Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5

»Eigentlich komisch«, beendete der alte Maurermeister seinen Bericht, »was für eine Menge Leute sich in letzter Zeit für das Haus zu interessieren beginnen. Vorgestern war eine junge Dame hier, die ein Buch schreiben will, das sich mit alten Häusern befaßt. Sie fragte mich nach Plänen solcher Häuser, und die Rede kam auch auf das Haus des alten Derrick.«

»Wie sah denn Ihre Besucherin aus?«

»Ich kann mich wirklich nicht genau an sie erinnern«, gab der Alte nach angestrengtem Nachdenken zurück. »Nur ihre Augen, die graublau waren, sind mir noch in Erinnerung. Sie hatten dieselbe Farbe wie die meiner Enkelin, mit auffallend langen und dunklen Wimpern.«

Es waren unstreitig Mary Danes Augen, die der Mann beschrieb. Jetzt erst nannte Dick dem Alten seinen Beruf.

»So, also Kriminalbeamter sind Sie, Sir«, meinte der Baumeister seelenruhig. »Nein, mehr kann ich Ihnen wirklich nicht mitteilen. Die junge Dame wollte von mir nur noch wissen, wo sie den Baumeister ausfindig machen könne, der das Haus für den alten Derrick umgebaut hat. Ich gab ihr die Adresse, und sie notierte sie sich, dort auf jenem Tisch. Erst suchte sie eine lange Zeit nach einem Bleistift und zog endlich einen neumodischen Goldstift mit roter Kappe heraus. Er war wirklich aus Gold, Sir.«

Also war die Besucherin doch Mary Dane gewesen! Sie hatte den Bleistift benutzt, den Dick in Brighton verloren hatte, und der ihm nachträglich von ihr zurückgegeben worden war.

Gegen elf Uhr verließ er Scotland Yard, um nach Hause zu gehen. Es schlug bereits halb zwölf, als er den Strand überquerte und die Richtung nach Holborn einschlug. Kurz vor Bloomsbury sah er vor sich eine Dame, und da er es ziemlich eilig hatte, ins Bett zu kommen, hatte er die nächtliche Spaziergängerin schnell überholt. Plötzlich hörte er sie aufschreien. Er hatte in seiner Versunkenheit nicht die Annäherung eines Mannes bemerkt, der nun das Mädchen belästigte. Vergebens versuchte sie, sich von dem brutalen Griff des anscheinend Betrunkenen zu befreien. Mit wenigen Schritten befand sich Dick auf dem Schauplatz der Auseinandersetzung und sandte den Lästigen mit einem wohlgezielten Faustschlag in die Straßenrinne. Als er nun die Befreite näher betrachtete, traute er seinen Augen kaum. Vor ihm stand – Mary Dane.

»Bitte, Mr. Staines«, flehte sie, die ihn ebenfalls erkannt hatte, »befreien Sie mich von dem Menschen.«

Der Angreifer hatte sich unterdessen wieder aus dem Graben erhoben und kam nun auf Staines zu.

»Was willst'n du von mir«, stotterte er. »Was gehts'n dich an, wenn ich meine Freundin aus Kapstadt begrüßen will, he?« Er drohte dem Mädchen mit dem Zeigefinger: »Dachtest wohl, ich kenn dich nich wieder, Mädchen, was? Nee, Kind, Lordy hat 'n gutes Gedächtnis. Du hast mer nich umsonst 'nen Streich gespielt.«

Dick Staines machte der Szene schnell ein Ende.

»Hat dieser Mann Sie belästigt, Miss Dane?« wandte er sich an das Mädchen.

»Nein, er hat mich wohl verwechselt und mich für jemand anderen gehalten«, entgegnete sie.

»Ach nee«, spottete der Mann, der sich Lordy genannt hatte. »Ich weiß schon, wer de bist, Mary de Villiers. Was woll'n Sie denn eigentlich?« wandte er sich plötzlich drohend an Staines.

»Ich bin Kriminalinspektor Staines von Scotland Yard.« Diese Worte schienen dem andern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Er senkte seine bisher drohend erhobene Stimme zum flehenden Flüstern: »Ich hab niemand belästigt, Sir«, winselte er. »Ich dachte, die Dame wiederzuerkennen, hab mich wohl geirrt. Ja, ja, wenn man ein paar Glas zuviel getrunken ...«

»Kommen Sie mal her, Mr. Lordy, ich will Sie mir mal näher betrachten«, meinte der Inspektor und zog den Betroffenen in den Lichtkegel einer Straßenlaterne. Er sah einen ausnehmend langen Kopf, unruhige, jetzt von unterdrückter Furcht erfüllte Augen, ein hageres, braungebranntes Gesicht, hervortretende Nase und einen spärlichen, im ungewissen Licht kaum sichtbaren Schnurrbart. Dem anderen schien die eingehende Musterung wenig zu behagen.

»Lassen'se mich los, Baas. Ich bin Lordy Brown und erst Sonnabend nach London gekommen. Die junge Dame wird mich schon kenn'. Oder ich habe mich auch getäuscht, und sie ist gar nich die, für die ich se hielt.«

»Was wollte er denn von Ihnen, Miss Dane?«

»Ich habe keine Ahnung; er fing gerade an zu schimpfen, als Sie herbeieilten.«

»Ich soll geschimpft haben, Miss?« wehrte sich Brown. »Nee, ich will ja gar nischt von Ihn'. Ich bin doch erst ein paar Tage hier, bin mit der ›Glamis Castle‹ gekomm'. Nur einen Freund, der in London wohnt, wollt' ich aufsuchen, Sir. Hab' ihn aber nicht zu Hause angetroffen. Kenn' ihn vom Tanganjika her. O ja, er empfängt Lordy, auch wenn er inzwischen 'n paar Millionen geerbt haben soll. Als er nach Afrika kam, hatte er sich mit seinem Alten verkracht. Ein guter Kerl ist er aber, der Walter Derrick.«

Dick glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen.

»Kennen Sie das Kaffeehaus in der Nähe vom Piccadilly Circus?« fragte er den Südafrikaner. »Gut, dort erwarten Sie mich; ich werde in einer halben Stunde dort sein und wehe Ihnen, wenn Sie mich versetzen. Wo wohnen Sie eigentlich?«

Brown nannte ein kleines obskures Hotel in der Nähe des »Strand«, und Dick sah ihm an, daß er die Wahrheit sprach.

»Ich komm' in 'ner halben Stunde hin, Sir«, versprach Lordy.

»All right.« Dick ließ ihn stehen und wandte sich Miss Dane zu, die dem Frage-und-Antwort-Spiel zwischen den beiden Männern stumm gelauscht hatte. Offenbar hatte sie erwartet, daß der Inspektor sie nach Hause begleiten würde.

»Ich war so erschrocken«, klagte sie, »als der Mann sich an mich herandrängte. Wie entsetzlich ist doch ein Trunkenbold.«

»Wo werden Sie denn übernachten, Miss Dane?« wollte Dick wissen.

»In der Gower Street.« Sie nannte ein kleines Familienhotel. »Ich bin erst heute mittag von Littlehampton hierhergekommen, um einige Einkäufe zu machen. Morgen früh fahre ich wieder heim. London fällt mir auf die Nerven.«

»Haben Sie jemals etwas davon gehört«, fragte plötzlich Staines, »daß Sie eine Doppelgängerin haben?«

»Nein. Gibt es wirklich irgendwo in der Welt zwei Personen, die einander völlig gleichen?«

»Sie haben nicht nur eine, sondern zum mindestens zwei Doppelgängerinnen. Lordy Brown wird Ihnen das bestätigen können. Er verwechselte Sie mit Mary de Villiers, einem Mädchen, das er in Südafrika kennengelernt haben will. Waren Sie niemals dort unten?«

Zu seiner Überraschung bejahte sie die Frage.

»Bis vor zwei Jahren wohnte ich dort«, gab sie zu.

»Als Krankenpflegerin? Sie waren damals dazu ja noch gar nicht alt genug«, wunderte er sich.

Sie kicherte vor sich hin. »Sie wollen mir wohl Komplimente machen, Mr. Staines? Ich wollte, ich wäre dem Menschen nicht begegnet; er macht mir Sorge.«

Warum sorgte sie sich wohl eines Mannes wegen, dem sie allem Anschein nach heute abend zum ersten Male begegnet war?

»Es berührt mich merkwürdig, daß Lordy Brown vorgibt, Derrick zu kennen«, begnügte er sich zu erwidern. Er mußte die Bemerkung zweimal wiederholen, ehe sie auf den Köder anbiß.

»Mr. Derrick? Ach so, den Mann mit dem gelben Rolls Royce! Ist er denn gegenwärtig in London?«

»Nein, in Sussex, auf seinem Landgut.«

»Der Glückliche!«

»Warum nennen Sie ihn so?« fragte Staines erstaunt.

»Und Sie bezeichnet man als klug, Mr. Staines?« gab das Mädchen ironisch zurück. »Halten Sie es denn nicht für ein Glück, einen Freund zu besitzen, wie Lordy Brown aus Kapstadt es unstreitig ist? Scherz beiseite, Mr. Staines: Werden Sie ihn heute abend noch treffen? Fragen Sie ihn doch bitte, wer die Mary de Villiers ist, die er vorhin erwähnte und mit der er mich anscheinend verwechselte. De Villiers? Kein seltener Name dort unten. Ich kenne verschiedene Leute in Kapstadt, die so heißen. Haben Sie wieder einmal Ihren Bleistift verloren, Mr. Staines?«

Erst diese Frage erinnerte ihn an die Auskunft des privatisierenden Maurermeisters über den Besuch einer jungen Dame, einer Miss Dane.

»Noch vor einigen Stunden war ich der Meinung, daß ich ihn tatsächlich wieder einmal verloren habe«, gab er zurück. »Man erzählte mir von einem Besuch Ihrer Doppelgängerin. In Wandsworth wohnt ein alter Maurermeister – Ellington heißt er –, der vor einigen Tagen von einer Dame besucht wurde. Die Besucherin sah genauso aus wie Sie, Miss Dane. Außerdem hat sie, wie mir Mr. Ellington mitteilte, einen Bleistift benutzt, der meinem zum Verwechseln ähnlich sieht. Meine Worte machen Ihnen wohl Spaß?« setzte er, als er sie lachen sah, fragend hinzu.

»Ich könnte mich totlachen. Hier, sehen Sie einmal her!«

Sie öffnete ihre Handtasche und entnahm ihr einen Bleistift, der dem seinen wie ein Ei dem andern ähnelte.

»Heute vormittag habe ich ihn mir in der Regent Street gekauft«, berichtete das Mädchen kichernd. »Ich hätte ebensogut tausend kaufen können, denn der Laden hat nichts anderes zu verkaufen als Füllstifte und Füllfederhalter. Auch im Zug saß ein Herr, der genau den gleichen Stift hatte. Wo haben Sie denn eigentlich Ihren her?«

»Von Tommy.«

»Er soll sich schämen, denn die Hülse ist ja nicht einmal aus Gold. Es tut mir ja leid, daß ich Ihren geliebten ›Tommy‹ hier so bloßstellen muß, aber die Stifte kosten genau sieben Schilling und sechs Pence, nicht mehr und nicht weniger. Eine Frage, Mr. Staines!«

»Alles, was Sie wollen«, entgegnete Dick galant.

Ernst geworden, blickte sie ihn an: »Was für ein Geheimnis tragen Sie eigentlich in Ihrem Herzen, Mr. Staines? Was wollten Sie mit Ihrer Frage, ob ich weiß, daß von mir Doppelgängerinnen existieren? Miss Villiers wäre die eine, nicht wahr? Und die zweite? Hat man in meiner Maske etwa ein Verbrechen begangen? Kamen Sie wirklich nach Brighton, um mich zu verhaften?«

»Wie kommen Sie auf diese ausgefallene Idee?« wich er aus.

»Bitte, antworten Sie mir ohne Ausflüchte, Mr. Staines. Ich wußte sofort, was Sie von mir wollten, als ich Sie damals so plötzlich auf dem Maskenball auftauchen sah. Nur einen kurzen Augenblick lang glaubte ich, die Sehnsucht, mich wiederzusehen, habe Sie in Nacht und Wetter auf die Landstraße gejagt, wurde aber bald eines Besseren belehrt. Sie kamen, um mir eine Falle zu stellen.«

»Haben Sie eine Schwester?« fragte er, ohne zunächst auf ihre Bemerkungen einzugehen.

»Ja, eine von zwölf Jahren, die mir aber gar nicht ähnlich sieht. Sie ist viel brünetter. Klug, weil sie meine Schwester ist, aber nicht klug genug, um als meine Doppelgängerin aufzutreten. Zwillingsschwester? Nein, auch die habe ich nicht. Warum so weit suchen; ich bin doch ein ganz normal aussehender Mensch, und so mag es vielleicht Ähnlichkeiten geben, die mich mit jemand anderm verwechseln ließen.« Ohne das Thema weiter auszuspinnen, wandte sie sich einem anderen Gesprächsstoff zu. »Wenn Sie mir schreiben wollen, Mr. Staines, würde mich Ihr Brief bis morgen in meinem Hotel erreichen.«

Die angedeutete Erwartung, von ihm ein Lebenszeichen zu erhalten, beglückte ihn. Aber ehe er sich von ihr verabschiedete, bekam er noch eine kalte Dusche.

»Natürlich werden Sie mir nur schreiben, wenn es Ihnen gelingt, meine Doppelgängerin wieder einmal zu sehen, Mr. Staines. In diesem Fall wissen Sie also, Herr Inspektor, wo Sie mich finden können.«

Lordy Brown erwartete Dick schon, als der Inspektor das vereinbarte Kaffeehaus betrat. Staines bestellte sich auf Lordys Einladung eine Limonade, die Brown mit mißtrauischen Blicken musterte.

»Mir bekäme sie ja eigentlich auch besser«, meinte er, »aber ich habe wochenlang in Südafrika nichts anderes als dieses Zeug zu trinken bekommen und möchte nun endlich einmal wieder etwas Menschenwürdiges genießen. Hoffentlich haben Sie durch jenen unglückseligen Zwischenfall mit der jungen Dame keinen schlechten Eindruck von mir bekommen, Inspektor.« Lordy bemühte sich, dialektfrei zu sprechen, was ihm nur schlecht gelingen wollte. »Ich war ein wenig angeheitert, bin aber jetzt wieder nüchtern. Kennen Sie Mr. Walter Derrick, meinen Freund?« setzte er nachdenklich hinzu.

Er war auf die bejahende Geste Dicks hin höchlichst überrascht.

»Ja«, urteilte er, »Derrick ist ein feiner Kerl, nur ein bißchen zu leichtgläubig. Ich lernte ihn am Rande der Wüste kennen; er wohnte mit einem andern, namens Cleave, in einem Zelt, und beide suchten Gold. Walter war von einem Löwen angefallen und ziemlich scheußlich zugerichtet worden. Er hatte sich noch einige Meter weit schleppen können und wäre verdurstet, hätte ich ihn nicht gefunden. Er hat es mir bestimmt nicht vergessen, daß ich ihm das Leben rettete. Er wird mich mit offenen Armen empfangen: ›Na, mein alter Lordy‹, wird er sagen, ›wie geht's dir denn? Freue mich, dich zu sehen und dir dein gutes Werk vergelten zu können.‹ Ja, er ist ein richtiger Spaßvogel. Und Verstand? Na, Sie wissen ja, wie er ist. Klug und geschickt; alles, was er anfaßt, hat Hand und Fuß.« Er unterbrach sich, um genießerisch einen Schluck zu trinken. Dann fuhr er fort: »›Geld‹, wird Walter sagen, ›Geld spielt bei mir überhaupt keine Rolle: Wieviel brauchst du?‹«

»Hoffentlich wird es so sein«, warf Dick skeptisch ein.

»Bestimmt. Wir Pioniere halten zusammen, sind andere Kerle als ihr hier. Mein Bruder war einer der ersten, die Südafrika mit erschließen halfen, und auch ich kenne das Land von Süd bis Nord, sogar in die Kalahari bin ich vorgedrungen, und sie hat ihre Schrecken für mich verloren.«

Er unterbrach sich. Er mochte wohl die Ratsamkeit prüfen, dem Inspektor etwas mitzuteilen, was er bereits andeutungsweise einige Male in seinem Bericht gestreift hatte. Endlich entschloß er sich.

»Es ist das beste, ich schenke Ihnen reinen Wein über mich ein, Sir. Sie werden ja doch alles herausbekommen, was Sie wissen wollen. Ich werde Ihnen hier zwar keine Scherereien machen, denn ich bin einer von denen, die auch die Polizei leben lassen wollen, aber: Ja, ich habe schon ein paarmal – gesessen. Es hat gar keinen Zweck, Sie hinters Licht führen zu wollen. Das erste Mal waren es nur zwölf Monate, das zweite drei und ein halbes Jahr. Nur der Alkohol war beide Male daran schuld, Sir. Ich bin von Leuten verführt worden, die älter waren und verständiger hätten sein sollen. Jetzt kann mir das nicht mehr passieren; ich habe erfahren, daß sich Unehrlichkeit nicht lohnt.«

»Was hatten Sie denn ausgefressen?« wollte Dick wissen.

Lordy Brown hüstelte verlegen.

»Schlimm war es nicht, Sir. Jedenfalls war ich immer nur der Verführte.«

Er schien auf die Gründe, die ihn hinter schwedische Gardinen gebracht hatten, nicht sehr stolz zu sein. Als Staines in ihn drang, sie zu erfahren, versuchte er allerhand Ausflüchte, bequemte sich aber endlich doch, die annähernde Wahrheit zu gestehen.

»Ich hatte einigen Goldsuchern ihre Nuggets abgenommen, Inspektor. Sie waren betrunken und auch ich nicht ganz nüchtern. Ich weiß heute noch nicht, wie ich auf den Gedanken gekommen bin. Die Polizei hat natürlich geschworen, ich sei nüchtern gewesen, und so wurde ich eben hinaufgeschickt. Pretoria, Zentralgefängnis war damals meine Adresse. Das zweitemal, wo ich herangeholt wurde, war ich überhaupt unschuldig. Jemand hatte mir erzählt, er kenne einen Herrn, der Diamanten kaufen wolle. Das darf man ja, wie Sie wissen werden, in Südafrika nicht ohne Konzession ...«

»Ja, ich weiß: illegaler Diamantenhandel, nicht wahr?« warf Dick ein.

»So ist es. Ich ging zu dem Leichtsinnigen hin und teilte ihm mit, daß die Polizei sich für ihn interessiere. Vielleicht habe ich dabei ein paar Worte wegen einer kleinen Belohnung fallenlassen, die mir für meine Warnung zustehe. Er zeigte mich an, und es stellte sich heraus, daß ich an die falsche Adresse geraten war. Der Herr betrieb gar keinen Handel mit Edelsteinen. Sie haben mir für meinen Irrtum vier Jahre aufgedrückt ...«

»Also wegen Erpressung sind Sie bestraft worden?« nannte Staines das Kind mit dem richtigen Namen.

Lordy versuchte gar nicht erst, den Anwurf zu widerlegen. Er hielt es aber für notwendig, jetzt schon zu betonen, daß der Grund seines Besuches bei Derrick mit Erpressung nichts zu tun habe.

»Walter ist ein Kavalier«, bestätigte er nochmals sein früheres Urteil. »Er ist nur ein bißchen zu freigebig. Er krumme Sachen drehen? Nein, nie! Einen Humor hat er, der unverwüstlich ist. Wissen Sie, was er sagte, als ihn der Löwe anfiel und zerfleischte? Er nannte das verletzte Bein den ›Löwenanteil!‹ Wirklich, ein Mann, wie er sein muß.«

Nein, um Gottes willen, er Lordy, war nicht in Geldverlegenheit. Wie kam der Inspektor auf eine solche Idee?! Er hatte ein paar Pfund von »drüben« mitgebracht, die würden ihm langen. Er bedauerte zwar, daß er Südafrika verlassen habe, aber die Not hatte ihn gezwungen, nach London zu fahren. Dick war sich über die wirklichen Gründe der Reise nicht einen Augenblick im unklaren: Die Luft war Lordy wohl zu »dick« geworden, und er hatte eine Luftveränderung für notwendig befunden.

»Nun, und was haben Sie nun jetzt wieder drüben ausgefressen?« erkundigte sich der Inspektor.

»Ach, eine Kleinigkeit, Mr. Staines«, erwiderte der Gefragte nach kurzem Zögern. »Wenn man erst einmal bei der Polizei ›hängt‹, dann ist es mit der Ruhe vorbei. Es wird einem alles zugeschoben, was andere ausgefressen haben. In Kapstadt wohnen eine Menge ›Ganoven‹, und wir Unschuldigen müssen unter ihren Streichen leiden. Wovon leben die vielen Leute dort, die den ganzen Tag nichts arbeiten: Nur von der Sore.«

»Wer ist denn eigentlich jene Miss de Villiers, die Sie vorhin der jungen Dame gegenüber erwähnten?« verlangte Dick zu wissen.

Brown blickte seinen Peiniger nachdenklich an. Er schien sich nicht im klaren zu sein, ob er die Frage wahrheitsgemäß beantworten solle.

»Ach die? Ich kenne sie nur oberflächlich.«

»Wohl eine Ganovin?« schlug Dick auf den Busch.

»Ich verpfeife keine Dame«, verwahrte sich Lordy dagegen, den Verräter zu spielen.

Auf dem Nachhauseweg ließ Dick das Gespräch mit Lordy noch einmal an sich vorüberziehen. Er war sich klar, daß Brown wirklich geglaubt hatte, der de Villiers gegenüberzustehen, als er Mary Dane belästigte. Und er schien dabei von nichts weniger als freundschaftlichen Gefühlen beseelt gewesen zu sein.

Der Verdacht, daß Mary Dane und ihre angeblichen Doppelgängerinnen eine und dieselbe Person seien, ließ Dick nicht zur Ruhe kommen. Hatte auch Brown sich getäuscht? Er wie auch Dick hatten das Mädchen auf der nachtdunklen Straße sofort erkannt. Was wollte jene Unbekannte in Walter Derricks Haus? War sie Derrick feindlich gesinnt? Was wollte sie durch diese fortgesetzten Einbrüche erreichen? Plötzlich erinnerte sich Dick des Mordes von Slough. War das Mädchen eine Verwandte des damaligen Opfers und suchte nun die Tat zu rächen, da das Gesetz dazu nicht imstande gewesen war? Solche Dinge, so sagte sich Dick, kamen in Romanen, aber nicht im wirklichen Leben vor. Vielleicht aber – immer wieder kehrten die Gedanken Dicks auf den Gegenstand zurück – war der Mörder von Slough an allen diesen Dingen beteiligt, die sich seit einigen Tagen abspielten? Wollte der Mann an die Fingerabdrucksammlung des alten Derrick heran? Nein, das war nicht möglich, denn wenn er wußte, daß Josua Derrick seinen Abdruck hatte, mußte er auch wissen, daß die Sammlung von Walter Derrick verbrannt worden war. Suchten die Einbrecher die verlorengegangenen Vermögensteile des alten Spekulanten? War Mary Dane an allen diesen Dingen mitschuldig?

Schlaflos wälzte sich der verliebte Dick auf seinem Lager herum, und es dauerte lange, bis sich seine müden Augen zum Schlummer schlossen.

Als Dick Mary Dane in ihrem Hotel in der Gower Street aufsuchen wollte, war sie bereits abgereist, hatte aber für ihn einige Zeilen hinterlassen.

»Die Dame wußte, daß Sie heute kommen würden, Mr. Staines«, teilte ihm das Stubenmädchen mit. »Ich soll Ihnen diesen Brief aushändigen.«

Wider Willen mußte der Betroffene lachen. Wie genau doch Mary gewußt hatte, daß er sie besuchen würde. Der Brief verbesserte seine Laune nicht.

»Mein lieber Mr. Staines, ich mußte leider abreisen, ohne Ihren vermuteten Besuch abwarten zu können. Man hat mich heute morgen von Littlehampton angerufen, daß der Zustand von Mr. Cornfort ernster geworden sei, vielleicht essen wir ein anderes Mal zusammen.

Ihre Mary Dane«

Dick hielt den Inhalt des Briefes für reinen Hohn; er war wirklich ärgerlich geworden.

»Der Teufel soll alle Weiber holen«, brummte er wütend vor sich hin, als er das Hotel verließ.

Den Rest des »versalzenen« Tages brachte er mit dem Nachprüfen – zum soundsovielten Male – der Aktenstücke zu, die den Raubmord von Slough behandelten. Er entnahm ihnen nichts Neues. Nur der Hergang des Verbrechens interessierte ihn wieder und wieder.

Ein gewisser Carter hatte aus der Richtung Maidenhead ein Motorrad heranrasen sehen. Der Fahrer trug ein braunes Lederjackett, seine Augen waren hinter dunklen Schutzgläsern verborgen. Seine Größe hatte der Zeuge nicht beschreiben können, da er den Täter nur auf dem Rad sitzend gesehen hatte. Der Ermordete, vierzig Jahre alt, war des öfteren ermahnt worden, die Gelder nicht allein zu holen, hatte aber, da er leidenschaftlicher Fußgänger gewesen war, alle Mahnungen in den Wind geschlagen. Endlich war von Seiten seiner Vorgesetzten ein strenges Verbot ergangen, ohne daß sich das spätere Opfer um dieses geschert hätte. Auch am Morgen der Tat war er wieder allein zu Fuß zur Bank gegangen, um sechshundert Pfund Lohngelder abzuholen. Der Bank gegenüber und angesichts zahlreicher Zeugen, hatte der von Carter beobachtete Motorradfahrer angehalten und sich, als wolle er einen aufgegangenen Schnürriemen binden, zu Boden gebeugt. Als der Kassenbote auf gleicher Höhe mit dem Täter angekommen war, hatte dieser plötzlich eine Pistole gezogen, den Unglücklichen niedergeschossen und ihm die Aktenmappe entrissen. Kurz darauf hätte er sich, im Beisein der entsetzten Zuschauer, aufs Rad geschwungen und war nach wenigen Minuten verschwunden. Beim Aufsteigen hatte er die Mordwaffe fallen lassen, die man kurz darauf gefunden hatte. Nicht die geringste Nachricht erhielt man über den Flüchtigen, obwohl die Verfolgung sofort mit allen verfügbaren Kräften aufgenommen worden war. Der Fingerabdruck auf dem Pistolenlauf war und blieb die einzige greifbare Spur vom Täter. Wahrscheinlich gehörte er den besseren Kreisen an und hatte seine Flucht ins Ausland ungehindert fortsetzen können.

Das war der Mord von Slough, wie er sich Dick nach eingehendem Studium aller Zeugenaussagen darstellte.

Damit war nicht viel anzufangen. So brutal der Mord auch war, und so hoch die Wogen der Empörung im Publikum auch gingen – sogar die üblichen unterirdischen Informationsquellen, auf die keine Polizei der Welt verzichten kann, hatten sich als unergiebig erwiesen. Der Täter war und blieb verschwunden.


 << zurück weiter >>