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Nur die zunächststehenden waren Zeugen des Angriffs gewesen, die übrigen erkannten Emil nicht. Er suchte, er bemächtigte sich eines Stuhls, um von diesem aus die Menge zu überblicken, die sich eben zu entwirren begann, da das Orchester den Frieden wiederherzustellen suchte. Er stand endlich ganz allein auf seinem erhöhten Platz, und trostlos gab er denselben wieder auf – keines der Mädchen war zu sehen.
Sie mußten sich in den Garten geflüchtet haben, der sich eben des Lärms wegen geleert. Er stürzte hinaus, er suchte in allen Wegen, in allen Lauben, hinter allen Gebüschen und eilte endlich atemlos zum Ausgang.
Da stand in der Ecke, im Schatten, eine zierliche Mädchengestalt, erschöpft hingelehnt, mit dem Taschentuch die Tränen beschwichtigend, ihr Schluchzen unterdrückend. Emil erkannte Lydia. Das kleine blaue Halstuch hatte sich auf ihrer Flucht vom Nacken gelöst und hing über ihren Rücken, ihr Antlitz war leichenblaß; die Tränen blendeten ihre Augen.
Emil kam einem Beamten zuvor, der sich ihr eben hilfreich nähern wollte.
»Sie sind es? Großer Gott, ich suchte Sie überall. Ich bringe Ihnen meine Entschuldigung; ich versichere Sie, es ist mir unbegreiflich ...«
Lydia schaute ihn mit Vorwurf und dennoch getröstet durch sein Erscheinen an.
»Wo, um Gottes willen, ist Miß Eveline?« rief sie, noch an allen Gliedern zitternd und mühsam ihr Schluchzen bemeisternd.
»Ich suchte auch sie vergebens überall. Ich bin untröstlich über diesen mir unerklärlichen Vorfall«, versicherte Emil, in der Tat verzweifelt über diese Wendung der Dinge.
»Sie müssen sie suchen, Monsieur Robert ... O, ich will fort von hier; es war leichtsinnig, mich von ihr überreden zu lassen ... Ich bitte, suchen Sie Eveline!«
»Sie ist nicht im Saal, nicht im Garten! Ich vermute, sie wird allein nach Hause gefahren sein ... Würden Sie Ihren Fiaker wiedererkennen?«
»O, das wäre treulos!« jammerte Lydia untröstlich.
»Wir finden sie vielleicht schon draußen im Fiaker auf Sie warten.«
»Ja, ja!« Das erschien dem verwirrten Mädchen einleuchtend. »Führen Sie mich, Monsieur Robert! Mein Gott, ich bin so kraftlos, daß ich mich nicht mehr aufrecht zu erhalten vermag!«
Schweigend bot Emil ihr den Arm und sich auf diesen stützend, erreichte sie die Straße. Und jetzt begann auch Emils Verwirrung. Dieser verwünschte Bredson hatte ihm einen groben Strich durch seine Rechnung gemacht. Freilich war er jetzt allein mit Lydia, die ihm in ihrer Trostlosigkeit doppelt schön erschien; sie hing an seinem Arm, er hörte wieder ihr Herz pochen, dieses Herz, um dessentwillen er heute eine so verzweifelt unglücklich ausgehende Komödie gespielt; aber was mit dem aufgeregten, trostlosen Mädchen anfangen! Und was geschah morgen, wenn diese Komödie durchschaut wurde ... Wo ferner Eveline finden, nach der das zitternde Mädchen jammerte! Und was half ihm endlich all das Vertrauen, das ihm Lydia am Abend geschenkt, wenn morgen ...
Doch zu was an morgen denken! Lydia hing an seinem Arm, und das war der Wonne genug. Er führte sie zu den Fiakern, er suchte und fragte nach dem der beiden Damen – der Fiaker war nicht da.
»Wie treulos!« zitterte es wieder über Lydias Lippen. »Sie ist ohne mich nach Hause zurückgekehrt! Das kann ich ihr nie vergessen! Aber sie hat es schon einmal so gemacht!«
»Was befehlen Sie?« fragte Emil.
»Ich will auch nach Hause! ... Monsieur Robert!« bat sie, das noch immer tränenfeuchte Auge zu ihm aufschlagend, das trotz seiner gewohnten Herzlichkeit jetzt so treuherzig blicken konnte, daß der junge Mann um ein Haar seine Rolle vergessen hätte. »Monsieur Robert,« sie schlug verlegen das Auge nieder und ihre Stimme zitterte so seltsam, »würden Sie es mir nicht abschlagen, wenn ich Sie bäte, mich zu begleiten? Ich fürchte mich, so allein im Fiaker ... den weiten Weg.«
Emil hätte in seinem Entzücken die kleine Hand ergreifen und an seine Lippen pressen mögen, die sich in kindlichem Vertrauen bittend eben auf die seinige legte. Rechtzeitig seiner Rolle eingedenk, verbeugte er sich und versicherte, er stehe mit Freuden zu Diensten.
Er rief einen Fiaker herbei, er wagte es, die graziöse Gestalt zu berühren, sie gewandt in den Wagen zu heben, und sie wehrte ihm nicht. Der Fiaker jagte davon, und sie saß schweigend neben ihm in holder Befangenheit, sich vielleicht angstvolle Vorwürfe über die Unbesonnenheit machend, mit einem ihr doch wildfremden Menschen so allein dazusitzen. Aber war denn diese Unbesonnenheit nicht die unabwendbare Folge einer anderen noch viel größeren?
Die frische Nachtluft schien ihr wohlzutun. Ihre Wangen färbten sich allmählich wieder, Emil sah es in dem matten, blassen Mondenschein, der an den Ecken zuweilen den Fiaker beleuchtete, und der schien ihm so schnell zu fahren, wie noch nie ein Pariser Fiaker gefahren. Er wagte nicht zu sprechen, ihm war's inmitten seiner Wonne, neben dem Mädchen zu sitzen, so sündig zumute, wenn er an morgen dachte, wo seine Intrige an den Tag kommen mußte.
»Sie kennen Mister Bredson also gar nicht?« fragte endlich Lydia, beschämt sich zu ihm wendend.
»Ich kenne ihn nicht! ...«
»So begreife ich sein Benehmen nicht. Aber er ist so jähzornig; ich habe ihm das schon oft vorgeworfen ... Was müssen Sie von uns denken, Monsieur Robert, daß wir, zwei schutzlose Mädchen, eine solche Torheit begehen konnten! Es war auch wirklich mehr Evelines Schuld, und Julie schilderte uns das auch so reizend, daß wir neugierig wurden ... Ich will Julie gewiß keinen Vorwurf machen, sie glaubte uns ja sicher unter Ihrem Schutz und konnte ein so fatales Mißverständnis unmöglich voraussehen ... Nicht wahr, Sie und Julie werden sich bald heiraten?«
Die Frage setzte Emil doch in einige Verlegenheit. Er die alte Zofe heiraten, die er durch die Salontür immer so geschwätzig hatte plaudern gehört ... Aber er war ja der Monsieur Robert, und wenn der ihm einmal begegnete, ging's ihm sicher auch mit diesem wie mit dem jähzornigen Bredson.
»Allerdings«, antwortete er gedehnt. Lydia hatte ihn dabei angeschaut, als erscheine es ihr jammerschade, daß ein so hübscher, gentiler und ritterlicher Bursche, dessen Kraft und Geistesgegenwart sie vorhin bewundert, die doch schon sicher viel ältere und recht häßliche Julie heiraten solle.
»Sie lieben sie wohl sehr?« fragte Lydia, allmählich wieder ruhig werdend.
»Allerdings!« Emil biß die Zähne zusammen und ärgerte sich über sein Erröten.
Lydia mochte auf die laue Antwort hin annehmen, daß das doch wohl nur eine Vernunftheirat sein möge.
Beide schwiegen. Der Fiaker jagte durch die Straßen, als habe er wunder was zu versäumen, und Emil sah das Ende seines Glückes nahen, als sie über die Seinebrücke rollten. Heimlich nahm er den auf seinem Bronzeroß sitzenden Ludwig zum Zeugen, daß er keine andere liebe und lieben könne als diese, in der er sich nicht getäuscht, als er aus einzelnen Symptomen bei stiller Beobachtung vermutete, daß all ihr kindlicher Übermut doch aus einem guten, herzlichen Gemüte komme, und daß nur Eveline die Verführerin sei, von der man ja behauptete, daß sie selbst im kleinen Zirkel der Kaiserin zu ausbündig erschienen.
Und warum sollt' er sie jetzt nicht lieben, nicht morgen lieben, wo er nicht mehr Monsieur Robert, sondern der Baron von Eichsfeld war! Warum nicht, da sie es doch nicht bestritten hatte, als diese viel empfänglichere und gewiß leidenschaftliche Eveline ihr zugerufen, sie finde ihn reizend, da sie derselben doch gestanden, sie fürchte sich vor ihm! Und warum?
Aber inzwischen nahte das Ende für heute. Lydia, die wieder in sich versunken und schweigsam, aber, wie er glauben wollte, mit heimlichem Herzklopfen neben ihm gesessen, sie ward unruhig. Sie schaute ihn zuweilen besorgt und fragend an. Es lag ihr etwas auf der Zunge, was sie auszusprechen nicht den Mut hatte.
»Ich wage nicht, vor unserm Hause auszusteigen!« sprach sie endlich beklommen, als sie eben den Boulevard erreichten. »Ich will den Wagen hier verlassen!«
Emil gehorchte ihrem Wunsch. Er hob sie aus dem Fiaker, und wiederum überließ Lydia ihre schlanke Taille den kräftigen Armen des jungen Arbeiters. Eine Menschenmenge wogte noch auf dem Asphalt, denn es war eben elf Uhr vorüber. Die Läden warfen zum Teil noch ihren Lichtschein über denselben, vor den Kaffeehäusern saßen noch die gewohnten Gäste.
Emil wagte nicht, ihr den Arm zu bieten. Schweigend schritten sie nebeneinander. Vor dem Hause hielt Lydia inne und legte ängstlich die Hand auf die Brust.
»Der Portier darf mich so nicht sehen«, sagte sie benommen. »Wenn ich Sie bemühen dürfte, Monsieur Robert, Julie zu benachrichtigen ...«
Auf den Wunsch war er nicht vorbereitet. Er erschrak. Das hätte noch gefehlt, wenn er, der falsche Geliebte der Zofe, es wagte ...
»Es würde vielleicht noch mehr auffallen,« sagte er bittend, »wenn ... Ziehen Sie den kleinen Schleier herab; niemand wird Sie erkennen ...«
Lydia war zu erkenntlich für all die Aufopferung des jungen Mannes, als daß sie hätte widersprechen können. Ihre Hand nestelte den Schleier aus dem bescheidenen Röschen auf dem Hut, dann reichte sie Emil die Hand.
»Tausend Dank!« sagte sie, während ein erkenntlicher Blick durch den Schleier zu ihm aufblitzte. »Ich werde Julie von all Ihrer Liebenswürdigkeit erzählen.«
So wenig ihm gerade hieran liegen konnte, er nahm die kleine Hand, er wagte, dieselbe leise zu drücken. Erschreckt entzog sie sich ihm, und Lydia eilte in das Haus.
Wie träumend stand Emil da, ihr nachschauend, sich kaum klar, ob das nicht wirklich ein Traum gewesen, Aber der Strudel der Promenierenden ließ ihn zu keiner Sammlung kommen. Als Lydia kaum im matt beleuchteten Flur verschwunden, riß er sich los und taumelte zum nächsten Kaffeehause, um sich dort auf einen der Stühle zu werfen.
»Wenn die Geschichte morgen ans Tageslicht kommt!« stöhnte er vor sich hin.