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3

Inzwischen wanderte Sands durch den rieselnden Regen nach dem Berkeley Square. Von diesem vornehmen Platz, an dem nur reiche Leute wohnen, biegt die Davis Street ab, eine Durchgangsstraße, in der viele kleinere, aber vornehme Geschäfte liegen.

Über einem dieser Läden wohnte Harry Leman. Seine Nichte führte ihm die Wirtschaft, denn obwohl er mehr als acht Millionen Dollar besaß, lebte er einfach, ja beinahe asketisch. Es grenzte fast an Geiz, daß er schon fünf Jahre in einer möblierten Wohnung zugebracht hatte.

Als John Sands eintrat, lag Leman auf einem Sofa, das nahe am Fenster stand. John Sands war ein so vertrauter Freund, daß er Haus- und Wohnungsschlüssel besaß und zu jeder Zeit freien Zutritt hatte. Das Zimmer war nur durch eine Leselampe mit einem schönen, grünen Seidenschirm erleuchtet. Sie stand auf einem kleinen Tisch in der Nähe des Sofas. Im Kamin brannte ein behagliches Feuer. Leman wandte sich um – er hatte eben aus dem Fenster gesehen – und erhob sich langsam. Er war groß, aber etwas zu hager. Sein schwarzer Anzug war ihm mit der Zeit etwas zu weit geworden, und auch der glatte weiße Kragen ließ darauf schließen, daß der Mann in den letzten Jahren abgenommen haben mußte. Das schmale Gesicht hatte eine bräunliche Färbung. Als einziges Schmuckstück trug er eine große, elegante Goldkette, die von einer Westentasche zur anderen reichte.

Seine Wäsche war sehr einfach, aber tadellos sauber, und seine Schuhe sahen gut gepflegt aus. Harry Leman putzte sie jeden Morgen selbst. An Größe war er John Sands bei weitem überlegen; selbst jetzt in der gebückten Haltung überragte er ihn. Er nickte nach dem kleinen Büfett an der Wand hinüber. Dort standen auf einem Tablett zwei gefüllte Kristallgläser mit goldbraunem, altem Kognak. Sands reichte seinem Gastgeber ein Glas, das andere trank er selbst mit einem Zug aus. Diese kleine seltsame Zeremonie wiederholte sich jedesmal, wenn sich die beiden trafen.

»Sie sind heute zehn Minuten zu spät gekommen«, sagte Leman und wischte sich mit dem Taschentuch über den Mund. »Holen Sie die Karten.«

»Ja. Und ich werde auch Licht machen«, erwiderte Sands und drehte am Schalter.

Er ging zu einem kleinen Schrank, nahm zwei Pack Karten und einen Anschreibeblock heraus und legte beides auf den Tisch.

»Warum schauen Sie denn aus dem Fenster? Was interessiert Sie so sehr?« fragte John neugierig, denn die Nacht war dunkel, und man konnte draußen kaum etwas erkennen.

»Ich beobachte den Zeitungsreporter, der drüben sein Zimmer hat. Ich kann ihn von hier aus sehen. Er ist wieder eifrig an der Arbeit.«

»Was ist denn das für ein Berichterstatter?« fragte John überrascht.

Leman räusperte sich.

»Er hat seine Wohnung gerade mir gegenüber und ist einer der Leute von Holland Brown, dem Besitzer der ›New York Mail‹.«

»Woher kennen Sie ihn denn?« fragte John gespannt.

»Er kam heute in meine Wohnung und wollte mich interviewen«, entgegnete der Millionär gleichgültig. »Neugierig sind die Leute ja immer. Er wollte wissen, wann ich nach New York zurückreise, und vor allem, ob es stimmt, daß ich verheiratet sei.«

Leman lachte laut.

»Ich glaube, das interessiert die Amerikaner gewaltig«, sagte John, während er die Karten mischte.

»Ja, die wissen auch nicht, was sie machen sollen«, brummte Leman. »Ich habe allerdings immer im Mittelpunkt des Interesses gestanden. Sehen Sie, Sands, Holland Brown kann es sich unter diesen Umständen leisten, einen Mann nach England zu schicken, der weiter nichts zu tun hat, als mich zu beobachten und über mich zu berichten. Lesen Sie eigentlich amerikanische Blätter? Die sind höchst interessant! Alle Leute schreiben von mir. Die Leser fressen jeden Artikel, den sie über mich finden.«

»Hat denn der junge Mann drüben nichts anderes zu tun, als nur über Sie zu berichten?« fragte John Sands.

Der Alte grinste.

»Ich weiß ebensoviel von ihm wie er von mir. Mit dem nächsten Dampfer fährt er nach New York zurück. Er hat einen ganzen Koffer voll neuer Geschichten über den sonderbaren alten Kauz Harry Leman. Einige habe ich ihm selbst erzählt, einige hat ihm Faith berichtet. Wenigstens nehme ich das an.«

»Wie kommt denn Faith dazu?« fragte Sands und zog die Augenbrauen hoch. »Sie gestatten doch Ihrer Nichte nicht etwa, daß sie mit einem solchen Mann verkehrt?«

»Aber warum denn nicht? Sie steht doch gesellschaftlich nicht höher als er. Ich möchte sogar sagen, der Zeitungsmann ist wertvoller als sie. Er verdient sich wenigstens fünfzig Dollar die Woche durch seine Schreiberei, und sie hat gar nichts – und sie wird auch nichts bekommen.«

»Ziehen Sie eine Karte, damit wir wissen, wer Vorhand hat.«

Sie spielten Piquet. Harry Leman spielte es schon seit langer Zeit, und dies war eigentlich seine einzige Erholung und Leidenschaft. Ebenso war dieses Spiel auch das Bindeglied zwischen diesen so ungleichen Charakteren, ja, darauf gründete sich überhaupt die merkwürdige Freundschaft zwischen ihnen. John Sands war geradezu ein Meister in diesem Spiel, aber Harry Leman stand ihm kaum nach.

»Um was spielen wir heute?« fragte er.

»Um hunderttausend Dollar den Punkt«, erklärte Leman prompt.

»Das heißt also: einen Cent den Punkt, und einen Dollar für den Rubber, wie gewöhnlich«, erwiderte John ernst und verteilte die Karten. »Wo ist eigentlich Faith?« fragte er dann.

»Auf ihrem Zimmer. Sie sucht ihre Stimmung zu verbessern.«

»Sie hat aber auch kein leichtes Leben, Sie machen es ihr zur Hölle.«

Der Millionär grinste.

»Ja, sie hofft immer noch, John Sands! Sie hofft, daß ich eines guten Tages sterben und ihr eine Million vermachen werde. Die bilden sich nämlich ein, ich wäre herzkrank und würde bald das Zeitliche segnen. Aber ich denke gar nicht daran!«

Es klopfte an der Tür.

»Komm herein!« rief Leman, und das junge Mädchen trat ins Zimmer.

John erhob sich und reichte ihr die Hand.

»Hallo, Miss Leman, ich habe Sie ja eine ganze Woche lang nicht gesehen.«

Er bewunderte Faith Leman. Sie hatte große, graue Augen und eine zarte, schöne Gesichtsfarbe. Er bewunderte auch ihre graziöse Haltung und ihre anmutigen Bewegungen.

Jeder andere hätte sich über das Verhalten des alten Millionärs seiner schönen und liebenswürdigen Nichte gegenüber gewundert. Aber John Sands hatte nur zu oft diese unangenehmen Szenen erlebt. Der alte Harry Leman runzelte die Stirn, und als er mit ihr sprach, klang seine Stimme rauh und abweisend. »Nun, was willst du?«

Sie war an seine schlechten Stimmungen gewöhnt und kümmerte sich nicht weiter darum.

»Ich wollte nur fragen, ob ich etwas tun kann für dich.«

»Nein, ich brauche nichts«, erwiderte der Alte barsch. »Wenn du etwas tun willst, dann geh zu Bett. Ich brauche keine Wärmflasche für die Nacht, und ich kann auch einschlafen, ohne daß du mir das Kissen in den Rücken stopfst oder dich an mein Bett setzt und meine Hand hältst. Ich kenne schon alle die Tricks einer schönen Erbin, die ihren alten, sterbenden Onkel umgarnen will!«

Sie sah ihn ruhig an, nickte John Sands noch einmal zu und verließ dann das Zimmer.

»Ich verstehe nur eins nicht. Wenn Sie Faith hassen, warum behalten Sie sie dann bei sich?«

»Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Sachen«, brummte Leman.

»Wenn ich mich über etwas noch mehr wundere als über die grobe Art und Weise, wie Sie sie behandeln, dann ist es höchstens die Tatsache, daß sie alles mit Gleichmut erträgt und nichts darüber sagt.«

»Das muß sie wohl, meinen Sie nicht auch? Ich unterstütze doch ihre Mutter! Wenn ich nicht wäre, würde die doch im Armenhaus sitzen!«

»Aber Sie müssen doch Ihr Vermögen irgend jemand hinterlassen.«

»Auf keinen Fall meiner Nichte oder ihrer faulen Mutter. Haben Sie mich verstanden? Das habe ich ihr auch schon erklärt. Es wäre überhaupt besser, daß ich mich verheiratete. Ich habe neulich schon gesagt, daß ich es auch bestimmt tun werde.«

»Na, das wäre nicht das erstemal, daß Sie darüber sprechen.«

»Haben Sie eine Zeitung mitgebracht?« fragte der Alte, nachdem sie schweigend ein paar Runden gespielt hatten.

»Ja, ich habe eine Abendzeitung.«

»Lassen Sie mich einmal sehen.«

John ging zur Garderobe, holte die Zeitung aus der Manteltasche und brachte sie Harry Leman. Der Alte blätterte die Seiten eifrig um.

»Gut! Sehr gut! Mexikanische Silberminen sind um zwei Punkte in die Höhe gegangen. Ich habe am Montag hunderttausend Kleinaktien davon gekauft.«

John lachte.

»Zum Teufel, warum lachen Sie über das, was ich sage?«

»Es ist doch wirklich lächerlich. Nun sitzen Sie hier, zergrübeln sich den Kopf, wie Sie Ihr Vermögen vergrößern können, und besitzen so viel Geld, daß Sie nicht wissen, wohin damit – aber trotzdem haben Sie nichts davon. Sie verstehen überhaupt nicht, Geld richtig auszugeben. Wenn Sie wenigstens noch Vergnügen daran hätten, Ihre Einnahmen zu erhöhen!«

»Woher wissen Sie denn, daß ich kein Vergnügen daran habe? Verstehen Sie denn nicht, daß das allergrößte Vergnügen darin liegt, andere Leute davon abzuhalten, das Geld zu verdienen, das man sich selbst in die Tasche steckt? Nicht das Bewußtsein, daß ich ein so großes Vermögen habe, befriedigt mich, sondern die Tatsache, daß andere Leute mein Geld nicht haben. Sehen Sie, das ist ein Trick, den nicht alle Leute verstehen. Die größte Genugtuung beim Kampf liegt in der Niederlage des Gegners.«

»Wer ist eigentlich Ihr Gegner?« fragte John.

»Irgendeiner«, erwiderte Leman unbestimmt. »Irgendeiner, der an der Börse gegen mich spekuliert.«

Sie spielten drei weitere Spiele. Nun waren es im ganzen sechs, und das war das wohlabgewogene Maß der Erholung, das sich der alte Leman gönnte. Heute freute er sich besonders, denn er hatte gewonnen. Er ging wieder zum Büfett und goß ein Glas Likör ein.

Sands lachte gutmütig.

»Ich wundere mich manchmal selbst, daß ich immer noch zu Ihnen komme. Aber Sie scheinen mich doch ganz gern zu haben.«

»Ja, da haben Sie nicht unrecht.«

Sands sah ihn offen an.

»Habe ich jemals versucht, Geld von Ihnen zu erhalten, Harry?«

»Nein. Aber damit ist immer noch nicht gesagt, daß Sie nicht einmal den Versuch machen werden. Sie sind so ein ganz heimlicher Kerl, der seine Gelegenheit abwartet. Ich bewundere immer Ihre Geduld, und ich bin sehr neugierig, einmal zu erfahren, worauf Sie hinauswollen und warum Sie eigentlich mit mir verkehren.«

Die beiden lachten herzlich zusammen.

»Aber warum heiraten Sie denn nicht?« fragte John Sands dann plötzlich.

Der Millionär sah ihn argwöhnisch von der Seite an.

»Sie haben doch nicht etwa eine Schwester, die Sie unter die Haube bringen wollen? Habe ich Sie nun doch erwischt?«

»Nein, ich habe keine Schwester, die ich verheiraten möchte«, entgegnete Sands gleichgültig. »Aber Sie versauern hier mit der Zeit tatsächlich und ärgern sich über die ganze Welt. Schließlich könnte das durch eine Heirat gebessert werden. Sie haben außerdem so oft davon gesprochen, daß Sie heiraten wollen, um Ihre Verwandten zu ärgern, daß ich mich immer wundere, warum Sie Ihr Vorhaben nicht endlich einmal ausführen.«

»Ich habe doch keine Verwandten. Habe ich Ihnen das noch nicht oft genug erklärt?« entgegnete Leman scharf. »Da ist doch nur dieses junge Mädchen und ihre Mutter. Die alte Frau ist ein unnützes Wesen, das einmal meinen Bruder Tom geheiratet hat, und wenn der das Geld nicht mit vollen Händen zum Fenster hinausgeworfen hätte, brauchte ich die Frau heute nicht zu unterhalten. Aber der war natürlich großspurig und sagte dem Kellner immer, er brauchte ihm nichts herauszugeben. Aber was sollte ich denn mit einer Frau anfangen?«

»Und was sollte eine Frau mit Ihnen anfangen? Das ist die andere Frage. Aber nehmen wir einmal an, Sie fänden die richtige Frau, die Sie heiraten und die Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten und getrennt von Ihnen irgendwo auf dem Kontinent leben würde?«

»Das ist der dümmste Vorschlag, den Sie mir jemals gemacht haben. Gehen Sie jetzt, ich möchte mich zur Ruhe legen!«

John Sands ging zum Hotel, in dem er telefonisch ein Zimmer bestellt hatte, saß noch lange in einem Lehnsessel vor dem Fenster und überlegte hin und her. Schließlich hatte er einen Plan ausgedacht. Den Millionär hatte er auf einem Dampfer kennengelernt, und zwar auf der Fahrt von den Vereinigten Staaten nach England. Die beiden hatten eine merkwürdige Freundschaft miteinander geschlossen, die hauptsächlich darauf beruhte, daß John Sands ein sehr ruhiges und ausgeglichenes Temperament besaß und vorzüglich Piquet spielte. In seiner Jugend hatte er ein nicht allzu großes Vermögen geerbt und dann sein Geld in einer Fabrik in Connecticut angelegt, die genügend Verdienst abwarf, um ihm ein bequemes, sorgenloses Leben in London zu ermöglichen. Er hatte natürlich Harry Leman dem Namen nach gekannt, denn der Millionär war einer der großen, ungekrönten Könige, und die Presse verherrlichte ihn seit zwanzig Jahren. Die Zeitungsleute kannten seine Schwäche, daß er gern über sich reden hörte. Auf der anderen Seite war er unglaublich geizig. Aber es machte ihm Spaß, Geschichten und Witze darüber zu lesen.

John Sands ärgerte sich, daß ein so reicher Mann seine Tage nutzlos verbrachte und eigentlich nichts vom Leben hatte. Harry Leman gab kaum mehr als einen Dollar pro Tag für seinen Unterhalt aus. Er rauchte billige Zigarren und renommierte damit, daß er sich in den letzten fünfzehn Jahren keinen neuen Anzug hatte machen lassen. Während der Überfahrt von den Vereinigten Staaten nach England hätte er sich natürlich die teuerste Kabine leisten können, aber er fuhr in einer Innenkabine, die er außerdem noch mit einem anderen teilte.

John Sands hatte im Gegensatz zu ihm eine der besten Kabinen an Bord des Luxusdampfers belegt, und er ließ sich mindestens zwölf verschiedene Anzüge im Jahr machen. Als er Lemans Eigenheiten kennenlernte, ärgerte er sich zuerst darüber, dann lachte er, und schließlich wurde er nachdenklich.

John verbrauchte alles Geld, das er verdiente, bis zum letzten Dollar, und immer hatte er etwas davon gehabt. Jedenfalls machte er sich das Leben so bequem und angenehm wie möglich. In letzter Zeit war der Ertrag seiner Fabrik geringer geworden; infolgedessen hatte er seinen Chauffeur entlassen und auch die beiden Rennpferde verkaufen müssen, die er in New Market trainieren ließ. Damit waren auch seine Aussichten und Hoffnungen auf einen großen Rennsieg und dementsprechende Gewinne gesunken.

Und nun saß er vor dem Kaminfeuer in seinem kleinen Hotelzimmer am Tavistock Square, baute Luftschlösser und träumte von besseren Zeiten.

*

Währenddessen suchten viele Polizisten im Regen das Gehölz südlich von Whitecross Hill ab. Ab und zu blieben sie stehen und fluchten nicht wenig auf Margaret.

»Ich gehe die höchste Wette ein, daß sie irgendeinen Bekannten hatte, der sie hier abholte«, sagte ein dicker Sergeant und entkorkte seine Whiskyflasche. Er hatte sich unter denselben großen Baum gestellt, unter dem Margaret von John Sands gefunden wurde. »Hübsch war das Frauenzimmer – nach allem, was man gehört hat. Aber daß man ausgerechnet bei einem solchen Schweinewetter nach ihr suchen soll, ist doch wirklich gemein! Na, wir wollen uns einmal stärken.«

Der Beamte neben ihm nahm die Flasche und tat auch einen Zug.

»Wenn ihr irgendein Mann zur Flucht verholfen hat, dann hoffe ich nur, daß sie ihn genauso behandelt wie ihren früheren!«


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