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Achtzehn Monate später saß Jimmy Cassidy wieder in London, und zwar im Hotel Magnificent am Russell Square. Er arbeitete an einer Sache, die ihn mehr interessierte als alle exzentrischen Millionärslaunen.
Der Bösewicht in all den Kriminalgeschichten ist natürlich ein Wahnsinniger, weil er vollkommen von der Norm der gewöhnlichen Menschen abweicht. Ein Mann, der nur Böses tut um des Bösen willen, muß ja verrückt sein. Und früher oder später kommt er in eine Irrenanstalt, wohin er auch gehört. Aber das sind nur die großen Ausnahmen. Die meisten Verbrecher kommen nur deshalb mit den Gesetzen in Konflikt, weil sie durch die Umstände dazu getrieben werden. Sie wollen einen gewissen Zweck erreichen, und da ihnen das auf legalem Weg nicht möglich ist, geraten sie von selbst auf den Weg des Verbrechens. Von all diesen Leuten sind die Mörder am wenigsten verbrecherisch veranlagt. Siebzig Prozent all der Leute, die wegen Mordes hingerichtet werden, haben früher niemals ein anderes Verbrechen begangen und sind achtbare Staatsbürger gewesen. Menschen, die kaltblütig morden wie die Borgias in früheren Zeiten, gibt es nur selten –
Soweit war Jimmy Cassidy gekommen, als sich die Tür seines Zimmers öffnete und Holland Brown mit einer großen, dicken Zigarre im Mund ins Zimmer trat.
Der Zeitungskönig war untersetzt und etwas korpulent, hatte einen kahlen Kopf und machte auch sonst einen wenig sentimentalen Eindruck. Er ließ sich in einem Armsessel an Jimmys Tisch nieder. Der junge Mann steckte die Hände in die Taschen und richtete sich in seinem Stuhl auf, denn er wußte, was kommen würde.
»Jimmy«, begann Mr. Brown, »vor achtzehn Monaten kamen Sie in diese Stadt, um Harry Leman zu interviewen und über ihn zu schreiben. Nachher sind Sie nach New York zurückgefahren und haben alle möglichen Geschichten über ihn mitgebracht, aber darüber, wie es mit seiner Verheiratung steht, haben Sie nichts geschrieben. Achtzehn Monate lang haben Sie nun die Möglichkeit gehabt, eine Geschichte zu schreiben, die alles andere, was in den amerikanischen Zeitungen erschienen ist, in den Schatten gestellt hätte. Und statt dessen schreiben Sie nur, daß Harry Leman mit einem gepumpten Trauring zum Standesamt kam und sich weigerte, seine Braut zu heiraten, weil sie nicht die Hälfte der Trauungskosten zahlen wollte. Ich muß sagen, die Geschichte war ganz nett, obwohl sie erfunden war.«
»Natürlich ist die Geschichte erfunden«, entgegnete Jimmy vergnügt. »Ich habe Ihnen doch selbst erzählt, wie ich dazu kam.«
Holland Brown ließ die große Zigarre von einem Mundwinkel in den anderen wandern und nickte bedächtig.
»Ich bin ja ganz vernünftig, und ich gebe gern zu, daß das, was Sie sagen, stimmt. Trotzdem hat Ihnen der Berichterstatter der ›New York Post‹ vollkommen den Rang abgelaufen, denn er hat die Neuigkeit von der Hochzeit Lemans gebracht.«
»Der Mann schließt das aus irgendwelchen Nebenumständen«, verteidigte sich Jimmy. »Aber er irrt sich. Vor allem stellt es doch Harry Leman selbst in Abrede. Ich habe ihn verschiedentlich deswegen auf Herz und Nieren geprüft, aber er streitet es glatt ab.«
»Haben Sie ihn denn jetzt wiedergesehen?«
»Ja, heute.«
»Und er hat es wieder abgestritten?«
Jimmy zögerte.
»Heute nicht. Meiner Meinung nach redet er nur von Hochzeit und Trauung, um Miss Leman zu ärgern.«
»Ist das seine Nichte?«
Jimmy nickte.
»Ich gebe ja gern zu, daß der alte Leman seit einem Jahr in der Öffentlichkeit immer behauptet, er sei verheiratet, aber er hat sich niemals mit seiner Frau gezeigt, und wir haben keinen Beweis, daß überhaupt eine Trauung stattgefunden hat.«
»Aber der Berichterstatter der ›New York Post‹ hat doch ziemlich handfeste Beweise beigebracht«, beklagte sich Holland Brown. »Er hat steif und fest behauptet, daß die Trauung eine Woche nach Ihrer Abfahrt von England stattfand. Und wenn Sie mir nicht den Gegenbeweis liefern und den Berichterstatter der ›New York Post‹ als Lügner entlarven können, muß ich glauben, was er schreibt. Ich habe Sie hergeschickt, damit Sie Ihren Fehler wieder gutmachen, aber Sie haben mich einfach sitzenlassen. Deshalb bin ich jetzt von Paris gekommen, um mit Ihnen zu sprechen – und um Sie an die Luft zu setzen.«
»Dann habe ich also meine Stelle verloren?«
»Selbstverständlich. Ich möchte ja nichts gegen Sie sagen, Jimmy, denn Sie sind wirklich ein guter Kerl, aber das erstemal haben Sie schon nichts von der Verheiratung Lemans gewußt, und jetzt haben Sie zum zweitenmal die Sache nicht herausgebracht. Zweimal dürfen Sie solche Böcke nicht schießen. Gehen Sie zu meinem Londoner Vertreter, der soll Ihnen die Rückfahrt nach New York und Ihr Gehalt bis zum Ende des Monats auszahlen. Ich muß mich nach einem wendigeren jungen Mann umsehen, der über Harry Leman berichtet, und ich kann Ihnen nur sagen, in meiner Kartothek steht ›kürzlich verstorben‹ bei Ihrem Namen.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Cassidy. »Wenn ich nun aber tatsächlich die Sache aufklären kann, nachdem Sie mich an die Luft gesetzt haben, nehmen Sie mich dann wieder in Gnaden auf?«
Holland Brown zuckte die breiten Schultern.
»Ich weiß nicht, ob es überhaupt einen Zweck hat, eine Nachricht von meinem Konkurrenzblatt zu bestätigen. Nein, das paßt mir nicht. Wenn Sie mir aber eine ganz funkelnagelneue Geschichte bringen können, etwas ganz Hervorragendes, dann werde ich sie kaufen.«
Jimmy erhob sich und zog seinen Rock an.
»Schön, Mr. Brown, aber das eine kann ich Ihnen nur sagen, Harry Leman ist tatsächlich ein so gutes Thema, daß man eine Millionengeschichte über ihn schreiben kann. Ich habe Ihnen meine Vermutungen und Theorien über ihn ja mehr als einmal erzählt. Ein Reporter muß immer alles mögliche wittern und argwöhnen, bis er eines guten Tages durch die Tatsachen gerechtfertigt wird. Ich will auch nicht eine Million Dollar für meine Geschichte haben, wenn ich soweit bin, nicht einmal einen einzigen Dollar. Wenn ich aber die Wahrheit über die Heirat Harry Lemans herausgebracht habe und eine Geschichte darüber schreibe, komme ich zu Ihnen.«
»Jimmy, ich bin nicht gerne so hart zu Ihnen. Sie sind immer ein tüchtiger Mitarbeiter meiner Zeitung gewesen, aber es verdirbt die Moral aller anderen Angestellten, wenn der Star-Reporter nicht auf der Höhe ist. Ich muß Sie einfach an die Luft setzen. Und es ist ja schließlich nicht so schlimm für Sie. Es gibt eine Menge Zeitungen, die Sie gern engagieren werden.«
»Meinen Sie, das wüßte ich nicht?«
»Und dann noch eins, Jimmy. Ich muß wirklich sagen, daß Sie in letzter Zeit sehr nachgelassen haben.« Brown schüttelte den Kopf. »Ich habe gehört, daß Sie sich nicht mehr genug um Ihre Arbeit kümmern, weil Sie ein Mädel im Kopf haben. Der laufen Sie nach, und aus diesem Grund taugen wahrscheinlich auch Ihre Artikel nicht mehr soviel wie früher.«
»Nennen Sie mir den Schuft, der solche gemeinen Lügen verbreitet«, erwiderte Jimmy und grinste übers ganze Gesicht. »Ich sage Ihnen, der bekommt ein paar Faustschläge von mir zwischen die Zähne, daß er in Zukunft sein ungewaschenes Maul hält.«
»Regen Sie sich bloß nicht auf. Wir wollen uns doch hier nicht ärgern, Jimmy. Ich habe wirklich sehr große Achtung vor Ihnen – und, verdammt noch mal, ich zahle Ihnen zwei Monate Gehalt!«
Jimmy lachte.
»Wissen Sie was? Sie werden mir drei Monate Gehalt zahlen, das steht nämlich in meinem Vertrag. Und wenn ich die Millionengeschichte tatsächlich geschrieben habe, Mr. Brown, dann komme ich zu Ihnen. Sie ist wahrscheinlich so gut, daß Sie mich als Teilhaber aufnehmen, denn vermutlich werden Sie nicht genug Geld haben, mich anderweitig zu bezahlen.«
Jimmy hatte von Anfang an erwartet, daß ihn Holland Brown auf die Straße setzen würde, als er hörte, daß der Zeitungskönig von Paris nach London kam, um mit ihm zu sprechen. Tatsächlich war es ihm in Journalistenkreisen übel vermerkt worden, daß er die Verheiratung Harry Lemans nicht gemeldet hatte, die man in New York allgemein als Tatsache betrachtete. Aber er hatte sich der allgemeinen Ansicht nicht anschließen können; er mißtraute der Geschichte nach wie vor. Jetzt sah er allerdings ein, daß es ein taktischer Fehler gewesen war, allein gegen den Strom zu schwimmen. Aber er hatte sich immerhin auf sein Urteil verlassen. Er kannte ja Harry Leman besser als irgendein anderer Reporter, und er wußte, wie sehr der Millionär darauf bedacht war, seine Nichte zu ärgern.
Nachdem Holland Brown gegangen war, suchte Jimmy sein Manuskript für das große Werk zusammen, das er über Verbrechen und Verbrecher schrieb. Die Welt sollte staunen, wenn es erschien. Er schloß die Blätter in eine Schublade, nachdem er sie geordnet hatte.
Dann sah er auf seine Uhr. Für Faith war es noch zu früh; er hatte mit ihr verabredet, daß er sie am Abend im Park treffen wollte.
Achtzehn Monate waren vergangen, und er hatte seine Geschichte, die damals durch Harry Leman unterbrochen wurde, noch nicht zu Ende erzählt. Aber das Ende war jetzt bedeutend schwieriger zu erzählen, nachdem er seine Stellung verloren hatte. Trotzdem machte ihm das im Augenblick keine zu großen Kopfschmerzen, denn plötzlich kam ihm ein Gedanke.
»John Sands!« rief er. »Den muß ich jetzt sprechen.«
Er nahm ein Telefonbuch und suchte Sands' Adresse. Zehn Minuten später klingelte er schon an seiner Haustür. Der selbstzufriedene, ruhige junge Mann war allein und legte an einem Tisch in der Nähe des Fensters Patience, als Jimmy ankam.
»Kommen Sie herein«, rief er vergnügt. »Ich bin Ihnen zwar noch nicht vorgestellt, aber ich kenne Sie. Ihr Name ist doch Cassidy?«
»Ja, so heiße ich, und ich möchte Sie bitten, mir ein paar Minuten Gehör zu schenken. Ich weiß wohl, daß Ihre Zeit sehr wertvoll ist.«
Mr. Sands sah auf die Karten, die vor ihm auf dem Tisch lagen, und lachte.
»Sie brauchen deshalb nicht ironisch zu werden«, erwiderte er lächelnd. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich will Ihnen alles offen sagen«, erklärte Jimmy. »Ich bin ein Berichterstatter der ›New York Mail‹.«
Sands nickte. »Mr. Leman hat mir davon erzählt.«
»Nun gut, dann muß Mr. Leman erfahren, daß ich wegen seiner Heiratsgeschichte entlassen worden bin.«
»Was hat denn seine Heiratsgeschichte damit zu tun?«
»Mein Konkurrent von der ›New York Post‹ hat die Geschichte zuerst veröffentlicht, und ich bin daher jetzt meine Stellung los. Ich frage Sie nun, Mr. Sands: Ist es wahr, daß Harry Leman verheiratet ist?«
»Unter diesen Umständen«, entgegnete Mr. Sands, »will ich nicht abstreiten, daß er nicht verheiratet ist.«
»Heißt das nun, daß er verheiratet ist oder etwas anderes?« entgegnete Jimmy ungeduldig.
»Ich kann Ihnen auch nicht mehr erzählen als das, was Mr. Leman seinen besten Freunden sagt.«
Jimmy erhob sich.
»Ich sehe, daß ich mich in Ihnen getäuscht habe. Ich dachte, Sie würden mir eine wirklich brauchbare Auskunft geben. Der Berichterstatter der ›New York Post‹ hat in seinem Blatt geschrieben, daß sich Harry Leman eine Woche nach meiner Abreise von London vor achtzehn Monaten tatsächlich trauen ließ.«
»Das ist immerhin möglich«, meinte Mr. Sands und zuckte die Schultern. »Ich bin ein Freund Mr. Lemans und kann wohl sagen, sogar ein sehr guter Freund, aber er bespricht seine Privatangelegenheiten weder mit mir noch mit einem anderen. Ich kann Ihnen daher auch nichts anderes mitteilen, als was der amerikanische Millionär den Presseleuten erzählt hat.«
»Und das ist so gut wie gar nichts«, erwiderte Jimmy verzweifelt.
»Ja, praktisch läuft es darauf hinaus«, gab Sands gelassen zu.
Jimmy hatte ja auch nur wenig Hoffnung darauf gesetzt, daß John Sands die Geheimnisse seines Freundes preisgeben würde. Er hatte eigentlich an Sands noch weitere Fragen stellen wollen, aber er hatte eine Verabredung, die er unter keinen Umständen versäumen durfte, selbst wenn er noch soviel Informationen für seine Zeitung erhalten konnte.
*
Faith Leman wartete am Eingang eines Londoner Parks auf ihn, und sie gingen zusammen die gutgepflegten Wege entlang. Eine Zeitlang vergaßen sie ihre Sorgen und Schwierigkeiten.
Während der vergangenen achtzehn Monate hatten die beiden einen regen Briefwechsel miteinander unterhalten. Nach seiner langen Abwesenheit von London hatten sie sich nun wieder getroffen, und sie fanden, daß sie sich nicht, höchstens zum Besseren, verändert hatten. Faiths reizendes Aussehen fesselte Jimmy mehr denn je, als er sie wiedersah, und er grollte dem Schicksal, daß es ihm neue Hindernisse für die Erreichung seiner Ziele in den Weg legte. Diese achtzehn Monate hatte er von nichts anderem geträumt als von Faith und einem gemeinsamen Lebensglück mit ihr. Und sie sah, daß er gereifter und zielsicherer geworden war, und freute sich, daß sie jemand hatte, dem sie all ihren Kummer anvertrauen konnte. Den großen Entschluß, den Jimmy gefaßt hatte, mußte er ihr noch mitteilen, aber glücklicherweise gab es noch andere Mittel und Wege, als sich durch Worte zu verständigen.
Sie gingen zusammen tief in den Park hinein, bevor er an seinen eigenen Kummer dachte.
»Ach, ich muß Ihnen noch etwas erzählen, Miss Leman. Ich habe meine Stellung verloren.«
»Wieso?« fragte sie überrascht. »Ihre Zeitung hielt doch so große Stücke auf Sie?«
»Das ändert an den Tatsachen nichts. Der alte Holland Brown fuhr eigens von Paris hierher, um mich auf die Straße zu setzen. Ich hatte schon eine Ahnung, daß er zu diesem Zweck nach London käme, aber ich hoffte doch, daß er mir noch einen oder zwei Monate Zeit geben würde, bis ich die ganze Geschichte beisammen hätte.«
»Sind Sie immer noch davon überzeugt, daß mein Onkel verheiratet ist?«
»Ich weiß kaum, was ich dazu sagen soll.«
»Ach, ich wünschte nur, es stimmte und er hätte wirklich eine Frau«, sagte sie heftig. »Sie wissen ja nicht, wie entsetzlich es ist! Wenn ich nur irgendeinen Vorwand finden könnte, um von ihm fortzugehen – keinen Tag länger würde ich warten. Er ist ganz unausstehlich zu mir – viel schlimmer als jemals. Er verhöhnt mich dauernd und macht mir Vorwürfe, daß ich es nur auf sein Geld abgesehen hätte und auf seinen Tod warte. Es ist kaum wiederzugeben, was er mir alles sagt. Ich wünschte tatsächlich, er wäre tot, so grausam und abstoßend das auch klingen mag. Ich kann mir nicht helfen, aber mir wäre es nur recht, wenn er sein gräßliches Geld mit sich ins Grab nehmen würde.«
Jimmy legte die Hand auf ihre Schulter.
»Aber liebe Faith«, sagte er und wunderte sich selbst über seine Kühnheit, »so dürfen Sie nicht sprechen. Sie sind überreizt. Warum gehen Sie nicht nach den Vereinigten Staaten zurück? Schließlich ist es doch nicht ausgeschlossen, daß er Ihre Mutter zur Erbin eingesetzt hat.«