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13

Für den Rest des Tages stellte Jimmy auf eigene Faust Nachforschungen über den weißen Schrank aus dem Keller von Mr. Sands an. Der Polizei war es nicht gelungen, die Sache aufzuklären; sie hatte die Spur verloren, und man konnte nicht feststellen, auf welche Weise das Möbelstück aus London fortgeschafft worden war. Keiner der Beamten hatte auch nur eine Spur finden können. Selbst eine Umfrage bei den verschiedenen Spediteuren, die Lastautos verwendeten, hatte keinen Erfolg gehabt. Die Anzahl der in Betracht kommenden Firmen war so groß, daß die Polizei unmöglich alle Leute fragen konnte.

Die Verhandlung der Totenschau wurde vertagt. Blessington machte sich die günstige Gelegenheit zunutze und stellte während der Verhandlung ein paar Fragen an Mr. Sands.

»Sie wollen wissen, wo mein Landhaus liegt? Nun, das hat einen sehr hochtönenden Namen, ist aber nur eine bescheidene Villa in einem nicht allzu großen Garten. Es liegt an der Straße nach Brighton, und man kann es sehr leicht finden.«

Er sah den Polizeiinspektor sonderbar an.

»Wollen Sie mir vielleicht offen sagen, warum Sie sich so sehr für mein Privateigentum interessieren?«

»Ja, ich will ganz offen mit Ihnen sein, Mr. Sands«, erwiderte der Detektiv und lächelte. »Ich möchte noch einmal diesen weißen Schrank sehen, denn ich bin der Ansicht, daß die Einbrecher ihren Namen und ihre Adresse auf der glatten Oberfläche zurückgelassen haben.«

»Mit anderen Worten, Sie suchen nach Fingerabdrücken. Es tut mir sehr leid, daß ich den blutigen Flecken von der Wand entfernt habe, aber wenn Sie glauben, die Untersuchung des Schrankes könnte Ihnen weitere Anhaltspunkte geben, dann will ich Ihnen nichts in den Weg legen. Fahren Sie doch zu meinem Landhaus und lassen Sie sich das Möbelstück zeigen. Wenn Sie wollen, fahre ich Sie hin.«

»Ich danke Ihnen für Ihr liebenswürdiges Angebot, aber ich habe selbst einen Wagen und werde damit hinfahren.«

Jimmy begleitete Blessington. Als sie ankamen, fanden sie das Haus doch etwas größer und stattlicher, als man nach den Worten von Mr. Sands hätte annehmen können. Es lag in einiger Entfernung von der Straße hinter großen Bäumen versteckt – ein altes, schönes Gebäude aus dem sechzehnten Jahrhundert, nicht allzu groß, aber sehr bequem und luxuriös eingerichtet. Ein Hausverwalter und seine Frau waren die einzigen Dienstboten, die die Besitzung in Ordnung halten mußten. Der Verwalter bestätigte auch sofort, daß ein weißgestrichener Schrank bei ihm abgeliefert worden sei.

»Ja, das Möbelstück wurde ziemlich spät gestern abend hergebracht. Ich hatte mich schon hingelegt und mußte noch einmal aufstehen. Übrigens hat es Mr. Sands persönlich hergeschafft. Ich weiß nicht, was an dem Schrank sein soll, er sieht recht gewöhnlich aus. Aber Mr. Sands machte viel Umstände damit; es lag ihm daran, daß der Schrank hier eingestellt wurde, da er für ihn einen ziemlichen Wert repräsentiere. Ich habe mich schon darüber gewundert, warum er das Stück nicht als Frachtgut hierhergehen ließ. Das habe ich auch zu meiner Frau gesagt.«

»Gestern abend spät wurde der Schrank also bei Ihnen abgeliefert?« fragte Jimmy nachdenklich. »Er ist doch in aller Frühe von London fortgeschickt worden. Ein etwas sehr langer Transport! Nun, sehen wir uns dieses seltsame Stück einmal an.«

Der Verwalter führte sie zum Arbeitszimmer. Alle Möbel waren mit Bezügen versehen, und in der einen Ecke stand auch der weiße Schrank. Es war ein einfaches Möbelstück, aber Blessington und Jimmy betrachteten es eingehend.

»Waren Sie hier in dem Zimmer, als er hereingebracht wurde?«

»Ja.«

»Haben Sie gesehen, wie der Schrank geöffnet wurde?«

»Jawohl«, erwiderte der Verwalter erstaunt.

»Was, er wurde in Ihrer Gegenwart aufgemacht?« fragte Jimmy.

Das widerlegte allerdings die Annahmen, die sich die beiden unabhängig voneinander gebildet hatten.

»Was war denn darin?« fragte der Polizeiinspektor.

»Nichts. Es war genauso, wie Sie ihn jetzt vor sich sehen.«

Der Verwalter drehte den Schlüssel herum und öffnete die Tür. Das Innere war vollkommen glatt, ohne die geringsten Zeichen von Gebrauch. Wenn Mrs. Leman freiwillig oder unfreiwillig in dem Schrank versteckt gewesen war, konnte man jedenfalls keine Spur davon finden.

»Nun, damit sind wir geschlagen«, sagte Jimmy enttäuscht.

»Was dachten Sie denn?« fragte Blessington.

»Wahrscheinlich dasselbe wie Sie. Schließen Sie die Tür, ich möchte mir das Stück noch einmal genauer ansehen.«

Diesmal gab er sich mehr Mühe, und als er fertig war, nahm er Blessington am Arm und verließ mit ihm das Zimmer.

»Donnerwetter, beinahe hätte ich mich hinters Licht führen lassen!«

»Ja, ich weiß auch nicht, was ich sagen soll«, entgegnete der Detektiv verwundert. »Haben Sie etwas herausbekommen?«

»Das ist doch gar nicht der Schrank, der unten im Haus von Mr. Sands stand!«

»Woher wollen Sie denn das wissen?«

»Aus einem sehr guten Grund. Unser Freund hat doch einen Pfeil auf mich abgeschossen. Der flog dicht an meinem Kopf vorüber und blieb in der Tür des Schrankes stecken. Ich habe nun die Oberfläche genau untersucht, es läßt sich aber keine Stelle finden, an der der Pfeil eingedrungen sein könnte.«

»Wissen Sie denn genau, daß der Pfeil ins Holz eindrang?«

»Ob er steckenblieb, weiß ich nicht. Jedenfalls muß aber die Metallspitze des Pfeils gegen die Türfläche geprallt sein, und dabei wurde die glatte Farbschicht irgendwie verletzt. Ich hörte doch, daß der Pfeil dagegenschlug.«

»Ja, das stimmt, ich habe es auch gehört«, pflichtete der Detektiv bei. »Sie haben recht, der Pfeil muß irgendwo gelandet sein. Und da Sie vor dem Schrank standen, bleibt uns nichts anderes übrig. Wenn Sands tatsächlich das ist, wofür wir ihn halten, hat er natürlich vorausgeahnt, daß wir nach dem Verbleib des Schrankes forschen würden. Deshalb ist er einfach fortgegangen und hat einen anderen gekauft. Die Tatsache, daß dieses Möbelstück erst spät gestern abend ankam, ist genügend Beweis dafür. Dieser Sands ist ein schlauer Kerl – er beschafft sich immer gleich im voraus ein Alibi. Den Tag haben wir tatsächlich verloren.«

»Das würde ich noch nicht sagen«, meinte Jimmy, der sich auf der Rückseite eines Briefes eifrig Notizen machte.

»Für Sie mag es allerdings verlorene Zeit gewesen sein, denn Sie wollen ja keine Millionengeschichte darüber schreiben.«

*

Es war schon spät am Abend, als sie zur Stadt zurückfuhren, aber als sie ankamen, wurde Blessington in Scotland Yard ein Telegramm überreicht. Die beiden hatten sich in der Stadt getrennt; Jimmy war zu seinem Hotel zurückgegangen, wo er noch auf seinem Zimmer arbeitete. Man hörte von draußen das unermüdliche Klappern seiner Schreibmaschine, und als Blessington eintrat, sah er, daß der Boden über und über mit Schreibpapier bedeckt war.

»Jimmy, seien Sie jetzt endlich vernünftig und jagen Sie nicht immer so hinter dem schnöden Mammon her! Hören Sie zu, ich habe eine Neuigkeit. Der Brief wurde in Marseille angehalten. Eben erhielt ich ein Telegramm von der dortigen Polizeidirektion, in dem man mir mitteilte, daß der Brief tatsächlich abgefangen worden ist und uns als Einschreiben zugehen wird. Er muß übermorgen in London eintreffen. Ich habe telegrafisch verschiedene Instruktionen nach Marseille durchgegeben, aber ich weiß nicht, ob man sich dort danach gerichtet hat.«

Jimmy lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nickte.

»Wenn wir den Brief haben, kommen wir sicher ein gutes Stück weiter. Wie steht es aber mit Sands?«

»Ich habe Befehl gegeben, ihn ständig zu beobachten. Wir lassen ihn nicht mehr ohne weiteres umherlaufen, bis wir den Fall aufgeklärt haben. Es ist allerdings möglich, daß wir ihm ein großes Unrecht antun. Und wie sieht es denn hier aus? Hat Miss Leman ihre Rechtsanwälte heute aufgesucht?«

Jimmy nickte und machte ein trauriges Gesicht.

»Sie hat sowohl englische als auch amerikanische Anwälte aufgesucht, aber alle haben übereinstimmend erklärt, daß Lemans ganzes Vermögen an seine Frau ginge, da er verheiratet war und ohne Testament starb. Es ist ganz gleich, welche Verbrechen sie auch begangen haben mag. Es hat auch keinen Zweck, die Rechtmäßigkeit der Ehe anzuzweifeln. Sie hat zwar einen falschen Namen angegeben, und es ist auch möglich, daß die beiden sagten, sie seien in Griddelsea ansässig, um in so kurzer Zeit heiraten zu können. Aber das sind alles Gründe, mit denen man eine Nichtigkeitsklage nicht durchbringen kann. Es bedeutet nur, daß sich einer oder beide schuldig gemacht haben und deshalb bestraft werden können. Der alte Leman ist aber tot, und bei ihr machen ein paar Tage Gefängnis mehr oder weniger nichts aus. Das ist die rechtliche Lage«, erklärte Jimmy gutgelaunt.

»Dann steigen also Ihre Chancen, Jimmy«, sagte Blessington ironisch. »Sie scheinen ja sehr vergnügt zu sein.«

Warum sollte ich denn nicht vergnügt sein? Natürlich tut es mir furchtbar leid, daß sie das Vermögen verliert, aber dadurch gewinne ich. Und ich weiß wirklich nicht, was ich in ihrem Interesse wünschen soll.«

»Verliebtheit«, erklärte Blessington ernst, »ist eine der schlimmsten Krankheiten. Man könnte fast in Versuchung kommen, derartig verliebte Leute ins Irrenhaus zu stecken!«

»Machen Sie die Tür von außen zu«, erwiderte Jimmy höflich. »Sie stören mich hier in Ausübung meiner literarischen Tätigkeit.«

Nachdem Blessington gegangen war, arbeitete er noch eine halbe Stunde weiter, dann sammelte er die Bogen von der Erde auf und schloß sie in einer Schublade ein. Nachdem er seinen Rock angezogen hatte, ging er den Korridor entlang, bis er zu dem Raum kam, den Faith als Wohnzimmer innehatte. Als er klopfte, kam sie an die Tür.

»Ich bin müde von der Arbeit«, sagte er. »Wollen wir noch einen kurzen Spaziergang machen?«

Draußen war es warm, und die Sterne funkelten am Himmel. Selbst die kleinen Anlagen mitten in dem großen Steinmeer Londons atmeten Frieden und Ruhe.

Lange Zeit gingen die beiden schweigend nebeneinander her, bevor Jimmy zu sprechen begann.

»Faith, sind Sie davon überzeugt, daß die Rechtsanwälte sich nicht irren?«

»Ja, Jimmy. Aber warum fragen Sie?« entgegnete sie erstaunt. »Die Antwort, die ich erhielt, war so klar und präzise wie nur irgend möglich. Die Bestimmungen im amerikanischen Erbrecht sind fast genau dieselben wie in England. Ich habe überhaupt keine Möglichkeit, auch nur auf einen Teil der Erbschaft zu klagen, und ich möchte von dem Geld auch nichts anrühren. Nur meine Mutter macht mir Sorgen. Wenn mein Onkel ihr wenigstens eine kleine Rente ausgesetzt hätte!«

»Also sind Sie wirklich ohne Vermögen?«

»Ja, Jimmy. Das habe ich Ihnen doch schon so oft gesagt. Warum fragen Sie mich denn immer wieder?«

Jimmy versuchte zu sprechen, aber er war nicht dazu imstande. Erst nach einiger Zeit räusperte er sich umständlich, aber als er sprach, klang seine Stimme immer noch heiser.

»Faith, ich glaube, daß ich bald sehr viel Geld verdienen werde. Holland Brown wird mir ja nicht gerade eine Million Dollar für die Aufklärung des Verbrechens zahlen, aber immerhin wird es schon eine runde Summe werden. Abgesehen davon habe ich auch selbst etwas Vermögen, und ich kann bestimmt ein paar hundert Dollar in der Woche verdienen, wenn ich erst richtig in Fahrt bin.«

»Ja, Jimmy?« erwiderte sie in einem Ton, als ob sie über eine Sache sprächen, für die sie sich notgedrungen interessieren müßte.

»Faith, Sie haben mir neulich einmal gesagt, daß Sie mich nicht liebten, und offen gestanden glaube ich auch, daß Sie mich überhaupt nicht lieben.«

»Wie kommen Sie nur auf den Gedanken, daß ich Sie überhaupt nicht liebe?« fragte sie unlogischerweise.

»Sie sagten doch ... Es scheint einfach nicht möglich zu sein.«

»Sie meinen, daß ich Sie liebe?« fragte sie naiv. »Jimmy, es ist nicht nett, daß Sie so etwas sagen.«

»Ich wollte es Ihnen doch nur erklären«, erwiderte er und wurde über und über rot. »Es ist doch ganz klar, daß Sie einen Mann wie mich nicht gern haben können.«

»Warum nicht? Ich halte Sie für einen lieben und guten Charakter, und wenn ein junges Mädchen einen solchen Mann nicht mag, dann ist das ein großes Armutszeugnis für sie selbst.«

Jimmy wurde es heiß; er konnte kaum noch sprechen. Er empfand es als unfair, jetzt die Lage auszunützen, und er war sehr böse auf sich, daß er sich plötzlich selbst in eine Situation gebracht hatte, in der er nicht mehr ein noch aus wußte.

»Faith«, brachte er schließlich hervor, »ich meinte vorhin nicht nur gern haben, sondern heiß und aufrichtig lieben. Ich meinte, daß Ihre Liebe stark genug wäre, mich zu heiraten.«

»Ja, Jimmy«, sagte sie leise.

»Sehen Sie, das meine ich«, fuhr er fort und bekam Mut, als er sah, daß sie verlegen wurde.

»Ich meine eine solche Liebe, die zur Ehe führt.«

Es folgte eine lange Pause.

»Also nehmen wir einmal an, daß sie – ihn liebt«, erwiderte sie schließlich. »Ist sie dann auch verpflichtet, ihm einen Heiratsantrag zu machen?«

Jimmy wußte sich im Augenblick nicht zu helfen.

»Nein, das nicht«, sagte er endlich. »Wenn Sie mich lieben, dann sagen Sie nur: Jimmy, ich will es versuchen.«

»Wann soll ich das sagen?«

»Ich meine, wenn ich Sie bäte, mich zu heiraten, weil ich Sie mehr liebe als alles andere auf der Welt, dann müßten Sie sagen –«

Sie legte beide Hände auf seine Schultern.

»Aber warum sagst du es mir nicht gleich?« flüsterte sie. »Fällt es dir denn so schwer?«

Jimmy nahm sie glückstrahlend in die Arme ...

Eine Stunde später fand der junge Mann wieder zur harten Wirklichkeit zurück, als er beinahe von einem Taxi überfahren worden wäre.

»Ach, es ist alles so herrlich!« sagte sie. »Ich weiß immer noch nicht, ob ich wache oder träume ... Aber Jimmy, glaubst du nicht, daß ich dich in deinem Beruf stören werde?«

»Du sollst mich stören?« erwiderte Jimmy begeistert. »Faith, deine Liebe macht mich glücklicher, als ich jemals war, und ich freue mich ja so sehr – daß du die Erbschaft nicht bekommst, sonst hätte ich niemals den Mut gefunden, dir einen Antrag zu machen.«

Sie drückte seinen Arm fest an sich.

»Ich habe schon gefürchtet, daß du es nicht tun würdest, und der Gedanke war mir so peinlich, daß ich es dir sagen müßte. Aber wenn nichts übriggeblieben wäre, hätte ich es trotzdem gewagt.«

Jimmy sagte nichts mehr. Er war sehr glücklich.


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