Richard Voß
Die Sabinerin
Richard Voß

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Vierzehntes Kapitel.

Marcantonia fühlte, daß ihre Füße sie nicht länger tragen konnten, sie ließ sich niederfallen, mitten in den Staub der brennenden Landstraße.

Sie schaute den Reitern nach. Es war jetzt Mittag; vor Sonnenuntergang vermochten sie Torre Paterno nicht zu erreichen. Dort mußten sie ihren erschöpften Tieren etwas Ruhe gönnen, so daß sie vor dem Morgen schwerlich in Torre San Michele sein konnten. Bis dahin war der Verfolgte, wurde er rechtzeitig gewarnt, schon längst mit dem Kind über alle Berge.

Mit dem Kinde, das er gewiß jener fremden Frau brachte, da er selbst fliehen mußte. Die fremde Frau aber sollte das Kind nicht haben.

Schauer schüttelten sie. Als der Anfall vorüber war, riß sie sich empor, schlich sie die Straße zurück. Nach einigen Stunden lag der Turm wieder vor ihr; sie hörte den Hund bellen, also waren sie von der Vogeljagd zurück. Unterwegs hatte sie sich ausgedacht, was sie thun wollte und wie sie es thun wollte. Sogleich schritt sie ans Werk.

Sie begab sich von der offnen Steppe fort nach den Ruinen des alten Ostia, wo sie sehr bald fand, was sie suchte. Auf dem Boden eines antiken Tempels lag zusammengeringelt eine große Natter. Leise näherte sie sich dem um diese Jahreszeit besonders giftigen Reptil, schlug es mit einer Gerte, die sie von einem wilden Oelstrauch abgebrochen hatte, auf den Kopf, warf ihr Schleiertuch über das betäubte Tier und schnürte es fest ein. Dann ging sie geradeswegs nach dem Turm.

Als sie in die Nähe ihrer ehemaligen Wohnung kam, erblickte sie der Hund, stürzte mit einem Freudengeheul auf sie zu und umkreiste sie in tollen Sätzen.

Das Gebell lockte Silvio aus dem Turm. Da er seine Mutter sah, wollte er wieder zurück, aber Marcantonia winkte und nickte, bis der Knabe sich ihr zaudernd näherte.

Sie legte ihren Pack und das Tuch mit der Schlange auf die Erde, setzte sich daneben und fragte Silvio nach dem Vater.

»Der schläft. Ich will ihm sagen, daß du wieder da bist.«

»Laß deinen Vater schlafen. Warst du mit ihm auf der Jagd?«

Mit leuchtenden Augen rief Silvio: »Den ganzen Sack habe ich voller Vögel; warte, ich zeige sie dir.«

»Später: jetzt bleibe bei mir.«

Ungern gehorchte er; aber da seine Mutter freundlich gegen ihn war, wurde er nach und nach zutraulich.

»Es war prächtig! So viele Vögel! Und denke dir, der Vater hat mir gesagt – –«

Aber er stockte. Marcantonia erriet, was sein Vater ihm gesagt hatte: »Daß er dich zu der fremden Frau bringen will?«

»Heute abend gehen wir nach Rom. Warum kommst du nicht mit? Die fremde Frau gibt uns süßes Gebäck. Gehst du wieder fort?«

»Ich gehe wieder fort.«

Da sah Silvio das zusammengeknotete Schleiertuch.

»Was ist in dem Tuch? Hast du mir etwas mitgebracht?«

Silvio griff nach dem Bündel, aber Marcantonia nahm es ihm fort, umschlang das Kind, öffnete das Tuch – –

Entsetzt schrie Silvio auf. Eine große Schlange war pfeilschnell in die Höhe geschossen und hatte ihn, der sich erwartungsvoll vorgebeugt, in den Arm gebissen. Obgleich das Reptil sofort im Grase verschwunden war, konnte Silvio sich von seinem Schreck gar nicht erholen, war totenblaß und zitterte am ganzen Leibe; aber seine Mutter sah ihn so seltsam an, daß er, um sie nicht wieder böse zu machen, seine Thränen unterdrückte. Er nahm sich vor, dem Vater nichts davon zu sagen, daß die Mutter ihm eine Schlange mitgebracht, die ihn gebissen hatte – der Vater sollte die Mutter nicht schlagen.

Marcantonia nahm ihren Sohn in ihre Arme, drückte seinen Kopf gegen ihre Brust, herzte und küßte ihn, was sie noch niemals gethan, und sprach leise mit ihm: »Die böse Schlange, wo hat sie meinen Silvio gebissen?«

Sie berührte die verwundete Stelle, und das Kind wimmerte laut auf. Es klagte: »Zuerst hat es gar nicht weh gethan.«

»Und jetzt thut es dir sehr weh?«

»Sehr. Aber sag's nicht dem Vater.«

Sie drückte ihn von neuem an sich, liebkoste ihn heftig, hielt ihn innig umschlungen.

Der Knabe schluchzte: »Es thut so weh, so weh!«

»Nein, nein! Sei ruhig, sei ganz ruhig!«

Allmählich wurde Silvio betäubt; Arm und Hals schwollen auf, das Gesicht glühte im Fieber, die Lippen bekamen eine bläuliche Farbe. Von Zeit zu Zeit stöhnte er jammervoll auf; seine Mutter wendete kein Auge von ihm.

Die Sonne ging unter, die Nacht brach herein. Silvio war völlig bewußtlos und röchelte schwer.

Marcantonia legte ihren Sohn nieder und betrat den Turm, wo sie die Lampe anzündete und Salvatore weckte. Mit einem Fluch sprang dieser in die Höhe.

»Du bist wieder da? Wie siehst du aus!« »Die Carabinieri suchen dich. Ich habe sie nach Paterno geschickt, aber bis Mitternacht können sie hier sein.«

»Du hast sie nach Paterno geschickt und bist zurückgekommen –«

»Du mußt gleich fort.«

»Marcantonia!«

»Du mußt fort.«

»Vergib mir.«

»Geh!«

»Wo ist der Knabe?«

»Er schläft: ich kann ihn nicht wecken.«

»Behalte das Kind.«

»Es ist tot; ich habe es umgebracht.«

»Umgebracht, du das Kind?!«

»Du wolltest es der fremden Frau bringen.«

Da schrie er gräßlich auf: »Sie hat mich verraten.«

»So gehst du nicht zu ihr?«

»Ja – um sie zu töten.«

Kurz vor Sonnenaufgang kamen die Carabinieri in Torre San Michele an. Sie fanden den Mann, nach dem sie fahndeten, entflohen. Nur das Weib war da. Aber selbst die wütenden Gensdarmen schreckten vor ihr zurück: eine Sterbende kauerte sie am Herde, im Schoße ein totes Kind.

Erst in Livorno gelang es Salvatore, Lucia zu erreichen; am nächsten Tage sollte die Gesellschaft sich nach Amerika einschiffen. Spät abends erschien er plötzlich im Zimmer der Tragödin, bei der sich ihr erster Liebhaber befand. Salvatore schloß hinter sich zu, würdigte den jungen Menschen keines Blickes und fragte Lucia mit ruhiger Stimme, ob sie es gewesen sei, die ihn der Polizei angezeigt hätte?

Ja, sie war es gewesen.

Warum sie es gethan?

Weil sie sich seiner entledigen wollte! Aber die dummen Carabinieri hatten es falsch angefangen. Statt zu warten, bis er zu ihr nach Rom gekommen, hatten sie ihn in seinem Turm aufgesucht. So war sie um das Kind gebracht worden, denn das Kind hatte sie haben wollen.

Salvatore sagte ihr, daß das Kind tot sei.

»Tot?«

»Seine Mutter hat es getötet.«

»Die Gräßliche!«

»Sie wollte nicht, daß das Kind zu dir kam; sie wollte dem Kind einen letzten Liebesdienst erweisen.«

Und er faßte nach seinem Dolch.

»Er will mich umbringen! Raffaello, rette mich!«

Aber Raffaello war feige.

Da warf sich Lucia ihm zu Füßen.

»Laß mich leben!«

Salvatore ließ sie leben. Er hatte bereits seinen Dolch nach ihr gezückt; aber als sich das Weib zu seinen Füßen wand, übermannte ihn der Ekel und – er ließ sie leben.

Trotz der ihm drohenden Gefahr begab er sich wieder nach Torre San Michele zurück; aber die er suchte, fand er nicht. Marcantonia mußte ihren toten Knaben genommen haben und davongegangen sein.

Wohin?

Wohin begibt sich ein zu Tode getroffenes, wildes Tier?

Es verkriecht sich und stirbt.


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