecklich mit Merrivan und dem anderen.«
»Welchem anderen?«
Sie fragte beinahe mechanisch, denn sie dachte an etwas anderes. Andrew also hatte so nachlässig abgestaubt. Sie fühlte sich fast versucht, den Wedel und das Staubtuch wieder aufs Klavier zu legen.
»Wie hieß er doch gleich – Sweeny –«
»Sweeny?« fragte sie schnell.
Er erzählte ihr die Geschichte und war glücklich, jemand gefunden zu haben, der noch nichts davon wußte und mit dem er darüber sprechen konnte.
»Hat Macleod dir denn nichts darüber mitgeteilt? Er sagte, daß du den Schuß gehört hättest und die ganze Nacht wach gewesen wärst. Merrivan und der andere müssen so eine Art Duell ausgefochten haben.«
Sie wunderte sich, daß Andrew die Eier gefunden hatte. Sie hätte ihm doch auch wenigstens sagen müssen, wo sie das Brot aufbewahrte und daß die Butter im Kühlschrank lag. Sie nahm sich vor, nicht weiter abzustauben. Das wäre wie eine Entweihung gewesen. Und dann die Teelöffel – wie hatte er nur die Teelöffel gefunden? Aber dann fiel ihr ein, daß er ja Detektiv war.
»Warum in aller Welt lachst du denn?« fragte Mr. Nelson aufgebracht. »Ich glaube nicht, daß das zum Lachen ist.«
»Entschuldige bitte, meine Nerven sind sicher überreizt. Was hast du denn da?«
Sie nahm einen Brief aus seiner Hand.
»Der Kunsthändler hat mir einen Scheck geschickt. Der Betrag ist viel größer, als ich erwartet habe. Ich hätte es beinahe vergessen, Liebling. Aber als ich dich lachen sah, mußte ich wieder daran denken.«
Früher hatte er ihr nie einen Scheck gegeben, den er durch die Post erhielt. Er brachte ihn immer selbst zur Bank, und am nächsten Morgen mußte sie sich dann gewöhnlich nach neuen Dienstboten umsehen.
»Das ist lieb von dir, Vater.« Sie umarmte ihn.
Mr. Nelson war zum erstenmal seit langer Zeit wieder zufrieden.
»Macleod wurde mit der Aufklärung des Falles betraut. Ich sah ihn eben, er sieht überarbeitet aus. Es ist ja auch selbst für einen solchen Mann keine Kleinigkeit, das hat er mir selbst gesagt. Er erzählte, daß er heute morgen beinahe zusammengebrochen wäre – der arme Mensch! Aber eben war er vergnügt und munter, fast so vergnügt wie ... du. Ich nehme an, daß sich diese Polizeibeamten allmählich an alles gewöhnen. Aber er ist wirklich ein fähiger Kopf, das muß ich sagen. Ich bin froh, daß er hier ist.«
»Ich auch«, sagte sie und schaute gerührt auf die Staubstreifen, die auf einem Tisch zu sehen waren.
Mr. Nelson hatte noch eine gute Nachricht für Stella. Er hatte die frühere Köchin getroffen. Zum größten Erstaunen der Frau war er stehengeblieben und hatte sich mit ihr unterhalten.
»Ich sagte ihr, daß ich jetzt nicht mehr trinke. Das war nicht leicht für mich. Ihre Schwester erwartet ihr viertes Kind«, fügte er unvermittelt hinzu. »Sie kommt heute nachmittag und bringt ihre Schwester mit – nein, nicht die, sondern eine andere, ein gutes Dienstmädchen, die mit einem Soldaten in Indien verlobt ist. Wir werden sie wahrscheinlich sehr lange behalten können.«
Stella war Andrew schon wieder dankbar.
Sie versuchte den ganzen Nachmittag, sich alle ihre Begegnungen mit ihm ins Gedächtnis zurückzurufen und sich darüber klarzuwerden, was sie gefühlt hatte, als sie ihn zum erstenmal sah. Es fiel ihr jetzt doch ein wenig schwer, denn man kann sich in den Zustand der Angst nicht mehr ganz zurückversetzen, wenn sie einmal überwunden ist. Sie hatte ihn erst viermal gesehen und wenig mit ihm gesprochen, und er wollte seine ganze Existenz, seine Stellung, seine Ehre für ihre Sicherheit opfern. Und wie heftig er sie gescholten hatte! Ein Kind hatte er sie genannt, ein dummes, törichtes Kind –