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»Ich fürchtete schon, daß Ihre Nachforschungen ergebnislos sein würden, Miss President«, sagte Lord Chanderson, der neben einer elegant gekleideten jungen Dame auf dem Bahnsteig in Marseille auf und ab ging.
Sie lächelte geduldig.
»Ich bin schon daran gewöhnt, daß diese Reisen nicht zum gewünschten Ziel führen«, erwiderte sie ruhig, »aber wir dürfen natürlich keine Chance ungenützt vorübergehen lassen. Es wäre immerhin einmal möglich, daß ich den Mann finden könnte, den mein Großvater seit so vielen Jahren sucht. Solange ich jung und gesund bin, kann ich ihn ja in seinen Bemühungen unterstützen. Er ist zwar noch rüstig und stark, aber das Reisen strengt ihn doch zu sehr an, und wenn er mit Leuten verhandeln muß, die nicht Englisch sprechen, wird er leicht verwirrt. Aber es war wirklich zu egoistisch von mir, daß ich Ihre Liebenswürdigkeit so sehr in Anspruch genommen habe.«
Er schüttelte lächelnd den Kopf.
»Bitte, entschuldigen Sie sich doch nicht, Miss President. Sie wissen, daß ich mich selten vor zwei Uhr schlafen lege, und es hat mir das größte Vergnügen gemacht, Sie noch zum Zug zu bringen. Ich freue mich wirklich, daß ich gerade zufällig in Marseille war und Ihnen behilflich sein konnte.«
Sie sah ihn dankbar an.
»Ich war auch sehr froh. Es ist nicht gerade angenehm für eine junge Dame, in einer französischen Stadt nach einem Mann zu suchen und den Behörden klarzumachen, daß es sich um einen Verbrecher handelt. Ohne Ihre Hilfe wären mir die Nachforschungen in Marseille sehr schwergefallen. Und wenn Sie mich nicht überallhin begleitet hätten, wäre auch meine Reise nach Monte Carlo unmöglich gewesen.«
»Ich freue mich stets, wenn ich etwas für Ihren Großvater tun kann. Er ist ein so außergewöhnlicher Mann. Nur wenig Leute, mit denen ich zusammengekommen bin, haben so großen Eindruck auf mich gemacht wie er.«
»Er schätzt Sie ebenso und hat das größte Vertrauen zu Ihnen.« Sie lächelte freundlich. »Ich hätte niemals geglaubt, daß der Vorsitzende des Jockey-Klubs sich so für unsere Angelegenheiten interessieren würde.«
Lord Chanderson lachte ein wenig. Er war schon ein älterer Herr, aber er hatte immer noch einnehmende Züge. In England war er eine bekannte Persönlichkeit.
»Ihr Großvater gehört zu den kleinen Rennstallbesitzern, die wir sehr schätzen«, entgegnete er höflich. »Sie wissen, daß wir alle Neulinge mit großer Vorsicht aufnehmen.«
»Meinen Sie, daß man diesen Leuten nicht trauen kann und daß sie unehrlich sind?
Er zuckte die Schultern.
»Das möchte ich gerade nicht behaupten. Aber sie arbeiten in neuerer Zeit mit allen Mitteln, und solche Gebräuche sollen bei den Rennen nicht einreißen. Es ist tatsächlich erstaunlich, daß Ihr Großvater mit nur einem Rennpferd –«
»Sie meinen zwei«, unterbrach sie ihn.
»Zwei?« sagte er erstaunt. »Ich dachte, er hätte nur das eine.«
»Sie vergessen das Pferd, das wir im Derby laufen lassen wollen«, sagte sie ernst. »Mein Großvater hält viel von Donavan.«
»Ich habe noch niemals von ihm gehört,« sagte Lord Chanderson lachend. »Man sieht doch, daß man selbst als Vorsitzender des Rennklubs um halb zwei Uhr nachts noch manches lernen kann, selbst auf dem Bahnsteig von Marseille. Ich glaube aber, wir gehen jetzt zu Ihrem Abteil zurück – in vier Minuten fährt der Zug ab.«
Ein Schaffner ging an ihnen vorbei.
»Bitte Platz nehmen!« rief er.
Miss President reichte Lord Chanderson herzlich die Hand und stieg dann ein. Sie ließ das Fenster herunter und plauderte noch mit ihm, bis sich der Zug in Bewegung setzte. Dann winkte sie, und er grüßte freundlich mit dem Hut.
Er war einer der englischen Sportsleute, die sie verehrte. Sie kannte viele, die sich für den Rennsport interessierten, aber nicht alle waren ihr sympathisch. Lord Chanderson gehörte zu der alten Generation, war ein Aristokrat vom Scheitel bis zur Sohle, ein Mann mit hervorragender Bildung und feinem Takt. Es war tatsächlich ein glücklicher Zufall gewesen, daß er sich gerade in Marseille aufgehalten hatte. Ihrem Großvater war ein Gerücht zu Ohren gekommen, daß der Mann, den er suchte, in der Nähe von Marseille gesehen worden war. Zweifellos stimmte die Nachricht, aber Nachforschungen nach einem Mann, von dem man nur eine zwanzig Jahre alte Fotografie besitzt, sind ziemlich aussichtslos. Ihre Erkundungsfahrt war ohne Erfolg geblieben, aber als sie von Marseille abfuhr, hatte sie eine angenehme Erinnerung an die liebenswürdige Fürsorge Lord Chandersons, der ihr mit größter Zuvorkommenheit geholfen hatte. Nur durch reinen Zufall hatte ihr Großvater von dem Aufenthalt Lord Chandersons in Marseille erfahren und ihr daher einen Empfehlungsbrief an den bekannten Sportsmann mitgeben können. Der Lord war John President stets in der freundschaftlichsten und liebenswürdigsten Weise begegnet, seitdem dieser sich wieder in England aufhielt.
Mary President ging in ihr Schlafwagenabteil und begann sich auszukleiden. Sie merkte aber bald, daß sie die Nacht nicht ungestört verbringen würde, denn der Herr im nächsten Abteil war anscheinend stark angetrunken. Er sang laut und unterhielt sich zwischendurch mit sich selbst. Die Worte konnte sie allerdings nicht verstehen, da ihr seine Sprache unbekannt war. Er mußte sehr vergnügt sein, denn ab und zu hörte sie lautes Lachen. Sie hoffte, daß die Geräusche des Zuges den Lärm übertönen würden, aber der Mann besaß eine durchdringende Stimme, und Mary Presidents Hoffnung erfüllte sich nicht. Schließlich hörte sie, daß jemand den Gang entlangkam, an die Tür des nächsten Abteils klopfte und den Sänger in scharfem Ton zur Ruhe verwies.
Aber der Mann schien sich wenig daraus zu machen; er antwortete mit einem frechen Lachen und erkundigte sich, wie der andere dazu käme, an seine Tür zu klopfen.
Mary versuchte alles mögliche, um einzuschlafen. Sie dachte an den Zweck ihrer Reise, aber dadurch wurde sie nicht ruhiger. Sie hatte John Pentridge in Marseille gesucht, wie ihn ihr Großvater während der letzten fünf Jahre in ganz Europa und früher in Australien gesucht hatte. Ein Bekannter hatte ihn in Marseille gesehen und ihrem Großvater sofort Nachricht zukommen lassen. Daraufhin hatte sie sich gleich auf den Weg nach Südfrankreich gemacht. Das war nicht die erste Reise, die sie zu diesem Zweck unternommen hatte. Sie hatte schon fast alle großen Städte Europas besucht, um den Mann zu finden, der die Erfindung John Presidents gestohlen hatte.
Allmählich schlief sie doch ein, aber sie erwachte plötzlich wieder, als jemand versuchte, ihre Tür zu öffnen. Von außen konnte man nur mit dem Schlüssel des Kontrolleurs aufmachen. Zollbeamte waren es sicher nicht, denn sie fuhren durch Frankreich und hatten keine Grenze zu passieren. Sie drückte auf den Knopf ihrer kleinen Repetieruhr, und diese schlug vier. Sie hatte also höchstens eine Viertelstunde geschlafen. Langsam öffnete sich die Tür. Das Innere ihres Abteils war vollkommen dunkel, und als sie aufsah, bemerkte sie die Umrisse einer untersetzten Gestalt.
»Wer ist da?« fragte sie schnell und langte nach dem Lichtschalter. Aber bevor sie ihn umdrehen konnte, sprang der Mann zurück und warf die Tür ins Schloß. Sie erhob sich und klingelte dem Schaffner, der gleich darauf ziemlich verschlafen zu ihrer Tür kam.
Nein, er war nicht im Gang gewesen, und außer ihm hatte niemand einen Schlüssel zu den Schlafkabinen.
»Mademoiselle hat sicher geträumt«, sagte er höflich lächelnd, aber innerlich fluchte er, denn selbst der höflichste Schlafwagenschaffner läßt sich nicht gern in seiner Ruhe stören.
»Ich habe durchaus nicht geträumt«, entgegnete sie ernst. Aber sie sprach nicht weiter mit ihm darüber, da es doch keinen Zweck hatte.
Der Herr nebenan war anscheinend inzwischen eingeschlafen. Das konstatierte sie dankbar, als sie sich wieder niederlegte. Aber sie selbst kam nicht zur Ruhe. Sie drehte das Licht wieder aus. Der Zug fuhr verhältnismäßig ruhig durch das Rhonetal. In anderthalb Stunden würde der Morgen dämmern und ihr das Gefühl der Sicherheit wiedergeben. Es mochte ein Irrtum sein, aber sie hatte die Überzeugung, daß der Mann, der sie eben gestört hatte, etwas gegen sie im Schilde führte. Er mußte irgendeine böse Absicht haben. In letzter Zeit waren ja häufig Diebstähle auf dieser Strecke vorgekommen. Sie sagte sich selbst, daß sie sich nutzlos ängstigte, aber die Tatsache, daß sie mitten in der Nacht plötzlich aufgeweckt worden war, blieb trotzdem bestehen.
Der Fremde störte sie nicht mehr, aber ein neues, aufregendes Erlebnis wartete auf sie. Plötzlich gellten schrille Pfiffe der Lokomotive. Der Zug fuhr langsamer und hielt dann mit einem scharfen Ruck an, so daß sie beinahe aus dem Bett gefallen wäre. Glücklicherweise war das elektrische Licht intakt geblieben. Sie schaltete es wieder ein und hörte nun, daß überall die Türen aufgerissen wurden. Die aus dem Schlaf gerissenen Reisenden eilten auf den Gang hinaus und sprachen wild durcheinander. Mary warf schnell ihren Morgenrock über und öffnete auch ihre Tür.
Es mußte irgendein Unglück passiert sein . . . Als sie auf den Korridor trat, öffnete sich auch gerade die Tür des nächsten Abteils, und ein untersetzter Herr kam heraus. Mit blutunterlaufenen Augen starrte er um sich. Unter dem Arm trug er eine dicke, schwarze Ledermappe. Er fragte Mary etwas in einer fremden Sprache, die sie nicht verstand. Sie schüttelte nur den Kopf, denn selbst wenn sie ihn verstanden hätte, wäre sie nicht in der Lage gewesen, ihm die Ursache des Aufenthalts anzugeben. Er eilte auf die Plattform hinaus, kam aber gleich wieder zurück. In seiner Hast machte er einen Fehltritt und wäre beinahe gefallen. Dabei entglitt ihm die Mappe. Selbst in dieser ungewissen Lage konnte sich Mary eines Lächelns nicht erwehren, als der fremde Herr sich bückte, um die Mappe wieder aufzuheben. Als er sie schnell an sich riß, sah er nicht, daß ein Brief herausgefallen war. Aber Mary hatte es bemerkt und nahm ihn auf. Der kleine, aufgeregte Mann mit dem kahlen Kopf und dem großen, schwarzen Spitzbart tat ihr leid, und sie wollte ihm helfen. Zufällig fiel ihr Blick auf die fast schon verblichene Aufschrift, und sie erkannte sofort die charakteristische Schrift ihres Großvaters.
»Das biegsame Glas.
Die Art seiner Herstellung.
Eine Erfindung von John President.«
Sie hielt das Dokument in Händen, nach dem ihr Großvater seit dreißig Jahren vergeblich suchte!
Bevor sie sich über die Tragweite ihrer Entdeckung klarwerden konnte, riß Monsieur Soltescu mit einer plötzlichen Bewegung den Brief aus ihrer Hand. Die vielen Worte, die er erregt sprach, sollten wohl einen Dank bedeuten. Im nächsten Augenblick war er in seinem Abteil verschwunden.
Ein paar Herren in Schlafanzügen kamen den Gang entlang. Zweifellos waren es Engländer. Einer sah sie lächelnd an und kam auf sie zu.
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« fragte er höflich.
Konnte ihr überhaupt jemand helfen? Konnte sie in kurzen Worten sagen, was sie eben erlebt hatte, und ihr Recht auf den Briefumschlag geltend machen, der sich in dem Besitz des fremden Herrn befand? Nein, das war unmöglich. Sie mußte einen anderen Weg finden, um das Schriftstück wiederzuerlangen.
Sie schüttelte nur den Kopf, denn sie war noch zu erregt, um sprechen zu können.
»Es würde mir ein Vergnügen sein –«
Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als es einen plötzlichen Zusammenstoß gab. Lautes Krachen ertönte und das Licht ging aus. Ein zweiter Zug war auf den Expreßzug aufgefahren, und im nächsten Augenblick war alles in größter Erregung. Schreckensschreie, Hilferufe und wildes Fluchen klangen wirr durcheinander.
Mary sah eine elektrische Taschenlampe aufblitzen und hörte ein Stöhnen, als ob jemand große Schmerzen hätte. Ein Mann eilte an ihr vorüber, und sie fühlte instinktiv, daß dieser Fremde versucht hatte, in ihr Abteil einzudringen. Drei Minuten später kletterte sie, an allen Gliedern zitternd, auf den Bahndamm hinunter, um zu sehen, was vorgefallen war.
Das Ende des Zuges hatte am meisten gelitten. Zwei Wagen waren ineinandergeschoben. Ein Reisender war getötet und mehrere schwer verletzt worden. Sie wartete draußen, bis sie erkannte, daß keine Gefahr mehr drohte. Der Zug war nicht in Brand geraten, und es waren auch sonst keine weiteren Komplikationen zu fürchten. Glücklicherweise befand sich ihr Wagen in der Mitte und stand noch auf den Schienen. Sie kletterte hinein und suchte ihr Abteil auf. Plötzlich ging auch das Licht wieder an. Der Schaffner hatte die schadhafte Stelle gefunden und sofort reparieren können. Er kam den Gang entlang und beruhigte die nervösen Fahrgäste. Es sei keine Gefahr vorhanden, sie sollten sich nur in aller Ruhe ankleiden.
Mary President hatte nicht bis zu dieser Aufforderung gewartet. Sie war schon fertig, als er an ihre Tür klopfte. Kurz darauf stand sie wieder unten auf dem Bahndamm zwischen den anderen Reisenden. Monsieur Soltescu rief, so laut er konnte, und gestikulierte heftig.
»Ich bin beraubt worden«, schrie er. »Man hat mich in der unverschämtesten Art und Weise bestohlen!«
»Aber beruhigen Sie sich doch, Monsieur«, erwiderte der Beamte, an den er sich gewandt hatte. »Sie werden in Ihrem Abteil alles an Ort und Stelle finden, wie Sie es verlassen haben.«
»Ich habe mich schon umgesehen und alles durchsucht, aber meine schwarze Ledermappe ist verschwunden! Und sie hat ungeheuren Wert für mich – mindestens drei Millionen . . .«
Mary President holte tief Atem. Sie hatte vorher den kühnen Gedanken gehabt, in das Abteil dieses Mannes einzudringen und nach dem Brief zu suchen. Einen Diebstahl hatte sie geplant, und nun war sie froh, daß sie doch aus Furcht davor zurückgeschreckt war.
Ein Herr kam den Bahndamm entlang und trat auf den Rumänen zu.
»Was, haben Sie Ihre Mappe verloren?« fragte er auf Englisch. »Das ist doch kaum möglich, Soltescu.«
»Doch, ich habe sie verloren. Es ist ein unersetzlicher Verlust«, klagte er. »Ich habe sie in meinem Abteil liegenlassen, und jetzt ist sie nicht mehr zu finden.«
Er ging in Begleitung des Schaffners in den Wagen zurück. Durch das Fenster konnte Mary von außen beobachten, wie genau sie alles untersuchten. Zwei Herren hinter ihr sprachen englisch, und sie fühlte sich erleichtert. Im Notfall konnte sie sich an sie wenden, und dieser Gedanke beruhigte sie und gab ihr ein Gefühl größerer Sicherheit.
»Wenn ich mich nicht sehr irre, ist das unser alter Freund Soltescu«, bemerkte der eine trocken.
»Natürlich. Seinetwegen haben wir die ganze Nacht nicht schlafen können. Ich möchte fast sagen, daß ihm recht geschehen ist.«
Sie wandte sich um und erkannte den Herrn, mit dem sie kurz vor dem Zusammenstoß gesprochen hatte.
»Das würde ich eigentlich nicht sagen«, entgegnete Milton Sands. »Man kann nie wissen, aus welchem Grund sich ein Mann dem Alkohol ergibt. Aber da er offenbar eine große Summe bei sich hatte, ist mir die Ursache nicht klar.«
Der Rumäne erschien wieder, trat auf die äußere Plattform hinaus und hielt eine erregte Ansprache an die Umstehenden.
»Meine verehrten Freunde, man hat mich bestohlen. Wer es war, weiß ich nicht, aber ich will Ihnen nur das eine sagen. Das Geld, das ich verloren habe, schmerzt mich durchaus nicht, aber es lag ein Schriftstück in der Mappe, das von größter Bedeutung für mich ist. Jedem, der mir die Mappe zurückgibt, will ich eine hohe Belohnung zahlen«.
Seine Worte wurden schweigend aufgenommen, und wenn der Dieb zugegen war, so kümmerte er sich allem Anschein nach nicht um dieses Angebot.