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Der Tag des Derbys kam, und die Rennbahn war sehr stark besucht. Überall sah man die großen, farbenfreudigen Plakate der Buchmacher, die in lebhaftem Gegensatz zu dem grünen Rasen und der dunklen Volksmenge standen. Ein unheimliches Gedränge herrschte auf den Sattelplätzen und auf den Tribünen. Jeder Platz war besetzt.
Eric Stanton hatte eine Loge für sich und war von fröhlichen Menschen umgeben. Neben ihm saßen Mary President und ihr Großvater, und auch Milton Sands und Janet Symonds waren in der Nähe. Mary schaute auf die große Menschenmenge und wandte sich dann an Eric.
»Ich weiß nicht, ich bin so unruhig geworden. Glaubst du wirklich, daß Donavan das Rennen macht?« fragte sie.
Er nickte.
»Ich persönlich bin davon überzeugt. Milton Sands ist allerdings anderer Ansicht.« Er drehte sich zu ihm um. »Es ist doch richtig, was ich eben sagte?«
Milton schüttelte den Kopf.
»Nein, das stimmt nicht. Ich sagte nicht, daß Donavan nicht gewinnen, sondern daß er wahrscheinlich heute geschlagen würde.«
»Diese feinen Unterschiede kann ich nicht verstehen. Das ist mir zu hoch. Die Detektive drücken sich doch wirklich zu vorsichtig und geheimnisvoll aus.«
Milton Sands hatte nur halb zugehört. Er sah über die Menge weg und erkannte Sir George Frodmere und seine Freunde unten auf der Rennbahn. Sie standen in der Nähe auf einem freien Platz und sprachen anscheinend ernst miteinander. Soltescu ging gerade auf sie zu. Er sah in dem glänzenden Zylinder mit seiner großen Zigarre stattlich aus. Milton Sands überlegte sich, wieviel Geld der Mann wohl verlieren würde, wenn das Rennen nicht so verlief, wie er erwartete.
Ähnliche Gedanken kamen auch Sir George Frodmere. Er unterhielt sich mit Wilton über dasselbe Thema.
»Ich weiß nicht, wie es heute noch werden soll, Toady«, sagte er nervös. »Aber ich habe ein unangenehmes Gefühl, daß die Sache nicht glatt geht.«
»Die Buchmacher denken aber anders darüber«, entgegnete Toady gutgelaunt. »Sie nehmen Wetten fünf zu zwei auf Portonius. Und es ist schwer, selbst große Summen zu diesen Bedingungen unterzubringen.«
»Wenn ich dieses Rennen verliere«, sagte Sir George nachdenklich, »dann verlieren Sie Ihr Heim, Toady.«
»Wie soll ich das verstehen?« fragte Wilton erschreckt.
»Genauso, wie ich es sage. Wenn ich verliere, werde ich mich verheiraten.«
»Wie kommen Sie denn auf diese Idee?«
»Eine äußerst tüchtige Geschäftsfreundin hat mich darauf gebracht«, entgegnete er ausweichend.
»Haben Sie der Dame denn schon einen Antrag gemacht?« fragte Toady neugierig.
»Dazu ist keine Zeit«, erklärte Sir George kurz. »Leider hat sie andere Ansichten darüber und scheint ihre Neigung einem anderen zuzuwenden, so daß sie wahrscheinlich nicht so leicht umzustimmen sein wird. Ich habe Nachforschungen angestellt . . . Es wird deshalb notwendig sein, andere Methoden anzuwenden. Aber Sie werden verstehen, daß ich zu diesem Schritt gezwungen bin, wenn unser Plan mißlingt.«
»Ich weiß gar nicht, wie Sie dazu kommen, so etwas zu sagen. Es wird nicht schiefgehen«, erklärte Toady aufgeregt. »Was ist denn los? Ist dem Pferd etwas zugestoßen?«
»Nein, das ist in bester Form, und ich bin eigentlich fest davon überzeugt, daß es das Rennen macht. Aber ich denke an andere schlimme Möglichkeiten.«
»Sie wissen doch bestimmt, daß der wirkliche Portonius nach Belgien abtransportiert worden ist?« fragte Toady plötzlich.
»Warum fragen Sie danach?« erwiderte Sir George unangenehm berührt. »Ich habe noch nie daran gezweifelt.«
»Es liegt ja auch gar kein Grund dazu vor. Ich dachte nur so«, entgegnete Toady lahm.
»Dann behalten Sie so dumme Fragen lieber für sich«, sagte der Baronet ärgerlich. »Ich habe schon genug Sorgen ohne Ihr Geschwätz.«
Er blickte düster vor sich hin. Wenn der Schwindel mit Portonius herauskam, würde man ihn aus dem Rennverband ausschließen, und das würde seinen Ruin bedeuten. Er suchte den Gedanken loszuwerden, aber es gelang ihm nicht. Unruhig ging er zur Waage und schlenderte von dort zum Start.
»Sie kommen!« hörte er einige Leute rufen.
Ein großes Stimmengewirr erhob sich, als das Feld in Einzelreihe vorüberritt. Die Farben der Jockeys waren weithin zu sehen.
Die Erregung der Menge stieg, als die Pferde vorbeidefiliert waren. Am Start gab es noch einen längeren Aufenthalt, und der Starter hatte eine schwere Arbeit. Portonius fiel besonders auf wegen seiner hellen Farbe. Er hatte einen Platz an der Außenseite und war ziemlich ruhig. Donavan dagegen trippelte nervös hin und her, als ob sich die Spannung und Erwartung der Menge auf ihn übertragen hätte.
Endlich schoß das weiße Band in die Höhe, und das Feld stürzte vorwärts.
Das Geschrei der Menge war ohrenbetäubend, und Mary President zuckte zusammen. Ihr Herz schlug schneller, ihre Hände zitterten, und sie wurde bleich. Eric war aufgestanden, und Milton war merkwürdigerweise verschwunden. Sie wunderte sich einen Augenblick darüber, daß er diesem bedeutenden Rennen nicht zusehen wollte. Aber Miltons Interesse konzentrierte sich jetzt auf andere Dinge.
Das Feld raste geschlossen den Hügel hinauf. Das war die erste Kraftprobe, die die Derbypferde zu bestehen hatten.
Samborino hatte sich von der Masse gelöst und war zwei Längen vor den übrigen. Hinter ihm kamen Mangla, Texter und Portonius. Das graue Pferd lag ruhig auf der Außenseite. Dicht hinter ihm war Donavan, der mühelos aufholte.
»Donavan macht sich gut«, sagte John President, als er das Glas an die Augen setzte. Er folgte jeder Bewegung seines Pferdes.
Das Feld hatte jetzt eine lange, gerade Strecke vor sich, bevor die gefürchtete Senkung der Rennbahn kam. Auf dem abschüssigen Gelände änderte sich dann die Stellung der einzelnen Pferde schnell. Mangla fiel zurück – sie hatte das Rennen schon verloren. Texter gelang es, Samborino einzuholen. Aber als das Pferd nach der Kurve wieder in die Gerade einschwenkte, war auch Samborino am Ende seiner Kraft. Texter übernahm die Führung vor Portonius und Donavan, die dicht nebeneinander lagen.
Zwischen diesen dreien mußte sich das Rennen entscheiden.
»Es wird einen harten Endspurt geben«, meinte Eric.
Portonius gelang es aufzuholen. Er war jetzt in gleicher Höhe mit Texter. Langsam schob sich auch Donavan an der Außenseite vor. Die drei Pferde rasten Kopf an Kopf über die Bahn. Sie waren jetzt dem Ziel schon so nahe, daß der Endspurt begann. Die Jockeys holten mit größter Anstrengung das Letzte aus ihren Pferden heraus. Bis jetzt hatte noch keiner die Peitsche gebraucht. Der Lärm der Menge wuchs, und es konnte kaum noch jemand sein eigenes Wort verstehen. Und doch erhob sich ein lauter Schrei, als Texter unsicher wurde und zurückblieb. Nun konnte die Entscheidung nur noch zwischen Donavan und dem grauen Pferd fallen, und diese beiden lieferten sich einen erbitterten Endkampf.
»Keine Peitsche«, sagte John President, und seine Augen glänzten vor Erregung. »Donavan muß frei auslaufen!«
Es war, als ob es der Jockey gehört hätte, so genau befolgte er die Anweisung.
Aber Portonius bekam nun die Peitsche. Zweimal sauste sie nieder, und er schoß vor.
»Jetzt!« rief John President.
Wieder schien der Jockey zu gehorchen. Die Peitsche hob sich, fiel aber nur einmal.
Das Pferd raste vorwärts und hatte im Nu den Verlust aufgeholt. Nur noch einige Meter trennten sie vom Ziel, und bevor noch einer der Jockeys die Peitsche aufs neue benutzen konnte, flogen sie am Pfosten vorüber.
»Totes Rennen!« sagte Eric Stanton, weiß vor Erregung.
Einen Augenblick herrschte absolute Ruhe, dann wurde langsam eine Nummer bei dem Sitz des Unparteiischen hochgezogen.
Portonius hatte das Rennen um eine Kopflänge gewonnen!
Eric wandte sich schnell Mr. President zu. Die Züge des alten Mannes waren bewegungslos, aber er schien in den wenigen Augenblicken stark gealtert zu sein. Jede Linie seines sonst so gesunden Gesichts hatte sich vertieft.
In dem Augenblick kam Milton Sands wieder in die Loge und nahm Mr. President am Arm.
»Ich muß Sie eine Sekunde sprechen.«
Seine Worte hatten einen wunderbar belebenden Einfluß auf den alten Herrn, und als Mary zu ihrem Großvater trat und ihre Hand auf seinen Arm legte, um ihn zu trösten, sah sie ein Lächeln auf seinen Zügen.
»Ich bin so traurig«, sagte sie leise.
»Du hast gar keinen Grund dazu, Liebling«, sagte er und klopfte sie auf die Wange. »Du wirst noch sehr merkwürdige Dinge erleben.«
Die Menge staute sich bei dem Ausgang, wo die Pferde auf ihrem Weg zur Waage vorüberkommen mußten, und die Polizei hatte alle Mühe, die Menschen zurückzuhalten. Sir George führte Portonius und wurde von der Menge bejubelt.
Die Leute besprachen erregt das Ereignis, freudig oder traurig gestimmt, je nachdem sie gewettet hatten. Die Nachricht wurde sofort in die weite Welt gemeldet, und die Reporter eilten zu den Telefonen.
Portonius hatte das Derby gewonnen!
Der Jockey war auf der Waage unter Aufsicht des Vorstandes, und der Beamte wollte gerade das Rennen für gültig erklären, als Milton Sands sich plötzlich in den Raum drängte und dem ersten Vorsitzenden ein Blatt Papier überreichte. Der Mann hob die Hand, las es und sah dann schnell zu dem Beamten an der Waage hinüber.
»Erkennen Sie das Rennen noch nicht an«, sagte er und las dann laut vor:
»Ich protestiere gegen Portonius, weil er in Wirklichkeit der vier Jahre alte El Rey ist, der kürzlich von Brasilien importiert wurde.«
Diese Nachricht wirkte wie eine Bombe auf die Anwesenden, und auch draußen rief sie bald größte Erregung hervor.
»Protest! Protest!«
Ein paar Minuten später ging eine Tafel mit der gleichen Inschrift hoch.
Alles schrie wild durcheinander. Was mochte wohl der Grund hierfür sein? Toady Wilton stand bleich und aufgeregt mitten in der Menge. Man wußte, daß er der Vertraute von Sir George war, und alle bestürmten ihn mit Fragen. Aber er schüttelte nur abweisend den Kopf.
»Ich habe keine Behinderung gesehen«, sagte Lord Chanderson verwundert zu Eric Stanton. »Es war ein faires Rennen von Anfang bis zu Ende. Ich verstehe nicht, warum Protest eingelegt worden ist.«
»Ich kann es ebensowenig begreifen wie Sie, aber es muß doch ein schwerwiegender Grund vorliegen. Mr. President wäre doch sicher der letzte, der ohne Ursache einen solchen Schritt tun würde.«
Sir George Frodmere sah zu Milton hinüber, der eine so schwere Anklage gegen ihn erhoben hatte. Äußerlich trat er vollkommen ruhig und sicher auf.
»Das müssen Sie aber erst beweisen. Sie können sich darauf verlassen, daß ich eine Schadenersatzklage gegen Sie erheben werde.«
Ein Beamter des Rennklubs mischte sich ein.
»Sir George, ich habe in der Zwischenzeit durch den vereidigten Tierarzt Ihr Pferd oberflächlich untersuchen lassen. Allem Anschein nach ist das Tier vier Jahre alt.«
»Auch das ist noch kein Beweis«, entgegnete Sir George gelassen. »Es genügt nicht, daß ich unter Verdacht stehe – der Verdacht muß vor allem bewiesen werden. Und welchen Verdacht haben Sie denn? Mr. Sands scheint im Auftrag von Mr. President zu handeln. Ein schönes Paar – der eine ein früherer Zuchthäusler, der andere ein hergelaufener Abenteurer!«
»Ich habe alle Beweise in der Hand«, erklärte Milton, auf den die Worte des Baronets nicht den geringsten Eindruck gemacht hatten. »Erstens habe ich das Zeugnis des Zahlmeisters, auf dessen Schiff El Rey nach England gebracht wurde. Er wird unter Eid aussagen, daß der angebliche Portonius dasselbe Pferd ist, das er an Bord hatte, und daß Sie ihm zweihundert Pfund wöchentlich geboten haben, wenn er ins Ausland ginge, bis das Rennen vorüber wäre. Mr. Delane war tatsächlich auf der Reise nach Bukarest, als ich mit ihm zusammentraf und ihn überredete, seinen Entschluß zu ändern. Er hat daraufhin das Geld, das er von Ihnen bekam, auf einer Bank deponiert.«
»Der Vorstand des Rennklubs wird sich kaum mit den Aussagen eines Zahlmeisters zufriedengeben können«, entgegnete Sir George. Er kämpfte verzweifelt, um Zeit zu gewinnen. Wenn es ihm gelang, den Protest im Augenblick zu widerlegen, kam er vielleicht doch noch durch!
»Wenn dies nicht Portonius ist, dann sagen Sie mir doch, wo das wirkliche Pferd steckt.«
»Das ist auch meine Absicht«, erklärte Milton.
Er wechselte einige Worte mit dem Vorsitzenden des Rennklubs und führte dann die Beteiligten nach draußen. Ein anderes Pferd hatte inzwischen die Stelle des Derbysiegers eingenommen. Es war jung und in bester Verfassung.
»Hier sehen Sie den wirklichen Portonius«, sagte Milton. Auf ein Zeichen nahm der Reitknecht die Decken ab.
Sir Georges Augen weiteten sich. Es war kein Zweifel möglich. Dies war Portonius. Aber man konnte ihn kaum wiedererkennen, so gut hatte er sich bei der Pflege erholt, die ihm Milton Sands hatte angedeihen lassen.
»Die Sache unterliegt keinem Zweifel«, sagte der Vorsitzende. »Ich kann mich auf das Pferd deutlich besinnen. Es hat seinerzeit das Brocklesbury-Rennen in Lincoln mitgemacht . . . Der merkwürdige Bau der Hinterbeine ist mir schon damals aufgefallen. Ich habe mir heute vor dem Rennen den Derbysieger daraufhin angesehen und war verwundert, daß mich mein Gedächtnis so im Stich gelassen haben sollte.«
Er ging um das Pferd herum.
»Dies ist der wirkliche Portonius«, wiederholte er laut und deutlich. »Was haben Sie dazu zu sagen, Sir George?«
Der Baronet zuckte die Schultern.
»Ich habe mit der Sache nichts zu tun – ich wasche meine Hände in Unschuld. Wenn Sie mir das Rennen absprechen, dann kann ich Ihnen hier keinen weiteren Widerstand leisten. Sollten Sie zu meinen Ungunsten entscheiden, so werde ich die Gerichte anrufen.«
Nach diesen Worten bahnte er sich einen Weg durch die Leute und verließ den Rennplatz. Tausende von Gläsern waren nach dem Signalmast gerichtet, an dem jetzt ein großes Plakat hochgezogen wurde:
Protest gegen Portonius wegen betrügerischer Eintragung angenommen. Der erste Preis fällt an Donavan.