Edgar Wallace
Der Derbysieger
Edgar Wallace

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21

Östlich von Reading liegt ein uninteressanter, eintöniger Landstrich, der an die Themse grenzt. Es sind fast ausschließlich niedrig liegende Wiesen, die stets überschwemmt werden, wenn der Fluß aus den Ufern tritt. Seit langer Zeit hatte das Hausboot keine Fahrt mehr auf dem Strom unternommen, weil man allgemein der Ansicht war, daß ein derartiger Ausflug wahrscheinlich seinen Untergang bedeuten würde.

Janet Symonds wußte nicht, warum das Auto, in dem sie fuhr, in der Nähe von Reading von der Straße abbog und über einen holperigen Feldweg dem Ufer zusteuerte. Es war ihr klar, daß sie eine Gefangene war. Buncher hatte sie das fühlen lassen, als er bei einer Tankstelle halten mußte.

»Sie haben vor allem den Mund zu halten und ruhig zu sein«, sagte er drohend. »Ich habe den Auftrag bekommen, Sie zu Mr. Milton Sands zu bringen. Wenn Sie das nicht glauben wollen, dann lassen Sie es bleiben. Aber ich dulde unter keinen Umständen, daß Sie mir Scherereien machen.«

Als der Wagen am Ufer hielt, zog er sie aus dem Auto. Sie trat einen Schritt zurück, als sie das Hausboot sah, aber Bud Kitson und seine Frau waren sofort zur Stelle und redeten auf sie ein.

Sie führten Janet in den großen, geräumigen Salon, der hellerleuchtet und schön möbliert war.

»Wo ist denn Mr. Sands?« fragte sie.

Sie klammerte sich noch immer an diese Illusion.

»Sie müssen noch etwas warten«, entgegnete Kitson unfreundlich. »Nicht nur Sie wollen Mr. Sands sprechen. Ich will ihn mir auch kaufen. Er ist daran schuld, daß ich ins Kittchen gekommen bin. Drei Tage habe ich im Portland-Gefängnis gesessen, bis man herausfand, daß Mr. Sands mir nur einen Streich gespielt hatte. Glauben Sie mir, ich habe ebenso dringend den Wunsch, ihn zu sehen, wie Sie. Aber das hat noch Zeit.«

»Wer hat mich denn hierhergebracht?« fragte sie schwach.

»Sie sind aus einem guten Grund hierhergekommen. Wenn Sie vernünftig sind, können Sie das Boot sehr schnell wieder verlassen«, sagte die Frau. »Es gehört einem Herrn, der sich in Sie verliebt hat. Warum er sich soviel Umstände mit einer gewöhnlichen Stenotypistin macht, verstehe ich allerdings nicht«, fügte sie geringschätzig hinzu. »Es wäre besser, wenn Sie jetzt in Ihre Kabine gingen.«

Sie begleitete sie in einen Raum, der halb so groß war wie der Salon. Auch dieses Zimmer war neu ausgestattet und für ihren Empfang vorbereitet.

Die Tür wurde hinter ihr verschlossen. Das einzige Fenster der Kabine lag nach dem Ufer zu, und sie sah sofort, daß ein dunkler Streifen Wasser sie vom Lande trennte. Sie hätte wohl die Aufmerksamkeit der Leute erregen können, die zufällig am Ufer vorbeigingen, aber sie wußte instinktiv, daß ein solches Verhalten gefährlich sein würde.

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als geduldig und ruhig die Entwicklung der Dinge abzuwarten. Erst gegen Mitternacht hörte sie, daß ein Auto sich dem Ufer näherte. Als der Wagen hielt, sprachen mehrere Männer leise miteinander. Sie sah einen großen Herrn über die Landungsbrücke an Bord gehen. Kurz darauf klopfte es an ihre Tür, und eine Frau, fragte, ob sie wach sei. Janet hatte sich nicht ausgezogen und folgte der Frau, die hier anscheinend als Dienstmädchen angestellt war, nach dem großen Salon.

Sie erkannte den Mann, der am Ende des langen Tisches stand, obwohl sie ihn bisher nur einmal gesehen hatte. Sir George Frodmere konnte man auch nicht leicht verkennen. Er verneigte sich vor ihr, und auf seinen Wink verließen die beiden anderen Herren, die zugegen waren, den Raum.

»Warum haben Sie mich hierhergebracht?« fragte sie ruhig und gefaßt.

Er sah sie nachdenklich an. Sie war tatsächlich schöner, als er erwartet hatte.

»Meine verehrte junge Dame«, begann er liebenswürdig, »ich bedaure unendlich, daß ich Sie hierherbringen mußte. Aber Sie sind jung und vielleicht romantisch veranlagt, und so hoffe ich, daß Sie meine Lage begreifen werden. Ich hoffe sogar, daß Sie die nötige Sympathie für mich haben, um mir zu helfen.«

Sie schwieg. Es hatte ja keinen Zweck, seine Erklärung zu unterbrechen. Und sie mußte vor allem erfahren, was er beabsichtigte.

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« sagte er verbindlich.

»Nein, danke, ich möchte lieber stehen.«

»Dann muß ich auch stehenbleiben«, entgegnete er lächelnd. »Nun, das ist ja auch nicht so wichtig. Wahrscheinlich wissen Sie, wer ich bin?«

»Ja.«

»Und Sie sind sicher auch über meine Familie orientiert?«

Er schaute sie fragend an, aber sie schüttelte den Kopf.

»Außer Ihrem Namen weiß ich nichts von Ihnen, Sir George.«

»Dann wissen Sie also nicht, daß ich der Erbe eines großen Vermögens bin, und zwar einer halben Million Pfund. An die Erbschaft ist aber die Bedingung geknüpft, daß ich bis zu einem gewissen Alter verheiratet sein muß. Bis jetzt habe ich es nicht für nötig gefunden, mich mit einer Frau zu belasten. Das klingt sehr unhöflich, aber Sie werden wahrscheinlich verstehen, was ich meine.«

Sie nickte. Sie hatte genug von Sir Georges Privatleben gehört, um die Bedeutung seiner Worte zu erfassen.

»Übermorgen werde ich nun achtunddreißig Jahre alt, und bis dahin muß ich verheiratet sein. Erst jetzt ist mir zum Bewußtsein gekommen, in welcher kritischen Lage ich mich befinde. Ich bin nicht im mindesten darauf vorbereitet gewesen, denn erst gestern haben mich meine Rechtsanwälte wieder an die Notwendigkeit erinnert, daß ich mich sofort verheiraten muß. Deshalb bin ich gezwungen, schnell eine Wahl zu treffen. Aber ich hoffe, daß sie glücklich ist, denn sie ist auf Sie gefallen.«

»Mich wollen Sie heiraten?«

»Ja. Ich weiß, daß Sie sehr hart zu kämpfen hatten . . . Und ich schätze und verehre Sie ganz besonders. Sie besitzen alle Eigenschaften, die mich glücklich machen könnten.«

Trotz der sonderbaren Situation mußte sie lachen.

»Aber das ist doch einfach unmöglich, Sir George! Ich kann Sie doch nicht so ohne weiteres heiraten.«

»Ich glaube, daß Sie die Möglichkeiten unterschätzen, die sich Ihnen durch meine Wahl bieten. Ich brauche eine Frau, die ich sofort nach der Trauung wieder verlassen kann.«

Er schaute sie durchdringend an, aber seine Worte schienen keinen Eindruck auf sie zu machen.

»Ich sage Ihnen, ich brauche eine Frau, von der ich mich direkt nach der Trauung wieder trennen kann«, wiederholte er mit besonderem Nachdruck. »Ich bin bereit, Ihnen als Hochzeitsgeschenk die Summe von hunderttausend Pfund zu überreichen.«

»Aber es gibt doch Hunderte von jungen Mädchen, die nur zu gern Ihren Vorschlag annehmen würden, Sir George«, entgegnete sie bestürzt und verwundert.

Er sah, daß sie errötete, und wußte, daß sie jetzt an Milton Sands dachte.

»Ja, es gibt Hunderte von jungen Mädchen«, wiederholte er, »aber es ist keine unter ihnen, die mir zusagt, keine, der ich trauen könnte. In Ihnen habe ich die Frau mit all den Eigenschaften gefunden, die ich schätze. Und ich wiederhole Ihnen in aller Form, daß Sie mich nach der Trauung sofort wieder verlassen können. Vorher überreiche ich Ihnen einen Scheck über hunderttausend Pfund.«

»Sie scheinen zu vergessen, Sir George, daß ich seit einigen Monaten mit Mr. Sands zusammenarbeite.«

»Ich wüßte nicht, was das zu sagen hätte.«

»Nun, dann will ich es Ihnen klarmachen. Mr. Sands hat mich in der letzten Zeit über vieles aufgeklärt, damit ich ihm beruflich helfen kann, und ich habe viele Dinge erfahren, von denen ich früher keine Ahnung hatte. Ich halte Ihr ganzes Benehmen mir gegenüber nur für ein Betrugsmanöver. Was Sie mir da eben erzählten, unterscheidet sich nicht wesentlich von den Geschichten, die andere berüchtigte Betrüger in solchen Fällen vorbringen.«

Der Baronet wurde dunkelrot vor Zorn, denn ihre Worte hatten ihn schwer getroffen.

»Wollen Sie mir denn nicht glauben, Miss Symonds?«

»Offen gestanden, nein.«

»Nun, Sie werden mir schon glauben müssen. Innerhalb zweier Tage heiraten Sie mich. Ich habe mir schon eine besondere Genehmigung besorgt.«

»Trotz alledem glaube ich es nicht«, entgegnete sie fest.

»Sie verlassen sich darauf, daß Milton Sands Ihnen zu Hilfe kommt und Sie aus dieser Situation befreit«, erwiderte er mit einem boshaften Lächeln. »An Ihrer Stelle würde ich mich nicht so sehr auf ihn verlassen. Sie können aber mir und auch Ihren Freunden einen guten Dienst erweisen, wenn Sie auf meinen Vorschlag eingehen. Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß Ihre Heirat mit mir auch Mr. Sands einen großen pekuniären Vorteil bringen wird.«

»Ich möchte mich nicht weiter mit Ihnen über diese Sache unterhalten. Sie können eine Frau doch nicht gegen ihren Willen heiraten!«

Mit diesen Worten wandte sie sich um und ging in ihre Kabine zurück.

Sir George machte keine Anstrengungen mehr, mit ihr zu sprechen, aber eine Stunde später klopfte Mrs. Kitson an ihre Tür und brachte ihr ein Tablett mit Speisen.

»Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Etwas müssen Sie ja schließlich essen.«

Janet hatte bis dahin alles abgelehnt, aber jetzt fühlte sie großen Hunger. Die Mahlzeit war ausgezeichnet zubereitet. Es stand auch eine kleine Porzellankanne mit Schokolade dabei, und gerade starke Schokolade eignet sich hervorragend dazu, den Geschmack von Morphiumpräparaten zu überdecken.

Janet fiel in einen schweren, traumlosen Schlaf, hatte aber trotzdem ein quälendes Gefühl. Schließlich tanzte ein großes, helles Licht vor ihren Augen. Sie versuchte, es mit der Hand abzublenden. Dabei kam ihr plötzlich zum Bewußtsein, daß sie etwas am Finger hatte, das früher nicht dort gewesen war. Langsam kam sie zu sich und starrte auf den schmalen, goldenen Ring an dem vierten Finger ihrer rechten Hand. Sie sah sich verwundert und verstört um und entdeckte, daß sie sich zusammen mit mehreren Menschen im Salon befand. Sir George war zugegen und schaute sie merkwürdig an. Neben ihm standen Kitson und seine Frau, und außer ihnen bemerkte sie noch einen verhältnismäßig schlanken Mann von mittlerer Größe. Er hatte weiße Haare und trug die Kleidung eines Geistlichen.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte sie atemlos vor Entsetzen.

»Fühlen Sie sich nicht wohl, Lady Frodmere?« fragte der Mann im schwarzen Talar.

»Lady Frodmere?« wiederholte sie dumpf.

»Sie sind jetzt Lady Frodmere, meine Frau«, erklärte Sir George.

»Aber ich habe Sie doch nicht geheiratet!«

Der Geistliche lächelte.

»Ich sehe, daß Sie noch etwas verwirrt sind, Mylady. Ich habe Sie selbst mit George Frodmere getraut, und Sie waren bei vollem Bewußtsein.«

»Aber das ist doch unmöglich!« rief sie. »Sie konnten mich doch nicht trauen. Ich habe nicht geantwortet!«

Der Geistliche schüttelte den Kopf.

»Sie haben alle Fragen richtig beantwortet, die ich an Sie stellte. Für gewöhnlich nehme ich ja Trauungen nicht gerade um Mitternacht vor, aber ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß Sie jetzt Lady Frodmere sind.«

Sie sank in den Stuhl zurück und zitterte am ganzen Körper. Es war ein entsetzlicher Gedanke. Was hatten die Leute nur mit ihr gemacht? Ihre Vernunft sagte ihr, daß etwas nicht stimmen konnte. Aber der Geistliche stand doch vor ihr, und auf dem Tisch lag ein Dokument – eine Trauungsurkunde! Sie sprang auf und schaute sie an. Schwarz auf weiß stand ihre eigene Unterschrift darunter. Das war zuviel für sie. Mit einem Schrei floh sie den Gang entlang in ihre Kabine, schlug die Tür hinter sich zu und türmte alle Möbelstücke dagegen auf, die sie in dem Raum finden konnte.

»Also, die Sache wäre erledigt«, sagte Sir George im Salon.

»Kann ich die Nacht über hier an Bord bleiben?« fragte der Geistliche.

»Ich würde Ihnen den guten Rat geben, fortzugehen, Pentridge«, erwiderte Sir George. »Ihre Anwesenheit könnte auffallen.«

Der angebliche Geistliche zog seinen Talar aus und legte den weißen Kragen ab.

»Ich kann dieses Zeug nicht leiden. Es hat furchtbar eingeschnitten. Nun, wie habe ich die Trauung vollzogen?« fragte er lachend.

»Großartig haben Sie Ihre Sache gemacht«, entgegnete der Baronet und klopfte ihm befriedigt auf die Schulter. »An Ihnen ist direkt ein Schauspieler verlorengegangen, Penty. Haben Sie das Geld dabei?«

»Ja, ich habe es bei mir. Hier sind zweitausend Pfund. Das ist allerdings eine ziemlich hohe Anleihe für jemand, der erledigt ist.«

»Aber ich leihe es doch nur für ein paar Tage von Ihnen, Mr. Pentridge«, sagte Sir George lächelnd, als er die Scheine nahm und sie in seine Brieftasche legte. »Wir werden ja bald beweisen können, daß Sands gelogen hat, und dann schwimme ich in Geld.«

»Hoffentlich gelingt Ihnen das. Und wenn Sie keinen Erfolg haben sollten –«

»In diesem Fall werde ich durch meine Heirat ein Vermögen in die Hand bekommen. Für den Dienst, den Sie mir erwiesen haben, sollen Sie einen reichlichen Anteil erhalten. Übrigens sind die Papiere wiedergefunden worden, die Sie an Soltescu verkauft haben.«

Pentridge sah ihn schnell an.

»Hat er die Sache aufgegeben?«

»Wen meinen Sie denn?« fragte Sir George überrascht.

»Natürlich Milton Sands. War es Ihnen denn nicht von Anfang an klar, daß er sich die Papiere angeeignet hatte?«

»Milton Sands!« wiederholte Sir George ungläubig.

»Ja!« Bud Kitson schlug mit der Faust auf den Tisch. »Das stimmt. Kein anderer konnte sie genommen haben. Mir ist jetzt alles klar. Er fuhr in demselben Zug wie wir nach Paris. In Monte Carlo hatte er sein ganzes Geld verspielt und mußte nun irgend etwas beginnen. Toady Wilton sah doch, wie er das Kasino verließ, und sprach mit ihm. Dann kommt er nach London zurück und hat plötzlich genügend Geld, um ein Detektivbüro in der Regent Street zu eröffnen –«

»Aber dann möchte ich nur wissen, warum er überhaupt ein Detektivbüro aufgemacht hat!« sagte Sir George.

»Das war doch die einzige Möglichkeit, sich die Belohnung für die Wiederbeschaffung der Papiere zu sichern, ohne Argwohn und Verdacht zu erregen. Die Sache ist vollkommen klar und durchsichtig!«

»Also so verhält es sich«, meinte Sir George und nickte. »Dann hätte ich ja eventuell noch eine Chance, mich mit Milton Sands zu vergleichen. Aber nach alledem wird es wohl sehr schwer sein.«

»Ich habe auch noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen!« rief Kitson wild. »Ich lasse mich nicht umsonst nach Portland ins Gefängnis schleppen!«

Sir George sah den wütenden Mann nachdenklich von der Seite an. Wahrscheinlich konnte er ihn noch bei der Durchführung seiner Pläne brauchen, bevor er ihn ganz fallenließ.

Er verabschiedete sich von Pentridge, der zur Stadt zurückkehrte.

»Ist das Fenster gesichert? Sie kann doch hoffentlich nicht durch das Kabinenfenster entkommen?«

»Nein, das ist unmöglich«, entgegnete Bud. »Ich habe Eisenstangen daran befestigt.«

»Gut«, erwiderte Sir George befriedigt.


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