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Mit dem Titel eines »Dr. phil.« und den armseligen Resten der väterlichen Erbschaft von eintausend Pfund, deren größten Teil er »verstudiert« hatte, verließ Dick Staines die Universität von Cambridge. Keiner war sich klarer als er über die dringende Notwendigkeit, sich schnellstens eine Existenz zu schaffen. Nach einigen Wochen Offertenschreibens auf unzählige Inserate hatten sich ihm vier Möglichkeiten geboten, die ersten Sprossen auf der Leiter zum Erfolg zu erklimmen: als Volontär in einer Autofabrik mit dreißig Schilling Wochenlohn; als Volksschullehrer – akademischer Vorbildung – mit der Aussicht, nach zehn Jahren so viel zu verdienen, daß er einen Hausstand würde gründen können; als Offizier des königlichen Heeres oder der Marine mit der Hoffnung, aus seinen Bezügen mit Mühe und Not die monatlichen Kasinoschulden zu decken, oder – als Polizeibeamter. Nach gründlichem Erwägen aller dieser Aussichten füllte er endlich einen engbedruckten Fragebogen aus und sandte ihn an den Dezernenten für Polizeiangelegenheiten der Stadt London. Der gewünschte Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: Nach einigen Wochen finden wir Staines bereits in der kleidsamen blauen Uniform auf den Straßen der Metropole patrouillieren. Er war Schutzmann geworden, blieb es aber nicht lange. Seine Sprachkenntnisse – er beherrschte vier Sprachen von Grund auf, hatte genügend Vorkenntnisse in zwei weiteren und konnte sich in zwei andern gebrochen verständigen – machten seine Vorgesetzten auf ihn aufmerksam. Als er dann noch das Glück hatte, ein Attentat auf den Kriegsminister zu verhindern, war seine Laufbahn gesichert. Nach neun Jahren war er Inspektor bei der Kriminalabteilung geworden.
Wir lernen ihn kennen, als er mit Lord Thomas Weald in dessen eleganten Rolls Royce Brighton zurast. Der schuldtragende Teil an dieser eklatanten Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit war jedoch, wie wohl selbstverständlich ist, der Lord.
»Zum Schießen ist es«, kicherte er vor sich hin und schenkte dabei der Landstraße nur geringe Aufmerksamkeit. »Vor ein paar Jahren – es scheint mir, als wäre es erst gestern gewesen – hat man uns beide wegen nächtlicher Ruhestörung auf die Polizeiwache von Cambridge geschleppt, und heute« – er lachte auf –, »bist du selbst bei der ›Polente‹, Dicky!«
Sie waren während ihrer gemeinsamen Studienzeit gute Freunde geworden. Obwohl sie gleichaltrig waren, sah Tommy bedeutend jünger aus. Die ewig lächelnde Miene, das sorgenfreie Leben, das blühende Gesicht und seine unverwüstliche Laune ließen ihn noch heute als Jüngling erscheinen. Er war groß und breit, reichte Dick jedoch kaum bis an die Schultern. Wenn es so etwas gibt, was man einen »hübschen Mann« nennt, so verdiente Dick Staines unstreitig diese Bezeichnung. Seine Großherzigkeit und sein geradezu kindliches Gemüt, das er sich trotz seines Berufes verstanden hatte zu erhalten, machten ihn allgemein beliebt. Er war, obwohl es an Angriffen auf sein Herz nicht gemangelt hatte, bis heute ein unbekehrbarer Junggeselle geblieben.
Seit Jahren hatten die Freunde einander aus den Augen verloren. Tommy Weald war sofort nach Abschluß seiner Studien auf Großwildjagd gegangen und erst vor wenigen Tagen zurückgekehrt. Dick hatte ihn zufällig auf dem »Strand« getroffen.
»Ich glaube, ich beginne an Gehirnerweichung zu leiden, Tommy«, meinte er. »Ich fahre hier mit dir in der Weltgeschichte herum, während ich meine schönen Urlaubstage auf dem Landsitz meines Chefs verleben könnte. Da kommst du Unglückswurm und schleppst mich auf eine deiner wilden Eskapaden. Meine Wohnung in London habe ich während meiner Urlaubswochen aus Sparsamkeitsgründen vermietet. Wo soll ich denn eigentlich, wenn ich nach Brighton zurückkomme, in London wohnen, wie?«
»Warum dir Sorgen machen, Jünger der heiligen Hermandad«, erwiderte Tommy und musterte den Freund strengen Blickes. »Du konntest doch gar nicht auf den hirnverbrannten Gedanken kommen, mich allein fahren zu lassen, oder doch? Nun, wo wir uns nach langen Jahren einmal wiedersahen? Deine Einladung vom Chef gilt doch übrigens, wie du mir selbst erzählt hast, erst von nächster Woche ab, nicht wahr? Warum also dir schon jetzt darüber den Kopf zerbrechen? Ich habe dir so viel zu erzählen, daß dir die Zeit wie im Fluge vergehen wird. Du weißt doch, daß ich auf Löwenjagd war?«
»Warst du der Gejagte, oder waren es die Löwen?« fragte Dick sarkastisch.
»Wie du willst, geliebter Sherlock Holmes. Seit wann bist du übrigens leberleidend und hypochondrisch? Brighton soll für derartige Gemütserkrankungen sehr zu empfehlen sein. Deshalb fahre ich dich ja auch jetzt dorthin. Scherz beiseite, Dick: Ein Mädchen habe ich dort kennengelernt – so etwas gibt es überhaupt nicht wieder!«
Er schnalzte mit der Zunge, um seine Mitteilung zu unterstreichen.
»Na, na, Tommy, du Schürzenjäger. Mädchenjagd ist zuweilen gefährlicher als Großwild zu schießen, und viel leichter wirst du dabei der Gejagte. Wer ist denn diese männerherzenmordende Jungfrau von Brighton?«
Tommy musterte ihn vorwurfsvoll von der Seite.
»Das kommt hier gar nicht in Frage, Dick. Wer die Gewisse ist? Von Beruf scheint sie Krankenpflegerin zu sein: Ihren Namen kenne ich leider noch nicht. Und den ausfindig zu machen, habe ich dich, den angehenden Superdetektiv, mitgenommen. Wenn du es nicht herausbekommst, wer soll dann dazu imstande sein?«
»Mein hochachtbarer Beruf ist mir für solche Dinge, wie du sie im Sinne zu haben scheinst, zu schade!« wies Staines das Ansinnen mit gemacht strenger Miene zurück. »Deine Don-Juan-Streiche mußt du selbst ausbaden; ich bin mir zu gut dazu, mich deinetwegen in die Nesseln zu setzen.«
Sie erreichten, noch ehe sich der Lord auf eine passende Antwort besinnen konnte, ihr Fahrtziel, das Metropol-Hotel in Brighton. Gemeinsam schritten sie die Freitreppe hinauf und wollten eben in das Foyer eintreten, als aus dem Hotel ein elegant gekleideter Herr mittleren Alters trat. Einen Augenblick ruhten seine Augen überrascht auf Lord Weald, dann nickte er ihm lebhaft zu.
»Kennst du den Herrn?« wandte sich Tommy an seinen Freund und blickte dem Herrn nach. »Nein? Schade! Der Mann hat einen Humor, der eine Million wert ist. Wie er heißt? Ich glaube Walter Derrick. Er wohnt neben mir in London. Du weißt ja, das Eckhaus auf dem Lowndes Square. Mein Vater und sein Vater kannten sich sehr gut. Der alte Derrick muß ein Original gewesen sein, den Schilderungen nach genau das Gegenteil seines witzigen Sohnes Walter. Eine Type ist der, na, du wirst ihn ja kennenlernen.«
Dick hatte gelogen, als er vorgab, Derrick nicht zu kennen; er kannte ihn und auch den knallgelben Rolls Royce, den er zu fahren pflegte. Eine besonders hohe Meinung hatte er von Mr. Walter Derrick nicht, denn man flüsterte sich über ihn allerlei zu, was nicht zu seiner Beliebtheit beitragen konnte. Er sollte einen armen Verwandten, der dringend der Hilfe bedurfte, aus seinem Haus gewiesen und ihm mit der Polizei gedroht haben. In dieser Beziehung schien er seinem verstorbenen Vater zu ähneln, denn auch der alte Derrick hatte den Ruf eines unverbesserlichen Geizhalses genossen. Sogar der Sohn hatte darunter zu leiden gehabt, denn man erzählte sich, daß er nur deshalb nach Südafrika ausgewandert sei, weil er sich mit dem Vater wegen eines von ihm gekauften, aber unbezahlt gebliebenen Motorrades überworfen habe. Der alte Derrick hatte das Motorrad zu einer Prestigefrage gemacht, und so war Walter Derrick als verlorener Sohn wutschnaubend aus dem Haus und ins Ausland gezogen. Er mochte dort ein ziemlich entbehrungsreiches Leben geführt haben, hatte aber den goldenen Humor, den man ihm zuschrieb, dennoch nicht verloren. Nach dem Tod des Vaters war er als dessen Universalerbe nach Hause zurückgekehrt.
In wenigen Worten hatte Tommy dem Freund die Lebensgeschichte des Mannes geschildert und fügte nun abschließend die Bemerkung hinzu: »Ich kann es ihm nicht verdenken, wenn er sich jetzt sein Leben so angenehm wie möglich macht.«
Der herrliche Sommerabend verleitete die beiden Freunde zu einem Strandspaziergang. Obwohl Dick nur hin und wieder ein Wort einwarf, plauderte Tommy dennoch unverdrossen von diesem und jenem und hatte eben eine bildreiche Darstellung einer seiner Jagden begonnen, als er plötzlich Dick am Ärmel zupfte.
»Dort kommt sie!«
Dick blickte auf. Ihnen entgegen kam in der einfachen Tracht einer Krankenpflegerin ein Mädchen, dessen Schönheit, wie er mit einem einzigen Blick feststellen konnte, tatsächlich außergewöhnlich war. Ehe er sich von seiner Bewunderung erholt hatte, war das Mädchen schon an den beiden Freunden vorübergeschritten.
»Nun?« – unterbrach Tommy den Freund.
»Ohne Zweifel ist sie hübsch.« Es war Dick klar, daß dieses kühle Urteil der klassischen Schönheit der jungen Dame bei weitem nicht gerecht werden konnte.
»Stell dir vor, geliebter Polizist«, begann nun Tommy erneut seine Hymne, »daß sich eine derartige Schönheit als Krankenpflegerin vermietet. Ist das nicht entsetzlich? Im dumpfen, heißen Zimmer jede Laune und Grille eines alten, klapprigen Mannes aushalten zu müssen? Mein Gott, welch ein Dasein! Den ganzen Tag muß das arme Ding neben einem Kinderwagen – ich meine natürlich Krankenwagen – herlaufen und aufpassen, daß der arme Kranke nicht niest. Kannst du dir das vorstellen? Nicht wahr, nein?! Aber ist sie nicht eine wirkliche Perle?«
»Ja, darin kann ich dir zustimmen, Tommy. Wie heißt sie? Ach so, du weißt das nicht ... Oder hast du dich heute etwa schon bemüht, es zu erfahren?«
»Natürlich. Ich war ja überzeugt, daß auch du vor Neugierde brennen würdest, mehr von ihr zu wissen. Ich bin zwar auch erst seit ein paar Stunden da, aber ich habe doch meine Detektiveigenschaften spielen lassen und kann dir daher alles, was du wissen willst, mitteilen. Sie heißt Mary Dane! Mary – Dane –!« Er sprach den Namen aus, als genösse er jede Silbe. »Mary Dane? Klingt das nicht wie aus einem Tonfilm herausgeschnitten?«
»Wie hast du denn den Namen so schnell festgestellt?« erkundigte sich Dick überrascht.
»Indem ich den Stier ganz einfach bei den Hörnern packte«, gab Tommy zu. »Ich bin dort hingegangen, wo sie wohnt, und habe mich nach ihr erkundigt. Der alte Herr, der das Glück hat, den ganzen Tag in ihrer Gesellschaft sein zu dürfen, heißt Cornfort. Sein Dasein verbringt er in Badeorten, von denen er alle möglichen aufsucht. Einmal habe ich mit dem Mädchen sogar gesprochen: Ich wünschte ihr ›guten Morgen‹.« Er strahlte den Freund siegessicher an.
»Und was erwiderte sie auf deine Unverschämtheit?« fragte Dick prosaisch.
»Pfui, Dick! Warum eifersüchtig? Was sie sagte? Natürlich erwiderte sie holdselig lächelnd meinen Gruß. Ich war zwar im ersten Augenblick so platt, daß ich kein weiteres Wort hervorbringen konnte, aber fest bleibt doch die Tatsache bestehen, daß sie meinen Gruß erwiderte. Sie ist eine wirkliche Dame, das verriet mir schon ihre Ausdrucksweise, als sie meinen Gruß zurückgab. Die Worte kamen wie Schlagsahne aus ihrem Munde.«
Obwohl Staines über die bildhafte Schilderung Tommys lachen mußte, konnte er doch nicht umhin, dessen Begeisterung berechtigt zu finden. Sie bummelten noch ein paar Stunden hin und her, ohne sich selbst zuzugeben, daß sie es nur in der Hoffnung taten, der schönen Krankenpflegerin noch einmal zu begegnen. Als es dunkel wurde, mußten sie den ergebnislos bleibenden Spaziergang abbrechen und begaben sich ins Hotel zurück. Um sich von den Anstrengungen des langen Spaziergangs zu erholen, hatten sie sich gerade im Rauchzimmer bei Whisky und Soda niedergelassen, als auch Derrick hereintrat und sich auf ein kurzes Nicken Tommys an ihrem Tisch niederließ.
»'n Abend, meine Herren«, begrüßte er sie. »Wenn ich Lord Weald nicht sehe, ist mir immer, als fehle mir mein zweites Ich. Wir sind die reinen siamesischen Zwillinge; sogar unsere Häuser in London sind Zwillinge. Brighton ist nicht groß genug, uns zu trennen.« Er belachte seinen eigenen Witz und bestellte sich eine Erfrischung. Dann wandte er sich an Dick: »Nun, Herr Inspektor Staines, was hat Sie nach Brighton getrieben? Beruflich? Nein? Sie wundern sich wohl, daß ich Sie kenne, wie? Nun, ich habe Sie schon oft im Gerichtssaal gesehen, wo Sie als Zeuge auftraten. Ich bin ziemlich oft zu Verhandlungen gegangen, weil ich mich für kriminalistische Fragen lebhaft interessiere. Ich scheine diese Eigenschaft von meinem Vater geerbt zu haben. Meine Büchersammlung über Kriminaltechnik steht in ihrer Reichhaltigkeit in England wohl einzig da.«
Tommy schien die Zeit gekommen, Derrick über sein Freundschaftsverhältnis zu Staines aufzuklären.
»Dick und ich sind Studienfreunde, Mr. Derrick«, sagte er. »Sie sehen in ihm ein Schulbeispiel, wie tief ein Mensch sinken kann. Polizist zu werden! Ist das nicht schrecklich?«
Derrick schien, durchaus keine Lust zu haben, auf den scherzenden Ton einzugehen.
»Eigentlich merkwürdig«, richtete er seine Worte weiter an Dick, »daß wir uns heute abend hier kennenlernen. Vor wenigen Tagen erst fiel während einer Unterhaltung mit einem Freund auch Ihr Name. Wir unterhielten uns über den berühmten Mord von Slough, dessen Sie sich wohl kaum werden erinnern können, Mr. Staines. Ich hielt mich damals gerade in Südafrika auf, und Zeitungen erreichten mich nur in unregelmäßigen Zeitabständen. Der Mann, der den Kassierer der Textilgesellschaft von Slough am hellichten Tage auf offener Straße erschoß und beraubte, wurde, wie mein Freund behauptete, niemals ergriffen, während ich gegenteiliger Ansicht war. Ich glaubte, in der Zeitung gelesen zu haben, daß er verurteilt und hingerichtet worden ist. Der Fall liegt etwa zehn Jahre zurück.«
»Ja, am selben Tag, als ich zur Polizei kam, ereignete sich das Verbrechen«, gab Dick zurück. »Nein, Mr. Derrick, den Täter hat man noch nicht. Allerlei Spuren, ja; aber ihn selbst, nein.«
»Hatte man nicht auf dem Revolverlauf, mit dem der arme Kassierer niedergeschossen worden war, den Abdruck eines Daumens gefunden? Nicht wahr, so war es? Ich erinnere mich jetzt wieder an die Einzelheiten. Ich war mir nur nicht ganz klar, ob man den Täter ergriffen hatte oder nicht.«
»Das Schlußkapitel dieses brutalen Verbrechens ist noch lange nicht geschrieben«, meinte Dick.
»Das heißt also, daß ich meine Wette verloren habe«, stellte Derrick nachdenklich fest. »Ich hätte schwören mögen, daß ich im Recht war. Mag sein, ich habe diesen Fall mit einem andern verwechselt. Sie wundern sich, warum ich mich für derartige Fälle so interessiere? Nun, ich sagte Ihnen ja schon, daß ich dieses Interesse wohl von meinem Vater geerbt haben muß; er war ja, wie Sie vielleicht wissen werden, der Besitzer einer der komplettesten Fingerabdrucksammlungen der ganzen Welt. Er war nämlich sein ganzes Leben lang der Meinung, daß die Theorie, wonach es keine zwei sich völlig gleichenden Fingerabdrücke gäbe, falsch sei. Er stützte sich darauf, daß ja die Polizei nur die Abdrücke derjenigen Leute habe, die einmal mit ihr in unangenehme Berührung gekommen waren. Die Millionen anderen – und das ist die Mehrzahl –, die ihr Dasein verbringen und beenden, ohne jemals mit der Polizei in Konflikt gekommen zu sein, hätte man bei dem jetzt üblichen Verfahren überhaupt nicht erfassen können. Mein Vater bestach Fabrikwerkmeister, Geschäftsführer und auch Arbeiter, ihm die Fingerabdrücke ihrer Kollegen zu liefern, die er dann sorgfältig registrierte. Als er endlich durch den Tod seine Aufgabe unerfüllt lassen mußte, fiel die ganze Sammlung als Erbschaft mir zu.«
»Vielleicht war es sogar die Enttäuschung, die Berechtigung seiner Theorie nicht nachweisen zu können, die Ihren Vater so frühzeitig ins Grab gebracht hat?« meinte Dick.
»Ich weiß ja nicht einmal, ob er nicht doch erfolgreich war, Mr. Staines«, gab der Sohn zurück. »Vielleicht steckte doch ein Körnchen Wahrheit in seiner Auffassung, und es gibt tatsächlich vollkommen gleiche Abdrücke verschiedener Herkunft. Die Polizei würde jedenfalls kaum behaupten können, daß dem nicht so sei, denn sie hat ja nur einen minimalen Bruchteil der Fingerabdrücke aller Menschen im Besitz.«
»Nun, setzen Sie die Nachforschungen Ihres Vaters fort?« wollte Dick wissen.
»Ich werde mich schwer hüten«, lachte Derrick. »Ich habe andere Sorgen. Die ganze Sammlung, so wie ich sie fand, verbrannte ich. Die Polizei wollte sie ja nicht haben.«
Die Unterhaltung wandte sich den Jagdabenteuern Tommys zu, und aus dem Verlauf des Gesprächs schöpfte Staines die Gewißheit, daß Walter Derrick die Gegend um den Tanganjika-See sehr genau aus eigener Anschauung kennen müsse. Endlich erhob sich Derrick.
»Der Schlaf vor Mitternacht ist der gesündeste«, sagte er. »Ich bin gewohnt, früh ins Bett zu gehen. ›Zeitig ins Bett und zeitig heraus‹ – das ist mein Wahlspruch.« Er verabschiedete sich, und Tommy blickte ihm nach.
»Einen Humor hat der Mann, der nicht mit Gold aufzuwiegen ist«, meinte er. »Ich erzählte ihm vor einigen Tagen den Witz, der mir auf ...«
»Wenn du jetzt etwa beabsichtigen solltest, den Witz aufzuwärmen, den man dir auf der Fahrt nach Beira erzählt hat, dann wirst du mein Leben auf dem Gewissen haben«, unterbrach ihn Dick. »Noch einmal würde ich einen derartigen Kalauer nicht überstehen können.« Er erhob sich: »Gute Nacht, geliebter Lord, träume süß.«
Am nächsten Morgen blühte dem mutigen Dick das Glück, der jungen Krankenpflegerin einen kleinen Dienst leisten zu können. Der alte Krankenstuhlführer bemühte sich auf der Promenade vergebens, den schweren Stuhl mit dem Kranken über eine kleine Anhöhe hinaufzuschieben, und auch die schwachen Kräfte Miss Danes reichten dazu nicht aus. Den Muskeln Staines' war die Arbeit ein Kinderspiel, und nach wenigen Augenblicken befand sich mit seiner Hilfe der Krankenstuhl auf der Höhe des kleinen Hügels. Miss Dane lächelte ihm dankbar zu, und Dick bemerkte nicht, wie er bei seiner hastigen Verbeugung einen goldenen Füllbleistift, ein Geschenk Lord Tommys, verlor. Die Kappe des Stiftes bestand aus siegellackrotem Kautschuk, wodurch das Geschenk eine individuelle Note bekam.
Dick setzte seinen Spaziergang fort. Kurz vor ein Uhr saß er auf dem Promenadengeländer und ließ das lebhafte Treiben auf dem Strandweg an sich vorüberziehen. Plötzlich fesselte eine Szene seine Aufmerksamkeit, und er sprang blitzschnell auf.
Die Straße entlang brauste ein knallgelber Rolls Royce und wollte eben um die Ecke biegen, als vor dem Wagen plötzlich der von Miss Dane und dem Fahrer begleitete Krankenfahrstuhl auftauchte, in dem Mr. Cornfort weltvergessen schlummerte. Im letzten Augenblick noch gelang es dem Insassen des Wagens, Mr. Derrick, zu bremsen, aber von der Eigengeschwindigkeit des Fahrzeugs getrieben, stellte sich das schwere Auto quer über die Straße. Dick hatte den drohenden Zusammenstoß vorausgesehen und war an die Stelle geeilt, wo er sich nun dem erschrockenen Mädchen widmete. Im Nu hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt, und während ein Verkehrspolizist dem schuldigen Fahrer eine Standpredigt hielt, sprach Staines die glücklich der Gefahr entronnene Miss Dane an.
»Sie sind sehr leichtsinnig, meine Dame«, sagte er. »Wenn es jetzt nach Recht und Gesetz zugegangen wäre, müßten Sie eigentlich in den Gefilden der Seligen weilen.«
Miss Dane lächelte dem Ritter von heute morgen, den sie sofort wiedererkannt zu haben schien, verschmitzt zu.
»War das nicht zum Schießen?« fragte sie.
»Sie scheinen einen stark entwickelten Sinn für Humor zu haben, wenn Sie der Gefahr, der Sie eben mit Gottes und der Bremse Hilfe entronnen sind, etwas Lachhaftes abzugewinnen vermögen.«
Das Mädchen schien nicht gehört zu haben, denn sie antwortete nicht. Aufmerksam starrte sie auf den Schuldigen, der sich eben der Fragen des Polizisten zu erwehren versuchte.
»Ist das nicht Mr. Derrick?« wandte sie sich fragend an Dick. »Natürlich, ich erkenne ihn; seinen gelben Wagen habe ich schon oft vor dem Metropol stehen sehen. Wohnen Sie auch dort?«
»Ja, aber nur als Gast eines Freundes«, erwiderte er. »Aus eigenen Mitteln vermag ich leider nicht, mir ein derartig teures Hotel zu leisten.«
»Wie und warum Sie dort wohnen, ist ja ganz gleich: Die Hauptsache ist, daß Sie etwas vom Leben haben«, meinte das Mädchen. Sie verabschiedete sich freundlich lächelnd von Dick und setzte mit dem Krankenfahrstuhl den unterbrochenen Weg fort.