Edgar Wallace
Der Derbysieger
Edgar Wallace

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9

Soltescu hielt nicht viel von den meisten englischen Gebräuchen, und am wenigsten behagte ihm frühes Aufstehen. Aber an einem Aprilmorgen stand er trotzdem mit Sir George und Mr. Wilton an dem Pier in Tilbury und beobachtete die Ankunft des Dampfers »City of Incas«. Das weißgestrichene Schiff sah nach der langen Reise grau und schmutzig aus, und große, braune Rostflecken hatten sich überall eingenistet.

Sir George schlug seinen Mantelkragen hoch und ging an Bord des Schiffes, als die Landungsbrücke befestigt war.

Sie suchten den Zahlmeister und fanden ihn beim Frühstück in seiner großen Kabine.

»Es stimmt – wir haben verschiedene Pferde für Mr. Soltescu an Bord.«

»Hier ist der Herr selbst«, erklärte Sir George. »Die Pferde sollen morgen nach Rumänien geschickt werden. Wie hat denn El Rey die Fahrt überstanden?«

»Der ist frisch und fidel«, entgegnete der Zahlmeister begeistert. »Wirklich ein brillantes Pferd! Ich habe noch nie einen so vorzüglichen Renner gesehen. Eigentlich war ich ja etwas besorgt um ihn, aber er hat die Reise glänzend überstanden. Er hat gut gefressen, und außerdem war die Überfahrt verhältnismäßig ruhig. Ich glaube, daß Sie keine Schwierigkeiten mit ihm haben und ihn hier bald wieder ins Rennen stellen können.«

»Er soll nicht mehr an Rennen teilnehmen«, erwiderte Sir George kurz. »Er wird sofort nach Rumänien in das Gestüt von Monsieur Soltescu geschickt.«

Der Zahlmeister verstand etwas von Pferden und schüttelte den Kopf.

»Das ist aber schade«, meinte er bedauernd. »Das Tier ist erst vier Jahre alt und in allerbester Form. Es könnte noch manches Rennen gewinnen. Aber das ist ja schließlich Ihre Sache und geht mich nichts an.«

Sir George mußte als Soltescus Agent noch mehrere Schriftstücke ausfertigen und unterschreiben.

»Wann fahren Sie denn wieder ab?« fragte er nebenbei.

»Ausgerechnet einen Tag vor dem Derby. Es tut mir unendlich leid, daß ich das Rennen nicht sehen kann.«

Sir George atmete erleichtert auf. Es war ihm nur angenehm, daß der Zahlmeister nicht nach Epsom kommen konnte, denn er hatte allen Grund, dessen Anwesenheit zu fürchten.

Eine halbe Stunde nach der Ankunft des Dampfers führte ein Jockey das brasilianische Rennpferd die Landungsbrücke hinunter in die kleinen Gassen des Hafenviertels von Tilbury. Die drei gingen hinterher.

»Wohin bringen wir den Gaul jetzt?« fragte Mr. Wilton.

»Das werden Sie schon erfahren«, erwiderte Sir George ärgerlich. »Stellen Sie doch nicht immer so dumme Fragen, Toady.«

Mr. Wilton schwieg mürrisch.

Sie hatten einen weiten Weg vor sich, und er liebte es nicht, zu Fuß zu gehen. Zwei Kilometer vor der Stadt trafen sie ein Transportauto für Pferde, und El Rey wurde darin verladen.

Ein anderes Auto wartete auf die drei, und sie fuhren in der Richtung nach London voraus.

In Shadwell gibt es viele kleine Ställe, in denen die Gemüsehändler ihre Pferde über Nacht unterstellen. Sie sehen sehr vernachlässigt und schmutzig aus. In dieser Gegend endete die Fahrt. Sir George hatte das Auto halten lassen und dann an einen verabredeten Platz geschickt. Er öffnete selbst ein Vorhängeschloß an einer Hoftür und ging zu dem Stallgebäude hinüber. Als er die Tür aufmachte, konnte er im Dunkeln nichts sehen, aber das Rasseln einer Kette verriet, daß der Stall besetzt war. Das Grundstück lag am Ende einer kleinen Sackgasse, und dieser Stall erwies sich als sehr günstig für Sir George. Hier konnte er kaum beobachtet werden, und es spielte sich auf diesem kleinen, düsteren Hof manches ab, was das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen hatte.

»Warten Sie am Tor, Toady«, sagte Sir George, »und passen Sie auf, wenn der Transportwagen kommt. Sobald er um die Ecke biegt, öffnen Sie die beiden Torflügel. Machen Sie aber sofort wieder zu, wenn er auf den Hof gefahren ist.«

Das war gerade keine geeignete Beschäftigung für den eleganten Wilton, aber er erhob keinen Widerspruch. Lange brauchte er auch nicht zu warten, denn gleich darauf tauchten die Umrisse des großen Lastautos auf.

»Nun wollen wir uns das Pferd einmal ansehen«, meinte Sir George, als El Rey ausgeladen und von den Decken befreit worden war.

Es war ein tadelloser Grauschimmel mit einem wunderbar modellierten Körper. Für sein Alter war er etwas klein, aber in bester Verfassung.

»Der wird das Rennen machen«, erklärte Sir George. »Wie schaut denn nun das andere Tier aus?«

Er ging zu dem Stall und öffnete weit die Tür. Das Pferd, das in der äußersten Ecke stand, wandte den Kopf nach ihm um. Es war ebenfalls grau, aber nicht im mindesten gepflegt und so abgemagert, daß man alle seine Rippen sehen konnte. Niemand hätte in ihm den Portonius vermutet, der als Zweijähriger ohne Klassierung manche Rennen mitgemacht hatte. Und am allerwenigsten hätte jemand daran gedacht, daß dieser selbe Portonius für das Derby genannt war und daß die Buchmacher für ihn Wetten auf zwanzig zu eins abschlossen. Sir George schien darüber nachzudenken, denn er lächelte sarkastisch.

»Was würden die Buchmacher wohl sagen, wenn sie ihn in der Verfassung sähen?«

»Die würden Wetten auf tausend zu eins ohne Bedenken annehmen«, entgegnete Toady.

Das schlechtgefütterte Tier sah sich nach seinem Herrn um, und wenn Sir George auch nur einen Funken von Gefühl gehabt hätte, wäre ihm dieser vorwurfsvolle Blick nicht gleichgültig geblieben. Aber er kannte keine sentimentalen Anwandlungen.

»Bringen Sie El Rey in den nächsten Stall.«

Der Jockey führte den Auftrag aus.

»Morgen früh kommt er nach Cornwall«, sagte Sir George. »Aber was machen wir nun mit Portonius?« wandte er sich an den Jockey.

»Am besten geben wir ihm eine Kugel«, entgegnete Buncher.

Sir George schüttelte den Kopf.

»Lieber nicht. Wir müßten einen Pferdeschlächter rufen, und der versteht so viel von Pferden, daß er sofort ein Vollblut erkennt. Nein, das dürfen wir nicht tun. Ich habe mir aber etwas anderes überlegt. Wie heißt doch der Mann, der Ihnen manchmal hier hilft?«

»Flickey. Seinen eigentlichen Namen weiß ich nicht. Er treibt sich hier gewöhnlich in den Kneipen herum. Wenn man ihm ein paar Glas Bier gibt, tut er alles, was man von ihm verlangt.«

»Haben Sie mir nicht erzählt, daß er mit der Polizei in Konflikt kam, weil er alte, ausgediente Pferde nach Antwerpen verschiffte?«

Buncher nickte grinsend.

»Ach so, jetzt verstehe ich, was Sie wollen«, meinte er.

»Ja, das ist das beste«, erwiderte Sir George. »Holen Sie Flickey, daß er den Gaul heute abend noch fortschafft. Er kann ihn wegbringen, ohne Geld dafür zu verlangen. Auch wünsche ich nicht, daß irgendwelche Papiere darüber ausgefertigt werden. Wir tun so, als ob das Pferd schon bezahlt ist. In ein paar Tagen ist Portonius in Antwerpen, und wir hören und sehen nie wieder etwas von ihm. Das ist der einzig sichere Weg. Der Handel mit alten Pferden ist sehr unbeliebt, und die Leute, die sich damit abgeben, halten den Mund. Und je weniger Leute darüber sprechen, desto besser ist es.«

Er wandte sich an den Rumänen.

»Sie sehen, daß die Sache klappt, Mr. Soltescu. Ich glaube, wir brauchen Sie jetzt nicht mehr zu belästigen. Haben Sie übrigens noch etwas von Ihrer vermißten Mappe gehört?«

Soltescu schüttelte den Kopf.

»Ich fürchte auch, daß ich nie wieder etwas von der wertvollen Formel sehen werde.«

»Ja, die Sache war wohl eine Million wert«, meinte Sir George.

»Was fällt Ihnen ein!« Soltescu lachte bitter. »Eine Million? Drei, fünf Millionen mindestens! Wissen Sie, daß Ende nächsten Monats eine Glasausstellung in Frankreich eröffnet wird? Man hat eine Belohnung von hunderttausend Pfund für denjenigen ausgesetzt, der biegsames Glas herstellen kann.«

»Da sollte man doch denken, daß der alte President sich um den Preis bewirbt?« Sir George runzelte die Stirn.

»Ich glaube nicht«, sagte Soltescu. »Ich kann mich noch sehr gut darauf besinnen, wie kompliziert der Herstellungsprozeß war. Sicherlich hat er versucht, die Formel wieder zu rekonstruieren, aber ich glaube kaum, daß es ihm gelungen ist. Wahrscheinlich wurden ihm die Schriftstücke während seiner schweren Krankheit gestohlen.«

»Woher wissen Sie denn davon?« fragte Sir George erstaunt.

»Der Mann, der mir das Fabrikationsgeheimnis verkaufte, hat es mir gesagt. Übrigens kommt er nächstens nach London.«

»Könnte der Ihnen denn keinen Aufschluß über die Formel geben?«

Soltescu machte ein trauriges Gesicht.

»Ich habe bereits darüber mit ihm verhandelt. Er weiß natürlich noch verschiedenes, aber das Wichtigste hat er vergessen. Wir haben auch schon verschiedene Experimente zusammen gemacht, aber keine Resultate erzielt.«

»Ist mir der Mann eigentlich bekannt?« fragte Sir George interessiert.

Während des Gespräches hatten sie den kleinen Hof verlassen und gingen jetzt durch die schmutzigen Straßen von Shadwell.

»Sie haben wahrscheinlich schon von ihm gehört.« Soltescu lachte verschmitzt. »Es ist ein Graf –«.

»Ach, ist es der?« Der Baron, sah ihn erstaunt an. »Er hat doch in Monte Carlo die Bank gesprengt?«

»Ja, ganz recht. Er ist dann nach Paris gefahren, wo er ein Leben in Saus und Braus führte. Da er jetzt über viel Geld verfügt, fürchtet er sich auch nicht mehr vor John President und wagt sich nach London.«

»Graf Colini«, sagte Sir George nachdenklich.

»Diesen Namen hat er sich allerdings erst nach seinem großen Erfolg zugelegt«, erwiderte der Rumäne lachend.

»Ich möchte ihn eigentlich näher kennenlernen«, erklärte Sir George. »Ein Mann mit einem so großen Vermögen kann einem immer nützlich sein.«

Einen Augenblick begegneten sich ihre Blicke, und sie verstanden einander vollkommen.

»Er wird Ihnen nicht soviel nützen wie ich«, meinte der Rumäne.

Sie standen vor dem Wagen. Mit einem kurzen Nicken verabschiedete sich Soltescu und fuhr davon.

 

An demselben Abend um halb neun ging Mr. Flickey etwas unsicher zu dem Stallgebäude, das Sir George in Shadwell gemietet hatte. Buncher gab ihm dort die letzten Anweisungen.

»Wenn jemand Sie anhält und fragt, wohin Sie den Gaul führen, sagen Sie, daß Sie ihn zum Tierarzt nach Camden Town bringen.«

»Lassen Sie mich nur machen«, erklärte Flickey selbstbewußt. »Ich habe nicht umsonst meine Zeit hauptsächlich im Gefängnis zugebracht. Da lernt man allerhand. Wird für den Gaul bezahlt, wenn ich ihn abliefere?«

»Nein, darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Ihre zehn Schilling haben Sie ja schon in der Tasche. Sie sollen das Pferd nur den Leuten übergeben, die die Pferdetransporte nach Antwerpen besorgen. Weiter haben Sie nichts zu tun.«

»Ja, die Firma kenne ich gut.«

»Und nun machen Sie, daß Sie fortkommen«, sagte Buncher ärgerlich.

Flickey verschwand mit seinem Pferd durch das Tor und wandte sich später zur Commercial Road. Es kam ihm etwas unheimlich auf der großen Straße vor, auf der viele Polizisten zu sehen waren, denn er hatte nicht die geringste Absicht, mit ihnen in Berührung zu kommen. Nach einer Viertelstunde bog er jedoch in eine ruhige, verlassene Straße ein und kam an einer Kneipe vorbei. Die hellerleuchteten Fenster besaßen eine besondere Anziehungskraft für ihn, der er nicht widerstehen konnte. Er hielt an und sah sich um. Aber er konnte nur einen einzigen Menschen in der Nähe entdecken, einen schlampigen Mann, der mit den Händen in den Hosentaschen hinter ihm herging. Mr. Flickey fühlte, daß jetzt der Augenblick gekommen war, in dem er unbedingt etwas trinken mußte. Außerdem fiel ihm ein, daß es kurz vor Toresschluß war. Der Mann, den er bemerkt hatte, schlenderte gerade langsam an ihm vorüber.

»Hallo, Bill!« rief ihn Flickey an.

Er wußte zwar nicht, ob der Mann Bill hieß, aber dieser Anruf erschien ihm als eine freundliche Einleitung, da er den Mann um einen Gefallen bitten wollte.

»Halten Sie doch mal dieses Pferd fünf Minuten lang«, sagte er. »Sie kriegen nachher auch ein Trinkgeld, wenn ich wieder aus der Kneipe komme.«

»Gemacht!« entgegnete der andere sofort bereitwillig.

Er war groß, aber sehr schlecht gekleidet. Flickey betrachtete ihn und gewann den Eindruck, daß der Mann bessere Tage gesehen haben mußte. Das schloß er auch aus seiner Sprache und aus seinen Bewegungen.

»Wo kommt der Gaul denn hin?« fragte der Fremde, der das Pferd neugierig musterte.

»Das geht Sie nichts an«, erklärte Flickey brummig. »Stellen Sie keine dummen Fragen, dann bekommen Sie keine falschen Antworten. Man muß nicht allen Leuten gleich alles auf die Nase binden.«

»Nichts für ungut«, erwiderte der andere und nahm den Zügel des Pferdes.

»Aber Ihnen kann ich es ja im Vertrauen sagen«, meinte Flickey gnädig. »Der kommt nach der Knochenmühle.«

»Was, zum Abdecker?«

»Nein, das gerade nicht«, entgegnete Flickey, der keine Neuigkeit für sich behalten konnte. »Ich bringe ihn zu einem Freund, der schickt ihn per Schiff fort.«

»Aha, ich verstehe.«

»Ich bleibe keine fünf Minuten aus«, sagte Flickey noch, als er sich in der Tür umdrehte.

Aber in der Stube war es gemütlich warm, und er konnte seinen gewaltigen Durst löschen, da er Geld in der Tasche hatte.

Die fünf Minuten wurden zu zehn – zu fünfzehn – und schließlich kam Flickey noch mit einem Mann ins Gespräch, der eine entgegengesetzte Meinung über Politik vertrat. Eine Dreiviertelstunde war vergangen, als ihm zum erstenmal wieder einfiel, daß er noch einen Auftrag zu erledigen hatte.

»Jetzt muß ich aber machen, daß ich fortkomme«, sagte er und schaute auf die große Uhr über dem Büfett. Dann taumelte er zu der Tür.

»Verdammt, ich habe ziemlich schwer geladen. Wenn ich bloß nicht zwei Pferde sehe«, brummte er, als er auf die Straße trat.

Aber davor blieb er bewahrt, denn als er hinauskam, konnte er nicht einmal ein Pferd sehen. Der Gaul und sein Wächter waren vollkommen von der Bildfläche verschwunden.

Flickey starrte bestürzt vor sich hin, ging dann langsam zur nächsten Straße und schaute um die Ecke, aber auch da war keine Spur zu finden. Er öffnete sogar die gute Stube der Kneipe, denn es kam ihm plötzlich der absurde Gedanke, daß sich der Mann mit dem Pferd dort niedergelassen haben könnte. Bald beruhigte er sich aber wieder. Er hatte ja seine Bezahlung schon im voraus bekommen, und deshalb hatte er ein gutes Gewissen.

»Na, meinetwegen soll er den Gaul heiraten«, brummte er, trollte sich nach Hause und sank schwer aufs Bett. Als er am nächsten Morgen erwachte, hatte er alles vergessen, was sich am vorigen Abend zugetragen hatte, und als Buncher ihn später fragte, ob er das Pferd richtig abgeliefert hätte, zögerte er keinen Augenblick mit der Antwort.

»Ja, ich habe den Gaul dem Mann gegeben, und er hat sich obendrein noch freundlich dafür bedankt«, erklärte er seelenruhig.


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