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Er schien bei Dicks Anblick nicht besonders zu erschrecken.
»Guten Morgen, Inspektor!«
Seine Stimme klang respektvoll, und er verneigte sich leicht. »Hier ist es herrlich«, fuhr er fort. »Der Anblick des Flusses erinnert mich an die See. Wie mögen wohl jene Schutenleute leben ...«
»Wenn sie genügend philosophiert haben, Henry«, unterbrach ihn der Inspektor lächelnd, »dann können Sie mir vielleicht mitteilen, warum Sie in London sind, was Mr. Cornfort macht, und mir einen Bericht über Miss Danes Befinden geben.«
Der Rollstuhlführer musterte ihn vorwurfsvoll.
»Mr. Cornfort ist bettlägerig wie gewöhnlich. Er wird wohl niemals mehr in seinem Rollstuhl sitzen.«
»Hat sich sein Befinden so sehr verschlimmert? Nun, nun, niemand lebt ewig!« Er lächelte den Alten ermunternd an. »Was macht Miss Dane?«
»Sie ist in London. Sie hat etwas verloren und will sich danach erkundigen. Ein Andenken, ein kleiner Schmuckgegenstand, zwar nicht von großem Wert, aber ihr sehr teuer.«
»Und wer pflegt unterdessen den Kranken?«
»Drei Krankenpflegerinnen.«
Dick blickte auf die Tür des Yard.
»Miss Dane ist wohl dort drin?« fragte er, auf das Gebäude zeigend.
»Ich glaube, ja.«
»Aber dann ist sie doch nicht an der richtigen Stelle, um sich nach verlorenen Gegenständen zu erkundigen. Die Fundstelle ist dort weiter drüben.«
»So?« Der Alte war unstreitig interessiert. »Nun, Miss Dane weiß wahrscheinlich bei der Polizei nicht so genau Bescheid und dachte, sie könnte hier etwas erfahren. Sie wollte, glaube ich, zum Polizeipräsidenten selbst.«
»Der ist nicht in London. Zu Bourke will sie?« Dick war entsetzt über so viel Unerfahrenheit. »Wegen eines Fundgegenstandes?«
Henry nickte.
»Sie hat ihre eigenen Wege, Mr. Staines, und geht immer gleich an die Wurzel aller Dinge.«
»Sie haben für einen Rollstuhlführer eine recht nette Sprechweise«, erklärte Dick, den Alten nachdenklich musternd, was jener, ohne mit der Wimper zu zucken, über sich ergehen ließ.
»Ich war in meiner Jugend Ringkämpfer, Sir. Sie wundern sich, daß ein schwächlicher Mensch, wie ich es bin, so einen Beruf gehabt haben kann? Nun, nun, das war ja auch nicht mein Hauptberuf. Hauptsächlich war ich Professor der Mathematik an einer sehr berühmten Universität. Zuletzt fand ich heraus, daß Ringkämpfen sich besser lohnte, und sattelte um. Natürlich mußte ich mein Amt als Professor niederlegen.«
»Sie waren Federgewichtler?«
»Ja. Ich bin der Mann, der als einziger Digger Bill Ferrers besiegte. Er bekam in der dreizehnten Runde von mir den K. o. und wurde niemals wieder das, was er war.«
Narrte ihn der Alte? Dick hatte das Empfinden, als ziehe er in dieser Unterhaltung den kürzeren. Ehe er sich jedoch zu einem Entschluß durchringen konnte, trat Mary Dane über die Schwelle der Tür. Henry blickte ihr ruhig entgegen und flößte dadurch Dick den Verdacht ein, daß sich der Alte über ihn lustig mache.
»Henry hat Ihnen wohl schon das Neueste über Mr. Cornforts Befinden mitgeteilt, Mr. Staines?« begrüßte ihn Mary.
»Ist er tot?« Die Frage klang brutal.
»Pfui. Natürlich lebt er noch. Der arme Mann ist bettlägerig.«
»Und Sie fuhren nach Scotland Yard, um sich dort nach einem verlorenen Gegenstand zu erkundigen?«
»Ja, nach demjenigen, den Henry erwähnte. Bitte, stellen Sie mit mir hier auf offener Straße kein Kreuzverhör an, Mr. Staines. Übrigens ist Bourke ein netter Mensch.«
»Ich werde ihm das Kompliment übermitteln«, versprach Dick.
Nachdenklich blickte sie ihn an.
»Sie können gehen, Henry«, sagte sie zu dem Alten. »Mr. Staines wird mich zu Sollingers zum Tee einladen. Kommen Sie, Mr. Staines, wir gehen zu Fuß durch den Park. Ich bin gern im Grünen.«
»Ja, das weiß ich«, erklärte Dick maliziös.
Er warf einen Blick zurück und sah Henry noch immer auf demselben Fleck stehen, seine Blicke auf den Fluß gerichtet.
»Wo hat er denn heute den Krankenstuhl gelassen?« erkundigte er sich ironisch bei seiner Begleiterin. »Ohne ihn sieht er nach gar nichts aus. Es wäre ein Anblick für Götter gewesen, wenn er und Sie mit Ihrem alten gelben Rollstuhl auf der Straße hätten warten müssen, bis der Verkehrspolizist den Weg freigibt.«
»Sie haben heute wohl schlechte Laune?« erkundigte sich das Mädchen. »Ich halte Sie von der Arbeit ab, Dick?«
»Nein, im Augenblick sind Sie meine einzige Beschäftigung, und ...« setzte er hinzu: »... meine einzige Sorge.«
Sie antwortete nicht. Eine ganze Weile schritten sie still nebeneinander her, bis Mary endlich das Schweigen brach: »Was macht der Spuk?«
»Es geht ihm nicht gut. Er ist bettlägerig.«
»Ich spreche nicht von Mr. Cornfort«, rügte sie ihn.
»Ich meine den, der die Selbstschüsse legt.«
»Sie armer Kerl! Beinahe hätten Sie wohl das Leben lassen müssen, wie? Ach, Liebling, wie ich mich in jener Nacht um dich sorgte.« Beinahe unbewußt gebrauchte sie das intime »Du«. »Ich wünsche dir nicht, daß du jemals eine solche Viertelstunde durchmachen müßtest, wie ich damals. Es war entsetzlich.«
»Woher wußtest du, Mary, daß man mir eine Falle stellen wollte?«
»Reiner Instinkt. Dick, nimm dich doch in Zukunft mehr in acht«, bat sie mit zitternder Stimme.
»Ich tue es ja schon, Geliebte, dir zuliebe.« Er lachte. »Ich werde mich aber in den nächsten Tagen noch einmal in die Höhle des Löwen begeben müssen.«
Sie sah ihn entsetzt an: »Was soll das heißen?«
»Mr. Derrick wird sich wieder in seinem Haus niederlassen und hat mich eingeladen, ihm dabei Gesellschaft zu leisten und dort zu schlafen.«
Sie erwiderte im Augenblick nichts, sondern setzte ihren Weg fort.
»Wann willst du hinüber?« fragte sie endlich.
»Morgen. Tommy ist wohl auch in London?«
»Nein. Er blieb zurück, da ich ihm sagte, ich würde heute noch zurückkehren.«
»Fährst du wirklich nach Hause?«
»Henry wollte ins Theater, und ich hatte ihm versprochen, ihn zu begleiten.« Dann sagte sie, vom Thema abschweifend: »Bourke ist ein netter Mensch, ein richtiges, liebes Dickchen. Erst wollte er dienstlich werden, besann sich aber eines Besseren.«
»Was wolltest du denn bei ihm?« erkundigte er sich.
»Wer viel fragt, geht viel irre. Soll ich denn immer wieder lügen? Er hat geschrieben, ich möchte ihn aufsuchen, da er mich wegen der Handgranatenaffäre in Eastbourne sprechen wolle. Die Stadt hat ja, wie du vielleicht weißt, eine Belohnung von zweihundert Pfund ausgesetzt.«
Dick hatte das gelesen. Er begleitete das Mädchen in ein Kaufhaus, wo sie einige Einkäufe zu machen hatte. An der Tür bat sie ihn, auf sie zu warten. Ohne sich an ihre Bitte zu kehren, folgte er ihr von weitem, während sie sich in das Postbüro ins vierte Stockwerk begab. Durch die Glastür sah er sie nach postlagernden Briefen fragen. Die bedienende Beamtin suchte eine lange Weile in den aufgestapelten Lagersachen und schüttelte dann verneinend den Kopf. Gleich darauf trat Mary Dane wieder heraus und sah Dick stehen.
»Hast du mich endlich mal auf frischer Tat ertappt? Pfui, wie neugierig. Doch wahrscheinlich wird dein Beruf an dieser Neugierde schuld sein, Dicky, nicht wahr?«
»Ich habe dich nicht belauscht«, verteidigte er sich. »Ich sah dich nur durch die Glasscheibe der Tür.«
»Ich hatte dich aber doch gebeten, unten zu warten, mein Junge. Komm nun, ich will Unterwäsche kaufen, und dabei kann ich dich wirklich nicht gebrauchen. Warte hier auf mich.«
Sie verließ ihn. Er wartete über eine halbe Stunde und wollte endlich weggehen, als er die Postbeamtin auf sich zukommen sah, die Mary bedient hatte.
»Sind Sie der Herr, der sich vorhin in Begleitung Miss Danes befand?« sprach sie ihn an. Er nickte.
»Eben haben wir für sie eine telefonisch durchgegebene Depesche bekommen, Mr. Staines. Hier ist sie. Werden Sie Miss Dane noch treffen?«
»Ich glaube, ja.«
Er machte sich auf den Weg, Mary zu suchen, fand sie aber nirgends. Endlich gab er es auf und schritt gerade durch die Schwingtür auf die Straße, als ihn der Portier anhielt.
»Sie sind Mr. Staines, nicht wahr? Eine junge Dame hat mir für Sie eine Botschaft aufgetragen. Sie sei abberufen worden, denn Mr. ... – ich erinnere mich des Namens nicht mehr – sei sehr schwer erkrankt.«
»Mr. Cornfort, nicht wahr?« half ihm Dick auf die Sprünge.
»Ja, so hieß er. Ich kenne Sie, Sir, und übernahm die Nachricht.«
Warum narrte sie ihn dauernd? Dick war in schlimmster Laune, als er endlich im Yard eintraf. Als er über die Schwelle trat, begegnete ihm Bourke.
»Sie haben sich nur um zwei Stunden verspätet«, konstatierte der Chef und hob seine Zigarre auf, die der impulsive Dick ihm in seiner Hast aus der Hand geschlagen hatte.
»Was wollte denn Miss Dane bei Ihnen?« fragte Dick, ohne sich zu entschuldigen.
»Miss Dane? Was wollte sie denn eigentlich? Ach so, wegen der Bombenwerferei. Nettes Mädchen! Und klug ist sie auch! Sie würde eine herrliche Verbrecherin abgeben.«
»Glauben Sie ...«
»Nein.« Staines konnte es seinem Chef ansehen, daß jener es aufrichtig meinte. »Na, auf Wiedersehen, bis morgen.«
Ehe sich Dick zu einer weiteren Frage aufgerafft hatte, war Bourke verschwunden.