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Es war zwei Uhr morgens, als John Sands zur Haustür ging, weil es draußen heftig pochte. Als er verschlafen öffnete, stand Jimmy Cassidy vor ihm, der sehr elend aussah.
»Treten Sie näher. Was ist denn geschehen? Sie sehen ja aus, als ob es Ihnen recht schlecht ginge.«
»Sie haben sie verhaftet«, erwiderte Jimmy heiser. »Ist das nicht furchtbar?«
»Wen?« Miss Leman! Und nur Sie allein sind daran schuld. Warum mußten Sie auch Blessington sagen, daß die beiden miteinander gestritten haben? Warum wollten Sie denn durchaus Miss Faith in Unannehmlichkeiten bringen?«
»Sie sind ja ganz von Sinnen und so aufgeregt, daß Sie nicht mehr klar denken können. Hier, trinken Sie ein Glas Wein.«
»Nein, danke.«
Jimmy schob das Glas beiseite.
»Ich will Ihren Wein nicht, ich will auch nicht, daß Sie mich beruhigen, Sands. Ich weiß sehr wohl, was hier vorgegangen ist, ich sehe vollkommen klar. In meinem Beruf haben wir keinen Respekt vor der Ehrbarkeit irgendwelcher Leute. Obwohl Sie immer taten, als ob Sie uninteressiert wären, wissen Sie etwas, und ich gehe nicht eher, als bis Sie es mir gesagt haben. Wer war diese Frau?«
»Ich weiß ja noch gar nicht, von welcher Frau Sie sprechen«, entgegnete John Sands geduldig. »Aber ich glaube, daß Sie die Dame meinen, die Sie aus der Wohnung kommen sahen. Übrigens haben nur Sie die Frau gesehen.«
»Aber die Tür war offen, das können Sie doch nicht abstreiten«, erwiderte Jimmy.
Einen Augenblick stutzte John Sands.
»Das stimmt allerdings«, sagte er dann, »daran hatte ich nicht gedacht. Niemand hat die Tür aufgelassen, und ich kann mir nicht denken, daß ich es gewesen sein sollte.«
»Nein, Sie haben sie wieder zugeschlossen, das habe ich deutlich gesehen. Übrigens habe ich auch das Schloß genau untersucht, bevor ich am Abend das Haus verließ. Es ist ein Yale-Schloß. Verzeihen Sie, wenn ich ein wenig kritisch bin, aber mich hat die ganze Sache furchtbar aufgeregt. Ich weiß ja, daß Sie keine bösen Absichten hatten, aber ich sorge mich so sehr um Miss Leman.«
Mr. Sands legte teilnahmsvoll die Hand auf Jimmys Schulter.
»Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie Sie sich fühlen.«
»Aber Sie haben sich ja verletzt!« bemerkte Jimmy plötzlich.
»Ach, das ist weiter nichts. Ich habe mich heute abend ein wenig gestoßen ... Doch ich will lieber gleich die Wahrheit sagen. Es ist nicht so schlimm, aber ich dachte, es wäre besser, wenn ich einen Verband anlegte, denn ich bin gebissen worden.«
»Ein Hund. Merkwürdig, nicht? Das Fenster meiner Speisekammer stand offen, er sprang herein, und als ich dazukam, griff er mich an.«
»Aber Sie sind auch im Gesicht zerkratzt.«
»Sie sehen aber auch alles«, sagte Sands jetzt ungeduldig. »Ich habe mich beim Rasieren geschnitten. Um aber auf Miss Leman zurückzukommen: Glauben Sie mir, ich werde mir alle Mühe geben, ihr zu helfen. Sie können sich auf mich verlassen, und wenn Geld notwendig ist für ihre Verteidigung – ich bin zwar kein reicher Mann, aber ich weiß, daß mein Freund Harry Leman das auch getan hätte, und ich fühle mich dazu verpflichtet.
Im Grunde genommen hatte der alte Leman ein gutes Herz, und seine Unfreundlichkeit war nur angenommen. Ich weiß ganz genau, daß er trotz all seiner äußeren Gehässigkeit seine Nichte sehr gern hatte und sogar stolz auf sie war.«
Er sprach ernst, und seine Stimme klang überzeugend.
»Ich selbst zweifle keinen Augenblick daran, daß sie unschuldig ist. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie ein so schreckliches Verbrechen begangen hat. Ja, ich weiß, daß sie es nicht getan hat – wenn es sich überhaupt um ein Verbrechen handelt.«
»Halten Sie es für einen Mord?« fragte Jimmy, der plötzlich ruhig geworden war.
»Ich möchte es bezweifeln. Leman war ein ganz eigentümlicher Charakter. Man konnte ihn beim besten Willen nicht für normal halten. Es gab Augenblicke, in denen er halb und halb den Verstand verloren hatte, und ein solcher Mann kann eventuell auch Selbstmord begangen haben. Ich kann mich besinnen, daß er zuweilen außerordentlich deprimiert war. Er ärgerte sich über Kleinigkeiten. Ein Mann, der ein so großes Vermögen besitzt, würde sich doch nicht darüber aufregen, wenn seine Aktien an der Börse um ein paar Punkte fallen! Wie schwierig war er immer, wenn seine Spekulationen nicht genau nach seinen Erwartungen verliefen! Aber Sie haben mir noch nichts Genaueres von der Verhaftung Miss Lemans erzählt.«
Jimmy antwortete nicht gleich. Er nahm sein Etui heraus und steckte sich eine Zigarette an.
»Miss Leman wurde von Blessington verhaftet, weil er eine kleine Flasche mit Blausäure in ihrem Schreibtisch fand.«
»Hat sie erklärt, wie sie in den Besitz der Flasche kam?«
»Sie hat gesagt, daß sie ihr per Post zugeschickt wurde. Ihrer Angabe nach war das Fläschchen in einem Reklamezettel eingewickelt, der einen Fleckenreiniger empfahl. Der Inspektor hat gleich bei dem nächsten Drogengeschäft angefragt und festgestellt, daß das Reinigungsmittel, das in dem gedruckten Handzettel empfohlen wurde, weit verbreitet ist. Aber der Drogist zeigte Blessington eine Probe davon, die dunkelbraun und nicht im mindesten so aussah wie die Flüssigkeit in Miss Lemans Schreibtisch. Daraufhin hat sich die Polizei entschlossen, Miss Leman zu verhaften. Vor einer halben Stunde ist sie auf der Polizeistation in der Bow Street eingeliefert worden.«
Jimmy gab sich alle Mühe, ruhig zu sprechen, aber seine Stimme zitterte doch leicht.
Mr. Sands schüttelte den Kopf.
»Ein außerordentlicher Fall. Sagen Sie mir nur das eine: Hat irgendeine Frau Veranlassung, auf Miss Leman eifersüchtig zu sein?«
Jimmy sah ihn erstaunt an.
»Wie meinen Sie das? Soviel ich weiß, kennt sie weiter keine Damen.«
Plötzlich störte ein schrecklicher Laut die Unterhaltung, ein jammervolles Stöhnen, als ob jemand entsetzliche Schmerzen ausstände. Es schwoll zu einem langanhaltenden, markdurchdringenden Schrei an, dann herrschte wieder tiefe Stille.
Die beiden sahen einander an.
»Was mag das gewesen sein?« fragte Jimmy, der bleich geworden war.
»Ach, das war nur meine Lieblingskatze«, erklärte Sands und lächelte ruhig, »manchmal, wenn ich in meinem Zimmer sitze und lese, fängt dieses Biest derartig zu heulen an, daß ich ganz nervös werde. Sie haben das Tier wohl noch nicht gesehen?« fragte er scherzend. »Aber wir kommen ganz von unserem ersten Thema ab. Wenn uns das Vieh noch einmal stören sollte, dann jage ich es aus dem Haus.«
Jimmy setzte sich und nahm mit zitternder Hand die Zigarette aus dem Mund. Sands war hinausgegangen, um das Tier zu beruhigen. Jimmy hörte, wie die Tür geöffnet und geschlossen wurde, dann ein leichtes Aufschlagen. Nach kurzer Zeit kam John Sands wieder zurück.
»Es tut mir leid, aber so etwas geht mir auf die Nerven. Besonders Sie müssen darunter leiden, weil Sie es nicht gewöhnt sind.«
»Es sieht fast so aus, als ob Sie heute im Krieg gewesen wären, Katzen bei Nacht und Hunde am Tag!«
Sands lachte.
»Ja, ich führe tatsächlich ein Hundeleben«, meinte er dann. »Es wäre besser, wenn wir einen kleinen Spaziergang machten. Ich werde Sie ein Stück begleiten, in der freien Luft kann man besser denken. Ich bin noch zu aufgeregt, um schlafen zu können.«
Sie gingen also zusammen durch die verlassenen Straßen. Sands sprach unaufhörlich und brachte die seltsamsten Theorien vor.
»Es tut mir furchtbar leid, daß ich in die ganze Affäre gegen meinen Willen hineingezogen worden bin. Ich möchte Ihnen ganz offen sagen, was ich über die Sache denke, Cassidy. Sie sind ein Zeitungsmann und werden sich wahrscheinlich genauer mit all den Leuten zu befassen haben, die irgendwie mit dem traurigen Fall zu tun haben. Es ist nur natürlich, daß Leute in Verdacht kommen und daß man sich überlegt, welche Motive die einzelnen gehabt haben könnten, um ein solches Verbrechen zu begehen. Wenn ich eben sagte, es ist nur natürlich, so meine ich damit, daß gerechterweise etwas geschehen muß. Ich selbst würde mich in diesem Fall auch nicht ausnehmen. Eigentlich kannte ich Harry Leman sehr gut. Ich weiß nicht, ob Sie erfahren haben, daß ich seine Bekanntschaft auf einer Dampferfahrt von New York nach England machte? Wir wurden bald Freunde. Ja, ich glaube, ich war der einzige Freund, den er in London hatte, und ich gebe gern zu, daß ich diese Bekanntschaft pflegte. Ich dachte, früher oder später könnte er mir einmal einen Gefallen tun. In den Vereinigten Staaten habe ich ein Geschäft, das in der letzten Zeit nicht besonders gut gegangen ist. Im großen ganzen bin ich kein Kaufmann. Ich interessiere mich nur so weit dafür, als die Firma das nötige Geld für meinen Lebensunterhalt abwirft. Aber zu meinem Bedauern hat sich mein Einkommen nach und nach immer mehr verringert. Das hat seinen Grund darin, daß ich mit anderen Firmen konkurrieren muß, die denselben Artikel herstellen. Diese haben modernere, wirtschaftlichere und billigere Arbeitsmethoden als ich. Schon vor zwei Jahren erkannte ich, daß es notwendig war, den Betrieb meiner Fabrik zu reorganisieren und vor allem neues Betriebskapital zu beschaffen. Aber Sie wissen ja selbst, daß die Kapitalisten sehr vorsichtig sind, wenn nicht der Betreffende, der das Geld benötigt, als ein tüchtiger Arbeiter oder genialer Organisator bekannt ist. Man erwartet heute von dem Inhaber einer Firma, daß er sich selbst geschäftlich betätigt. Das entspricht aber durchaus nicht meinem Lebensideal. Ich hoffte, daß mein armer verstorbener Freund Harry Leman mir in diesem Punkt helfen würde. Neulich abends erzählte ich ihm von meiner bedrängten Lage und erwähnte dabei auch, daß er mir beistehen könnte. Ich erinnerte ihn daran, daß ich schon so lange mit ihm verkehre und vor allem, daß ich ihm eine Frau beschafft hätte, mit der ich die Korrespondenz für ihn führte. Schließlich nannte ich auch die Summe, die ich brauchte, und er versprach, mir zu schreiben. Heute nachmittag erhielt ich nun seinen Brief. Er schickte ihn mir per Eilboten zu und bat mich, heute abend um acht zu kommen, weil er die Sache mit mir besprechen wollte. Sie können wohl verstehen, Mr. Cassidy, daß es für mich eine ernste Angelegenheit war, wenn Mr. Leman mir seine Hilfe versagte. In diesem Fall war es klar, daß ich nach Amerika fahren und selbst wieder mitarbeiten mußte. Und ich hatte das unangenehme Gefühl, daß Mr. Leman meinen Wunsch nicht erfüllen würde.«
»Ich kann mir schon denken, wie Ihnen zumute ist«, erwiderte Jimmy.
»Vor achtzehn Monaten machte ich Mr. Leman den Vorschlag, eine Dame zu heiraten, die ihm weiter keine Schwierigkeiten bereiten würde. Er sollte gleich bei der Trauung die Bedingung stellen, daß sie ihn vollkommen in Ruhe ließe und im Ausland lebte. Vorher hatte er mir ständig vorgejammert, daß er viel Schwierigkeiten mit seinen Verwandten hätte und sie enterben wollte. Zuerst wollte er von meinem Vorschlag nichts wissen, aber schließlich gab er seine Zustimmung, und so kam es dazu, daß er sich trauen ließ. Ich hatte die Bekanntschaft einer wirklich sehr angenehmen Dame gemacht, die für die ihr zugedachte Rolle paßte. Die Hochzeit wurde in einer kleinen Hafenstadt gefeiert, wie Sie ja wissen. Sie müssen verstehen, daß ich Ihnen genau erklären will, welche Rolle ich bei dieser Trauung gespielt habe. Ich hatte kein Interesse an der Sache, sondern wollte nur Mr. Leman behilflich sein, um ihn mir zu verpflichten –«
»Das verstehe ich alles«, entgegnete Jimmy gelangweilt. »Aber offen gestanden, Mr. Sands, im Augenblick bin ich weniger an Ihren persönlichen Verhältnissen interessiert als an dem Schicksal und der Zukunft meiner armen Faith. Ich sage Ihnen, ich könnte die ganze Polizeistation auseinanderreißen – ich weiß wohl, daß es verrückt von mir ist, so etwas zu sagen. Aber es ist doch ein Wahnsinn, daß Miss Leman den Mord begangen haben soll! – Können Sie mir nicht irgendwie helfen, Mr. Sands? Sie sind doch ein einflußreicher Mann. Wenn sie morgen vor den Richter kommen sollte ^«
»Sie kommt doch morgen höchstens vor das Polizeigericht.«
»Das ist doch ganz gleich«, erwiderte Jimmy ungeduldig. »Können Sie denn nicht Ihren Einfluß geltend machen, damit sie freigelassen wird?«
Mr. Sands schüttelte den Kopf.
»Das bezweifle ich sehr stark. Die Polizei hat die Sache in die Hand genommen, und die ist unbestechlich. Allem Anschein nach hat man so viel Beweismaterial gegen sie gesammelt, daß morgen sofort die Eröffnung des Prozesses beschlossen werden wird.«
Jimmy blieb plötzlich stehen.
»Aber vielleicht könnte Mrs. Leman helfen!« sagte er dann ruhig.
John Sands schwieg verhältnismäßig lange.
»Mrs. Leman wird wahrscheinlich überhaupt nicht in die Lage kommen, ihre Aussage zu machen«, erklärte er schließlich. »Sie ist augenblicklich in Frankreich und kann unmöglich etwas über die näheren Umstandes des Falles aussagen.«
»Mrs. Leman war aber gestern in der Davis Street. Sie war die Frau, die den Millionär um halb sieben aufsuchen wollte. Weil er ihren Besuch erwartete, schickte er seine Nichte fort. Die Frau muß bis acht Uhr bei ihm geblieben sein. Ich habe sie doch aus der Tür kommen sehen.«
Wieder folgte ein längeres Schweigen.
»Sie irren sich«, begann Sands dann wieder. »Wenn Sie sagen, Sie haben eine Dame gesehen, muß ich Ihnen das glauben. Aber es kann unmöglich Mrs. Leman gewesen sein. Ich will noch weitergehen. Ich bin sogar sehr befriedigt, daß jemand zu der Zeit im Haus war, von dem wir bisher noch nichts Genaueres wissen. Es wäre ja möglich, daß diese Person uns Aufklärung geben könnte über die näheren Einzelheiten und Gründe dieses traurigen Ereignisses. Aber ich muß noch einmal eindringlich wiederholen, daß es unmöglich Mrs. Leman gewesen sein kann.«
Er dachte einen Augenblick nach und schüttelte dann den Kopf.
»Nein, sie ist es bestimmt nicht gewesen«, erklärte er noch einmal.
Seine Haltung war merkwürdig deprimiert. Aber plötzlich richtete er sich wieder auf und nahm sich zusammen.
»Ich will Ihnen soviel helfen, wie ich nur kann. Morgen um zehn Uhr werde ich auch im Verhandlungssaal erscheinen. Sie können meinem Rechtsanwalt Hackett in Temple Yard den Auftrag geben, die Verteidigung Miss Lemans zu führen.«
»Ich habe das alles schon geordnet«, erklärte Jimmy. »Aber trotzdem danke ich Ihnen. Ich werde Sie also bei der Verhandlung sehen? Aber kann man ihr sonst nicht helfen? Wäre es nicht möglich, sie gegen Bürgschaft aus der Haft zu befreien?«
Sands schüttelte den Kopf.
»Ich fürchte, das kommt gar nicht in Frage. Wenn es sich um eine so schwere Anklage handelt, ist es unmöglich, den Angeklagten gegen Bürgschaft auf freien Fuß zu setzen. Das ist vollständig ausgeschlossen.«
Er gab Cassidy die Hand, wandte sich um und ging fort.
Jimmy beobachtete ihn, bis er fast außer Sicht gekommen war, dann folgte er ihm.