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10

Er ließ Sands viel Zeit, denn er brauchte selbst Ruhe, um seinen Plan auszudenken. So kam er zur Charles Street, aber nicht auf dem direkten, geraden Weg, sondern in einem großen Kreis. Er ging in die kleine Hinterstraße, die an der Rückseite der großen Häuser entlangführte. Manche hatten einen direkten Zugang von dort aus, zum Beispiel das Haus von John Sands.

Es dauerte einige Zeit, bis Jimmy seinen Plan zur Ausführung bringen konnte, weil plötzlich ein verspätetes Auto in die kleine Nebenstraße einbog, und es verging noch eine halbe Stunde, bis der Chauffeur alles in Ordnung gebracht hatte und die Garage wieder abschloß.

Die Mauer, die das Grundstück auf der Hinterseite umgab, war über zweieinhalb Meter hoch und oben mit Glasscherben besetzt. Aber etwas weiter die Straße hinunter schloß sich daran eine andere Mauer an, deren Oberfläche glatt war. Jimmy sprang, so hoch er konnte, und es gelang ihm, die Oberkante mit den Händen zu erreichen. Dann zog er sich hinauf und saß bald rittlings oben. Auf der anderen Seite stand ein niedriger Schuppen für Fahrräder, der allerdings zum Nachbarhaus gehörte. Jimmy ging auf der Trennungsmauer zwischen beiden Häusern entlang und sprang dann herunter. Als er ein paar Schritte gegangen war, befand er sich auf einem mit großen Steinen ausgelegten Hof, von dem aus eine kleine Seitentür ins Innere des Hauses von John Sands führte. Daneben lag ein großes, mit schweren Eisengittern versehenes Fenster. Zu seinen Füßen sah er ein Gitter, das allem Anschein nach die Entlüftungsanlage des Kellers verschloß, Er versuchte vorsichtig, die Tür zu öffnen, und zu seinem größten Erstaunen gab sie dem Druck seiner Hand sofort nach. Entweder hatte Mr. Sands selbst vergessen, sie zu schließen, oder irgendein Dienstbote war nachlässig gewesen. Jimmy befand sich nun in einem Gang. Auf der einen Seite lag die Küche, auf der anderen das Wohnzimmer. Er blieb stehen, zog seine Schuhe aus und überlegte sich, welche Erklärung er geben sollte, wenn Mr. Sands ihn als Einbrecher in seinem Haus vorfand.

Er selbst wußte nicht, was er hier zu finden hoffte, aber er war fest davon überzeugt, daß er Anhaltspunkte entdecken würde, durch die er schließlich Faith Leman aus dem Gefängnis befreien konnte. Jimmy hatte bei der Zeitung stets die Berichte über die Kriminalfälle und Kriminalprozesse geschrieben, und es war ihm verschiedene Male gelungen, die Lösung für die verwickeltsten Fälle zu finden. Er kannte die Verbrecher, die in der City von New York tätig waren, und die kühne, unerschrockene Art, mit der er selbst an Verbrecherjagden teilnahm, hatte ihn bis zu einem gewissen Grade berühmt gemacht. Es war nicht das erstemal, daß er ohne weiteres in fremde Häuser eindrang. Einmal war er dabei einem berüchtigten New Yorker Revolverhelden in die Hände gefallen.

Im Haus herrschte vollkommene Ruhe. Wenn Sands zurückgekehrt war, mußte er gleich schlafen gegangen sein. Jimmy entdeckte nicht den geringsten Lichtschimmer.

Langsam tastete er sich an der Wand entlang, bis er an eine Ecke kam. Ein unheimliches Gefühl erfaßte ihn plötzlich, so daß er zitterte. Grausen packte ihn, als er einen Augenblick später wieder den langgezogenen Schreckenslaut hörte. Wie angewurzelt blieb er stehen. In der nächsten Sekunde hörte er Schritte und versuchte, sich zu verstecken. Es gelang ihm auch, den Seitengang zu erreichen, aber im gleichen Augenblick rannte er gegen ein Tablett, das merkwürdigerweise an die Wand gelehnt stand. Mit furchtbarem Poltern fiel es auf den mit Fliesen ausgelegten Boden, aber nichts rührte sich im Haus. Er drückte sich hart gegen die Wand. Die Schuhe hatte er unter dem Arm, und alle seine Muskeln waren gespannt. Er war bereit, im nächsten Augenblick Hals über Kopf zu fliehen, aber die Schritte, die er eben noch gehört hatte, waren verstummt. Er wartete ein paar Sekunden und wollte eben wieder vorsichtig um die Ecke spähen, als sich eine große schwere Hand auf seine Schulter legte und ihn zurückzog.

Plötzlich flog etwas an seinem Gesicht vorbei. Er fühlte es an dem Luftzug. Dann legte sich eine Hand auf seinen Mund, und jemand zischte ihm ins Ohr:

»Kommen Sie. Machen Sie keinen Lärm.«

Trotz seines Schreckens hatte er das Gefühl, gehorchen zu müssen.

Der Fremde führte ihn den Korridor entlang auf den hinteren Hof und schloß die Tür.

»Schnell über die Mauer!« flüsterte er.

Jimmy folgte der Aufforderung. Kaum stand er schweratmend auf der Straße, als der andere auch schon neben ihm auftauchte.

»Ziehen Sie Ihre Schuhe nicht an! Machen Sie, daß Sie ins Freie kommen.«

Jimmy lief, so schnell er konnte, zum südlichen Ende der Charles Street. Dort blieb er stehen und zog eilig die Schuhe an.

»Ich weiß ja gar nicht, wer Sie sind«, sagte er dann.

Der andere lachte, und Jimmy Cassidy sah ihm ins Gesicht.

»Donnerwetter, Blessington!«

Der Detektiv nickte.

»Jimmy, seien Sie froh, daß Sie mit dem Leben davongekommen sind«, erwiderte der Inspektor ernst.

»Wie kamen Sie denn ins Haus?«

»Ich war in der Speisekammer und beobachtete Sie. Aber in dem Haus konnten Sie nichts finden, ich habe die Zeit gründlich ausgenützt, während Sie mit Mr. Sands spazierengingen. Ich kam gerade an, als Sie durch die Diele zur Haustür gingen.«

»Haben Sie diesen schrecklichen Laut gehört? Es muß irgendein Schmerzensschrei gewesen sein.« Jimmy zitterte, als er daran dachte.

»Ich hörte ihn. Es war furchtbar.«

»Was war denn das eigentlich?«

»Das wollte ich ja auch entdecken, während Sie fort waren. Ich hörte es, als ich über die Mauer stieg, und erschrak auch zu Tode. Es klang wie der Schrei einer Katze.«

»Die Erklärung gab mir auch Sands. Aber sagen Sie, was tun Sie eigentlich hier? Haben Sie John Sands im Verdacht?«

»Ich traue niemand, dafür bin ich schließlich Polizeibeamter. Und ich habe Sie im Verdacht, Jimmy, daß Sie eine große Dummheit begehen. Heute abend sind Sie ja noch einmal mit heiler Haut davongekommen. Haben Sie denn nicht bemerkt, daß in Ihrer Nähe ein weißer Schrank stand, von dem Sie sich scharf abhoben?«

Jimmy hatte das wohl bemerkt, der Tatsache aber weiter keine Bedeutung beigelegt.

»Man konnte Sie gegen den hellen Hintergrund deutlich sehen. Ich fürchtete, daß unser Freund Sie treffen würde.«

»Er hat doch nicht geschossen.«

»Nein, er hat keine Pistole gebraucht. Es klang, als ob es ein Pfeil gewesen wäre. Haben Sie nicht gesehen, daß an allen Wänden seines Arbeitszimmers solche Waffen hängen? Ach nein, in seinem Arbeitszimmer sind Sie ja noch nicht gewesen, das können Sie nicht gesehen haben. Wenn Sie aber einmal hinkommen, betrachten Sie sich einmal die Waffensammlung, die er dort untergebracht hat. Darunter befinden sich viele gute Bogen und Pfeile, und Sands versteht es allem Anschein nach, sie zu gebrauchen. Ich möchte fast annehmen, daß er einige Zeit in Ostasien oder im Malaiischen Archipel gelebt hat. Die Holzmasken über seinem Schreibtisch stammen bestimmt von den Papuas.«

»Aber konnten Sie denn wenigstens herausfinden, was dieser entsetzliche Schrei zu bedeuten hatte? Es war eigentlich mehr ein Stöhnen, als ob jemand furchtbare Qualen und folternde Schmerzen zu ertragen hätte.«

»Nein, das konnte ich nicht herausbringen. Darin habe ich Pech gehabt. Ich hoffte immer, es noch einmal zu hören. Das erstemal hörte ich den Schrei, als ich über die Mauer kletterte, um ins Haus einzudringen, und als ich ihn zum zweitenmal hörte, war es zu spät. Sie hatten ja diesen entsetzlichen Spektakel unten im Gang gemacht. Es war höchste Zeit, daß wir beide das Haus verließen.«

»Der Schrei schien aus dem Keller zu kommen«, meinte Jimmy.

»Das habe ich zuerst auch geglaubt, aber ich habe den Keller durchsucht und nichts Verdächtiges gefunden. Schließlich nahm ich an, daß es tatsächlich eine Katze gewesen sein müßte.«

»Aber es war keine Katze, darauf kann ich einen Eid leisten«, erwiderte Jimmy erregt. »Was suchten Sie eigentlich in dem Haus, Blessington?«

»Ich wollte etwas mehr über Mr. Sands erfahren, und ich hielt seine Abwesenheit für eine glänzende Gelegenheit dazu. Dieser Fall ist so kompliziert, daß ich mir irgendwelche anderen Anhaltspunkte verschaffen muß. Übrigens werden Sie sich freuen, wenn ich Ihnen sage, daß wir Miss Leman aus der Haft entlassen haben.«

»Sie haben Sie freigelassen?« rief Jim froh und drückte ihm die Hand. »Wo ist sie denn jetzt?«

»Sie ist in ihr Hotel zurückgekehrt und liegt jetzt hoffentlich im Bett. Machen Sie keine Dummheiten, Jimmy. Die Lage ist immerhin noch kritisch genug für sie. Ich müßte sie morgen wieder verhaften, wenn weitere Verdachtsmomente gegen sie auftauchten. Jimmy, Sie sind doch noch ein großes Kind!«

Jimmy achtete nicht auf diese Bemerkung, er war ganz aufgeregt vor Freude.

»Ich bin ganz außer mir. Wenn Sie erst jemand auf freien Fuß lassen, sind Sie auch davon überzeugt, daß er unschuldig ist.«

»Ganz unrecht haben Sie nicht. Wir konnten ihre Angaben, daß sie die kleine Flasche mit der Blausäure tatsächlich durch die Post erhalten hat, nachprüfen. Glücklicherweise hat Miss Leman der Aufwartefrau die Flasche gezeigt und sie um Rat gebeten, wie man das Reinigungsmittel benützen könnte. Die beiden überlegten sich dann, daß sie es vorläufig beiseite stellen wollten, bis sie sich genau davon überzeugt hätten, was es wäre. Das war Punkt eins. Punkt zwei: Die verschleierte Dame in Schwarz, die Sie aus Lemans Haus kommen sahen, ist auch von einem unserer Beamten beobachtet worden. Er hat sie ganz deutlich gesehen; ihr Gesicht konnte er allerdings auch nicht erkennen. Sie blieb an der Ecke von Berkeley Square stehen, um einen Brief in einem länglichen Kuvert in den Kasten zu werfen. Der Beamte hat auch bemerkt, daß sie diesen länglichen Brief in der Hand trug, als sie die Wohnung verließ. Nun ist natürlich nichts Auffälliges daran, daß eine Frau aus einem Haus in der Davis Street herauskommt, um einen Brief in einen Postkasten am Berkeley Square einzuwerfen. Unser Mann dachte deshalb auch nicht mehr daran, bis der Mord bekannt wurde. Und drittens habe ich mir überlegt, daß jemand das andere Glas Kognak ausgetrunken haben mußte, das für Mr. Sands eingeschenkt worden war. Der oder die Täterin muß das Glas wieder gefüllt haben, Sie können sich doch noch darauf besinnen, daß die Kognakflasche auf dem Büfett stand?«

Jimmy nickte.

»Weiterhin konnte ich – zum Glück für Miss Leman – feststellen, daß sie die beiden Likörgläser in Gegenwart der Aufwartefrau eingoß und die Flasche wieder ins Büfett stellte. Unter diesen Umständen war es natürlich vollkommen ausgeschlossen, die junge Dame noch weiter in Haft zu behalten. Da noch kein direkter Haftbefehl gegen sie ergangen war, habe ich es auf meine eigene Kappe genommen, sie freizulassen. Das war um so leichter, als noch keine Anklage gegen sie erhoben war.«

»Gott sei Dank!« erwiderte Jimmy erleichtert. »Nun kann ich wenigstens ruhig schlafen. Es wäre leider grausam, sie noch zu stören, und doch möchte ich sie gerade jetzt wiedersehen.«

»Hören Sie doch auf mit solchen Dummheiten«, entgegnete Blessington. »Verliebte Leute scheinen tatsächlich alle einen Klaps zu haben. Nehmen Sie sich zusammen, Sie sind doch sonst so ein tüchtiger Kerl! Im andern Fall würde ich ja schließlich nicht Ihre Bekanntschaft pflegen. Sie sind darauf aus, eine große interessante Geschichte für Ihre amerikanischen Blätter zu schreiben, und ich bin darauf aus, große Verbrechen aufzudecken. Sie wissen bedeutend mehr über Verbrechen und Verbrecher als Ihre Kollegen, und ich wäre sehr froh, wenn Sie mir bei der Aufklärung dieses Falles helfen würden.«

»Selbstverständlich, soviel ich nur kann. Aber es erscheint mir noch fraglich, ob auch Sie mir helfen wollen«, sagte Jimmy etwas grimmig. »Sie haben ganz recht, ich bin darauf aus, eine Millionengeschichte zu schreiben –«

»Den Stoff dazu sollen Sie schon bekommen. Und ich sage Ihnen, Jimmy, es wird eine Sensation geben. Vor allem müssen Sie mir aber dabei helfen, diese Dame in Schwarz wiederzufinden. Und dann müssen wir den Brief erhalten, den sie in den Briefkasten am Berkeley Square geworfen hat.«


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