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Fünfzehntes Kapitel

»Vater!« ...

Markland hörte nicht mehr die helle Stimme, die in demselben Augenblick durch den Salon drang.

Emil und der wie eine Marmorsäule dastehende Duhamel wandten sich zur Seitentür, in welcher Lydia bereits während der letzten Worte Marklands erschienen war und hinter welcher so lange stehend sie zitternd alles mit angehört hatte.

Sie schlug die Augen zu Boden, als sie sich den beiden Herren allein gegenüber befand. Sie hörte nur, wie Duhamel, außer sich vor Empörung über Emil, dem er offenbar das Scheitern seines ganzen Geschäftes verdankte, diesen mit verächtlichem Blick messend, seine Mappe wieder unter den Arm genommen und durch den Salon zur Tür hinausschritt.

Sie fühlte, sie sei nun allein mit dem jungen Manne, der regungslos, beschämt und doch nicht ganz entmutigt dastand, denn das Erscheinen des Mädchens tröstete ihn.

Sie wagte jetzt aufzublicken. Sie gab dem noch unschlüssig wartend an der Tür stehenden Sam ein Zeichen, hinauszugehen, und Sam folgte dem Befehle, wenn auch zaudernd, da er gegen den seines Herrgotts handelte.

Nichts war ihr entgangen von dem Gespräch; mit Erstaunen hatte sie an den wenigen Worten, die Emil sprach, erkannt, daß er ihrer Sprache vollkommen mächtig, aber sein Ton, seine Miene, sein bescheidenes und dennoch resolutes Dastehen vor dem Vater hatten zugleich mit sympathischer Gewalt auf das Mädchen gewirkt, und die rauhe, schonungslose Weise des letzteren, in der er ihm die Tür wies, die Nachsicht, mit der er für Bredson Partei ergriff, wie er ihn mit sich zog, um seine Anschuldigungen zu hören – all das rief Marklands selbstwillige Tochter zur Tat auf.

Wie sie ihn jetzt dastehen sah, gewann ihm sein offenes Bekenntnis, die Innigkeit und Wärme, mit welcher er die Motive seiner Handlungsweise bekannte, vollständige Absolution in dem jungen, noch unsicheren Herzen, und was etwa an dieser noch fehlte, das legte des Vaters ihrem noch unabhängigen Gefühle nach willkürliches Verfahren hinzu. So lange war sie ihre eigene Herrin gewesen, so lange hatte sie sich ohne seine persönliche Leitung in dem noch so wenig geprüften Leben zurechtgefunden; heute war er plötzlich Richter, Tyrann und im Interesse eines jungen Mannes, den sie um sich geduldet, weil der Vater so nachsichtig gegen ihn, weil, wie es ihr wohl zuweilen schon durchgeschienen, James Bredson, der Vetter, eine stillschweigende selbstverständliche Anwartschaft auf ihre Hand haben sollte, eine Berechtigung, die ihr zu gleichgültig, als daß sie schon darüber nachgedacht hätte.

Marklands Tochter schritt in das Zimmer, gefaßt, willensmutig, aber innerlich noch beschäftigt, den Eindruck des Gehörten zu verwinden. Sie schaute jetzt auf, sie sah den jungen Mann vor sich, wie das Blut seine Wangen färbte, während es aus den ihrigen gewichen.

»Mein Herr,« begann sie mit weniger sicherer Stimme, als es ihr Entschluß bedingt hätte, »der Vater hat das Recht, Ihnen und mir zu zürnen, mir vor allem; Ihnen aber zu verzeihen habe nur ich, da ich die törichte Veranlasserin war. Leider muß ich meine eigene Dienerin in Verdacht eines Einverständnisses mit Ihnen nehmen. Ich kann Ihnen also nur verzeihen, wenn dieser Verdacht beseitigt ist.«

Lydia hatte mit zunehmender Festigkeit, aber zu Boden gesenkten Augen gesprochen. Emil hörte mit Entzücken die glückliche Wendung der Sache. Vor diesem Tribunal glaubte er bestehen zu können!

»Miß Markland!« rief er ermutigt und mit steigender Wärme, »dieser Verdacht ist ungerecht! Ich allein bin der Schuldige! Hören Sie mich an, ich will Ihnen alles bekennen, ohne mich selbst zu schonen.«

Lydia strich mit dem feinen Spitzentuch über die Stirn. Sie war bereit, zu hören.

»Es gibt einen schönen, einen glücklichen Tag in meinem Leben, und das war derjenige, an welchem ich Sie erblickte, in dieser selben Robe, gerade so, wie ich Sie heute sehe, aber nicht so ernst, so zürnend – nein, heiter, froh, entzückend in Ihrer Freudigkeit. Das war auf der Wiese von St. Cloud! ... Ich habe melancholische Stunden, in denen ich Naturschwärmer bin. In einer solchen lag ich im Gebüsch unter einer hohen Ulme. Plötzlich hörte ich freudige Mädchenstimmen, fast gleichzeitig flog ein Ball in das Gebüsch, an den Fuß der Ulme, und gleich darauf sah ich zwei Feenarme sich durch das Gezweig strecken, sah ich eine Elfe mit himmlisch blauen Augen und goldglänzenden Locken durch die Zweige brechen und nach dem Ball suchen. In regungslosem Bewundern schaute ich zu. Da sah ich, wie – nicht ein Faun, der die flüchtige Elfe zu haschen suchte – nein, ein junger Mann, erhitzt, aufgeregt, mit sinnlich breiten Lippen, roh und ungeschlacht im Wesen, den Arm um meine Elfe legte, wie er sie umklammerte, sie an sich preßte, ihr einen Kuß rauben wollte. Vergebens sträubte sich mein Elfenkind und rief um Hilfe ... (Lydias Antlitz färbte sich glühend rot; sie fuhr beschämt wieder mit dem Spitzentuch über die Stirn.) Ich sprang auf; ich tat, was ich allerdings gleich darauf bereute, was ich aber heute und immer wieder zu tun gezwungen sein würde ...«

Emil schwieg.

» Sie waren es!« flüsterte es von Lydias Lippen, während der Purpur in leichte Morgenröte überging.

»Von dem Augenblick verließ mich der Gedanke an mein Elfenkind nicht. Ich sah Sie, ich mußte Sie sehen, und doch wagte ich nicht, mich Ihnen zu nähern! Ich, ein armer deutscher Edelmann, kam mir zu unbedeutend vor, als ich hörte, wer meine Elfe sei. Da kam mir ein gnädiges Geschick zu Hilfe und ich ergriff mit Freuden die Hand, die es mir reichte. Der Wirt meines Hauses, in dessen Atelier ich meine Mußestunden – und ich habe nur solche – als Dilettant ausfüllte, bat mich, den Interpreten in seinen Geschäftsangelegenheiten mit Mr. Markland zu spielen. Ich erschien mit ihm hier unter der Maske eines simplen Arbeiters, denn unter dieser glaubte ich die Vergünstigung zu haben, in Ihrer Nähe zu sein, Ihre Luft zu atmen, zuweilen Ihre süße Stimme zu hören ...

Sie sehen, ich war nicht unbescheiden, Miß Markland«, fuhr Emil fort, als sie gedankenvoll noch immer schwieg, noch immer still zu Boden schaute und nur durch beklommenes Aufatmen verriet, daß sie nicht teilnahmlos. »So hörte ich denn gestern morgen – Verzeihung, Miß Markland, für diese Indiskretion, denn ich saß allein hier, man ließ mich warten, und Ihre und Ihrer schönen Freundin Stimmen klangen so hell herüber – so hörte ich Ihre Verabredung, jenen Ball zu besuchen. Ich hörte, daß Ihre Kammerfrau Sie dem Schutz eines Arbeiters überantworten wollte, den Sie nicht kannten und der diese hohe Gunst mißbrauchen konnte.

Auch ich beschloß, als Schutzgeist zur Stelle zu sein. Ich erkannte den Arbeiter an dem verabredeten Zeichen; ich sah ihn mit einigen Kameraden beim Absinth sitzen, sah in ihm einen rohen, von Trunksucht gezeichneten Menschen, der seinen Freunden prahlerisch erzählte, er habe einen großen Spaß vor, denn er sei hier, um ein paar schöne, junge Amerikanerinnen zu chaperonieren.

Meine Befürchtung war also begründet. Ich trat zu ihm, ich sagte ihm eine Unwahrheit, ja! Ich brachte ihm die Nachricht von seiner Braut, die Damen würden nicht kommen, sie dagegen erwarte ihn in ihrem Kaffeehause. Er ging, und ich, für diesen Fall vorbereitet, legte dasselbe Erkennungszeichen an. Nur auf eins konnte ich nicht vorbereitet sein, auf die Möglichkeit, daß der junge Mann, den Sie damals James nannten, uns begegnen und Sie und mich erkennen werde ... Ihre Kammerfrau, Miß Markland, also ist unschuldig, ich aber lege meine Schuld Ihrer Gnade zu Füßen und bitte, auch bei Mister Markland meine Fürsprecherin zu sein.«

Lydia zürnte schon längst nicht mehr, als er zu Ende. Regungslos stand sie noch da, beschämt noch immer in dem Gedanken an Evelines unbesonnene Äußerungen, die ihn jetzt doch zum Richter über sie machten. Endlich schaute sie langsam, verlegen auf. Sie reichte ihm ihre Hand, die er hastiger, als die Galanterie es vorschrieb, und unbestritten an seine Lippen führte.

»Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen«, sagte sie leise, kaum vernehmbar, mit leichtem Beben der Stimme, während ihre Brust in ihrer Unruhe die kleine blaue Schleife in Bewegung erhielt und sie gedankenlos ihre Hand noch in der des jungen Mannes ließ. »Auch mir wird mein Vater verzeihen, wenn er die Wahrheit hört. Nur James ... O, ich kenne ihn ..., er wird unversöhnlich sein! Nichts wird ihn zum Schweigen bewegen; er wird allen erzählen ...«

Lydia barg das Antlitz im Taschentuch. Die Verlegenheit, welche Bredson bereiten konnte, rechtfertigte es in der Tat bis zu einem gewissen Grade, daß beider Hände wie vergessen noch ineinanderlagen, ohne sich gegenseitig etwas anzutun. Lydia fühlte, daß von dem Moment ab, wo sie Emil verzieh, das freundschaftliche Verhältnis zu James zu Ende war, daß sie in einem solchen zwischen Emil und James nur zu wählen habe, und die Wahl war bereits entschieden. Sie hörte den rachsüchtigen Menschen schon, wie er aller Welt erzählte, und gaben die Sitten ihrer Heimat einem jungen Mädchen auch manche Lizenz, in dem Lichte, in welchem James mit seinem Rachebedürfnis die Sache ohne Zweifel erzählte, war nichts zu retten.

Und Emil seinerseits, wie er dastand, die warme, zarte Hand des Mädchens in der seinigen, das Auge auf der graziösen Gestalt ruhend, er war kaum eines klaren Gedankens mächtig; er dachte aber doch so lange, bis ihm endlich ein ganz glücklicher einfiel.

»So ist nur eins möglich!« sagte er, einen Druck auf Lydias Hand wagend. »Nur eins! Sie bewegen Mister Markland, mein Verbannungsurteil zurückzunehmen und mir die Ehrenstelle eines Freundes in seinem Hause einzuräumen. Ich werde mich bestreben, ihrer würdig zu sein. So wird es möglich werden, alle Schuld auf mich zu werfen, der ich als Freund des Hauses Sie und Miß Eveline zu einem kleinen Ausflug in das Volksleben eingeladen, den uns Mister Bredson durch seine jähzornige Eifersuchtsszene gestört ... Wollen Sie, Miß Markland?«

»Ich will! ... Ich will!« Emil fühlte, wie sie bei diesen Worten den Druck seiner Hand überrascht, recht freudig erwiderte, ihm diese Hand dann aber, erschreckend über sich selbst, entzog ... »So, so wird es am besten«, setzte sie, sich tröstend, hinzu. »Aber jetzt gehen Sie! Ich höre Julie drüben, auch Eveline, der ich für ihre Treulosigkeit eigentlich schon meine Freundschaft gekündigt habe ... Jetzt freilich muß ich ihr vergeben und auch sie instruieren ... Adieu!« Sie reichte ihm noch einmal die Hand. »Verlassen Sie sich auf mich; mein Vater selbst soll Sie zu uns laden!«

Emil, mit jubelndem Herzen, wagte es, nachdem der erste Versuch so glücklich gelungen, noch einmal ihre Hand an seine Lippen zu drücken. Sie lächelte mit strafendem Blicke. Sie winkte ihm noch ein Adieu mit dem Taschentuch, und erst als sie verschwunden, taumelte auch er überglücklich, geblendet von Seligkeit, an Sam vorbei, der, ungeduldig auf seine Entfernung wartend, vor der Tür stand.


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