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12

»Dann ist die Sache ja soweit klar. Margaret Maliko ist niemand anders als Margaret Leman«, erklärte Jimmy.

Später saßen die beiden in der Halle des Hotels Magificent.

»Diese Margaret Leman ist über acht Millionen Dollar wert, daran läßt sich nichts ändern, ganz gleich, ob sie nun Margaret Leman oder Margaret Maliko heißt. Der alte Mann hat kein Testament hinterlassen. Vielleicht hat er keinen bestimmten Rechtsanwalt und nahm deshalb immer einen anderen, wenn er gerade juristischen Beistand brauchte. Sie war übrigens auch die Frau, die von sieben bis acht Uhr bei ihm war. Und sie hat den Brief in den Postkasten gesteckt. Er ist weiterverfolgt worden, aber nur bis zu einem gewissen Punkt«, fügte er vorsichtig hinzu.

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte Jimmy erregt. »Dieser Brief, der am Berkeley Square aufgegeben wurde, war unfrankiert und an Mrs. Leman selbst adressiert.«

»Da haben Sie vollkommen recht, Jimmy. Ich habe nämlich auf Ihre Vermutung hin, daß keine Marke auf dem Brief war, gehandelt. Dadurch gelang es mir, den Brief weiterzuverfolgen. Es ist nur wenigen Leuten bekannt, daß Briefe, die unfrankiert in den Kasten kommen, einer besonderen Prüfung unterzogen werden. Es wird darüber eine Liste auf dem Hauptpostamt geführt. Ich habe bei der Gelegenheit übrigens feststellen können, daß der Brief die Adresse ›Mrs. Leman, Kennigton House, Hove‹ trug.

Nun ist Kennigton House kein großes Gebäude, wie Sie vielleicht nach dem großartigen Namen annehmen könnten, sondern eine kleine Vorstadtvilla in der Nähe von Brighton. Ich habe einen Beamten hingeschickt, um Nachforschungen anzustellen, aber unglücklicherweise ist es ihm nicht gelungen, den Brief in seinen Besitz zu bringen. Es scheint, daß das Postamt in Hove den Auftrag hat, alle Briefe, die dort für Mrs. Leman ankommen, umzuleiten. Und welche Adresse hat sie Ihrer Meinung nach wohl dort angegeben?«

»Mr. John Sands'?« vermutete Jimmy.

»Nein, jetzt haben Sie das erstemal unrecht«, erwiderte Blessington. »Nein, Jimmy, die Sache ist nicht so plump arrangiert. Marseille, hauptpostlagernd. Was sagen Sie dazu? Wie kamen Sie übrigens auf die Annahme, daß der Brief nicht frankiert war?«

»Ich hatte eine Ahnung, daß er ein wichtiges Dokument enthielt, das die Dame nicht bei sich tragen durfte. Sie steckte es in den Briefumschlag. Sie erinnern sich doch noch, daß wir eine große Menge solcher Kuverts auf dem Tisch sahen, als wir Mr. Leman tot auffanden. Sicher hatte der alte Geizhals keine Briefmarken in der Wohnung, aber sie war ängstlich besorgt, das Schriftstück in Sicherheit zu bringen. Deshalb adressierte sie es an sich selbst und warf es in den ersten Briefkasten, den sie sah. Es ist aber eine sehr einfache Sache, den Brief zu bekommen. Sie brauchen doch nur Ihren Agenten in Marseille zu beauftragen, ihn von der Post abzuholen.«

»Das erscheint Ihnen so einfach, Jimmy. Der Brief wurde aber gestern abend aufgegeben und ging heute morgen mit der Post ab. Auf jeden Fall wollen wir einmal den Versuch machen. Vielleicht gelingt es uns. Ich habe an meinen guten Freund Pollot in Marseille telegrafiert, und wenn irgend jemand den Brief aus der Post herausholen kann, dann ist er es. – Ihre Freundin kommt aber spät.«

Der Detektiv sah auf die Uhr.

»Was wollen Sie übrigens mit Faith Leman machen?«

»Sie muß mit dem nächsten Schiff nach Amerika zurückfahren«, erklärte Jimmy. »Sobald Mrs. Leman an die Öffentlichkeit tritt und ihre Erbschaft einkassiert, werde ich Faith einen Heiratsantrag machen.«

»Aber warum denn nicht schon früher?« fragte Blessington.

»Weil immer noch etwas dazwischenkommen kann und Faith vielleicht doch noch die Erbin wird.«

»Aber zum Kuckuck, was macht denn das aus? Sie sind doch nicht so voreingenommen, daß sie sich durch die finanzielle Lage des jungen Mädchens daran hindern lassen, mit ihr glücklich zu werden?«

»Aber – aber – wenn sie reich ist – und ich arm bin –«

»Ach, das ist pure Eitelkeit, weiter nichts. Ich weiß nicht, warum die jungen Leute von heute so blöd sind! Wenn Sie reich wären und Miss Faith Leman arm, und wenn Sie als Märchenprinz daherkämen, um sie als Aschenbrödel aus dem Staub zu sich zu heben, dann würde Ihnen das so passen. Ich, habe noch niemals verstanden, warum das Vermögen bei der Ehe immer nur auf einer Seite vorhanden sein soll. So arm ich bin, hoffe ich doch immer, daß ich noch einmal die Aufmerksamkeit eines wunderschönen jungen Mädchens mit dunklen, märchenhaften, melancholischen Augen auf mich ziehen werde, die mindestens ein Vermögen von drei Millionen besitzt.«

»Nein, Sie verstehen nicht, wie ich es meine«, entgegnete Jimmy nachdenklich.

»Ich verstehe Sie nur zu gut. Glauben Sie, daß Sie niemand versteht, weil Sie auch an der Kinderkrankheit leiden, die alle einmal durchgemacht haben? Gehen Sie doch frischweg zu ihr hin und sagen Sie ihr, Sie lieben sie, und Sie können nicht anders, und Sie müssen sie heiraten.«

»Um Himmels willen, seien Sie jetzt ruhig«, sagte Jimmy aufgeregt. »Da kommt sie.«

Faith Leman ging durch die Hotelhalle, und Jimmy war wieder ganz bezaubert von ihr. Die Unannehmlichkeiten und Aufregungen der letzten vierundzwanzig Stunden hatten sie aber doch mitgenommen. Sie sah müde aus, und dunkle Schatten lägen unter ihren Augen. Selbst der alte, zugeknöpfte, zynische Blessington mußte zugeben, daß sie eine schöne Erscheinung war.

Plötzlich blieb sie regungslos stehen, als sie den Polizeibeamten sah, und errötete.

»Ich möchte Ihnen einen sehr guten Freund vorstellen, Faith. Mr. Blessington hat Sie zwar zuerst verhaftet, aber dann hat er den größten Teil der Nacht damit zugebracht, entlastendes Material für Sie herbeizuschaffen.«

»Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar, Mr. Blessington«, erwiderte sie und reichte ihm die Hand. »Aber es war ein entsetzliches Erlebnis für mich, und die Erinnerung daran ...«

»Ich weiß es«, erwiderte der Polizeiinspektor. »Sie müssen einen bösen Schock erhalten haben, aber glauben Sie ja nicht, daß es mir Freude macht, hübsche junge Damen festzunehmen und in den Kerker zu werfen. Nein, ganz im Gegenteil.«

Sie gingen zusammen in den Speisesaal des Hotels und nahmen an einem reservierten Tisch Platz.

»Ich möchte Sie noch etwas fragen«, sagte der Inspektor.

Sie sah ihn argwöhnisch an.

»Ich hoffe, Sie sind nicht in amtlicher Eigenschaft hierhergekommen, um mich einem intensiven Verhör zu unterziehen?«

»Daran läßt sich leider nichts ändern. Sowohl Jimmy wie ich haben nun einmal einen Beruf, der uns zwingt, an alle möglichen Leute alle möglichen Fragen zu richten. Das ist der einzige Weg, Dinge ausfindig zu machen. Aber beruhigen Sie sich nur, ich werde nicht viele Fragen an Sie stellen. Nur drei brauchen Sie mir zu beantworten. Erstens: Hat Ihr Onkel Briefmarken im Hause gehabt?«

»Nein, das war auch so eine Eigenheit von ihm. Das Geld für Briefmarken tat ihm immer zu leid. Auf keinen Fall wollte er sich Marken auf Vorrat hinlegen. Wenn er einen Brief absenden wollte, mußte einer aus dem Haushalt zur Post gehen und bekam dann so viel Kleingeld mit, wie das Porto ausmachte.«

»Das stimmt ja mit seinem sonstigen Charakter vorzüglich überein. Nun kommt die zweite Frage: Sie haben doch Schreibmaterial für Ihren Onkel auf den Tisch gelegt. Haben Sie auch Briefumschläge dazugetan? Ich sah sie nämlich in seinem Zimmer.«

»Ja«, sagte sie und nickte.

»Haben Sie auch Tinte und Feder bereitgestellt?«

»Nein«, erwiderte sie, nachdem sie kurze Zeit nachgedacht hatte. »Nur einen Bleistift. Onkel hat selten mit Tinte geschrieben.«

»Gut. Und doch stand eine kleine Flasche Tinte bei dem Papier, als ich ins Zimmer ging. Und jetzt ergibt sich für uns eine weitere Frage. In dem Zimmer wurde ein Zettel gefunden, auf dem Ihr Onkel mit Bleistift etwas notiert hatte. Darauf stand auch der Name der ›Suevic‹, das ist ein Dampfer der White-Star-Linie. Weiterhin war der Hafen von Plymouth erwähnt, wo die Dampfer dieser Gesellschaft anlegen. Die ›Suevic‹ ist auf der australischen Route eingesetzt. Kennen Sie vielleicht jemand, der etwas mit Australien zu tun hat oder der Ihren Onkel gebeten hat, ihm hundert oder dreihundert Pfund zu leihen, um damit nach Australien reisen zu können? Dann stand auch noch eine Nummer auf dem Papier: 1 – 17941 –«

»Jetzt habe ich es!« rief Jimmy, der bis jetzt geschwiegen hatte, aufgeregt. »Sehen Sie den Zusammenhang noch nicht?«

Er erhob sich halb von seinem Stuhl. »Erinnern Sie sich nicht an das Aktenstück von Margaret Maliko? Sie haben doch ihre Karte im Archiv gesehen – das ist ihre Nummer im Strafgefängnis! Dahinter stand noch das Wort ›Gift‹ –«

Er sah Blessington erwartungsvoll an.

»Was hat das Wort ›Gift‹ zu bedeuten?« fragte er dann.

»Das ist die kurze Bezeichnung des Verbrechens, das Margaret Maliko begangen hat. Sie wurde zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt, weil sie ihren Mann mit Gift ums Leben gebracht hat.«

Jimmy holte tief Atem und sank in seinen Stuhl zurück.

»Dann war es also Margaret Maliko, die meinen Onkel besuchte?« fragte Faith entsetzt und starrte den Polizeiinspektor mit weitgeöffneten Augen an. »Und sie hat sich schon einmal einen Giftmord zuschulden kommen lassen! Dann muß sie doch die Täterin sein –«

Im Augenblick sprach alles dafür – aber die Annahme Miss Lemans stimmte nicht mit dem überein, was der Inspektor vermutete. Auch Jimmy war anderer Meinung.

»Blessington, ich kann es nicht recht glauben, daß diese Frau das Verbrechen begangen haben soll. Es ist wohl ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß sie eine der letzten Personen war, die ihn lebend sahen, aber nach allem, was wir wissen, ist sie doch in bestem Einvernehmen von dem alten Mann geschieden. Verstehen Sie denn noch nicht? Leman wollte sie fortschicken. Er half ihr, nach Australien zu gehen. Sie muß ihm etwas Wichtiges mitgeteilt haben, und dafür verlangte sie eine große Geldsumme. Wenn ich die Zahlen auf dem Papier richtig beurteile, hat sie mit ihm um die Höhe des Betrages gehandelt. Leman hat ihr hundert Pfund geboten und die Summe allmählich auf dreihundert Pfund erhöht. Und auch die Adresse war darauf vermerkt: ›Hauptpostlagernd, Melbourne.‹ Sie muß ihm Einzelheiten aus ihrem Leben erzählt haben – er hat ihre Nummer als Strafgefangene notiert. Die Zahl 20 bedeutet die zwanzigjährige Zuchthausstrafe – jetzt löst sich alles mit einmal spielend auf. Warum sollte sie ihn denn umbringen, wenn er ihr helfen wollte?«

Blessington biß sich auf die Lippen.

»In allem, was Sie gesagt haben, liegt ein gut Teil Wahrheit, aber das ist noch nicht die ganze Geschichte. Es bleiben noch mehrere Lücken, die gefüllt werden müssen. Sie wäre nicht zu Leman gegangen, um ihr Geheimnis zu verkaufen, wenn sie nicht allen Grund gehabt hätte, sofort das Land zu verlassen. Vermutlich wollte sie das Geld dringend haben, und es ist sehr unwahrscheinlich, daß sie es sofort bekommen hat, denn Leman hatte niemals größere Summen im Haus. Habe ich recht, Miss Leman?«

Das junge Mädchen nickte.

»Onkel hat es immer vermieden, auch nur kleinere Beträge in der Wohnung aufzubewahren. Wenn er Geld brauchte, ging er zur Depositenkasse in der Oxford Street.«

»Die Unterredung zwischen den beiden fand zu einer so späten Stunde statt, daß die Banken schon geschlossen waren«, fuhr Blessington fort. »Sie konnte das Geld frühestens am nächsten Tag ausgezahlt erhalten. Warum sollte sie ihn also vergiften? Das wäre doch gar nicht in ihrem Interesse gewesen. Und warum sollte sie mit dem Vorsatz in seine Wohnung gekommen sein, ihn zu ermorden? Nein, die Erklärung des Mordes stimmt nicht.«

»Ach, das ganze Verbrechen ist entsetzlich und grauenhaft. Ich mag nichts mehr davon hören«, meinte Faith und schauderte zusammen.

»Aber es ist doch furchtbar interessant«, sagten Jimmy und Blessington zu gleicher Zeit.


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