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Wie das alte Ostia war jetzt auch das neue Ostia eine tote Stadt, In den verlassenen Häusern und den verödeten Gassen hatte sich die Malaria niedergelassen – ein hohläugiges, gespenstisches Weib, dessen Atem Gift war und dessen Nähe Pest erzeugte. Fort waren die fremden Schnitter, nachdem ein Teil von ihnen unter der Sichel des großen Sensenmannes gefallen war; fort waren die fremden Kohlenbrenner, die in den Wäldern an den Küsten ihre Meiler errichtet hatten; auch aus Portus war geflohen, wer konnte, und wer zurückbleiben mußte, verließ des Abends den Ort und schleppte sich bis zu den ersten römischen Hügeln, auf denen die Leute an lodernden Feuern übernachteten, zufrieden, daß der Fieberhauch der Campagna einige Fuß unter ihnen dahinzog.
Im alten Ostia war der Wächter gestorben, die wunderbare Trümmerwelt lag unbehütet in der Wildnis. Zwischen den Bewohnern von Torre San Michele und den nächsten Lebendigen befand sich auf der einen Seite die wüste Steppe, auf der andern die versandete Tiberinsel, die des Sommers kaum zu überschreiten war; Apollon, welchem einst das Eiland geweiht gewesen, traf dort die Menschen mit glühenden Strahlenpfeilen aufs Haupt, daß sie tot niederstürzten, Opfer des unerbittlichen Sonnengottes.
Salvatore harrte aus. War der Tag überstanden, so geschah es bisweilen, daß er von seiner Warte aus bis zum Einbruch der Nacht hinübersah, wo, zwischen den Hügeln versunken, Rom lag. Der einsame Mann versuchte alsdann sich vorzustellen, daß in einer Entfernung von wenigen Meilen sich eine Weltstadt befand, viele Tausende von Menschen miteinander lebend, miteinander sich freuend. Er glaubte den Lärm der großen Stadt zu vernehmen, die Menge auf den Straßen sich drängen, die Cafés und Theater füllen zu sehen; auf der taghell erleuchteten Piazza Colonna zu den Klängen der Musik Eis essend und Sorbeto schlürfend: er hörte sie plaudern, scherzen, lachen – – dann geschah es wohl, daß er nicht begriff, wie er es noch immer ertragen konnte; daß er sich für toll hielt, nicht längst diesem lebendigen Tode entronnen zu sein; daß er sich vornahm, entweder ein drittes Mal zu fliehen, oder sich selbst den Gerichten auszuliefern.
Indessen diese Stimmungen vergingen, und er blieb, hielt aus. Von Zeit zu Zeit kam der Sabiner mit Lebensmitteln. Salvatore beobachtete, wie das Fieber mehr und mehr den jungen Menschen ergriff, wie seine Augen glühten, wie seine Lippen farbloser, sein Gesicht bleicher, sein Gang schleichender wurden. Und er ertappte sich auf dem Gedanken, daß er berechnete, wie lange es noch dauern könnte, bis auch dieser dem allgemeinen Schicksal von Ostias Bewohnern zum Opfer gefallen war. Was wurde aus dem Mädchen, wenn der Bruder tot war?
Vielleicht kehrte sie nach Hause zurück, oder sie lief zu den Hirten nach Portus, oder die Mönche von Crocetta nahmen sich ihrer an, oder – – er stellte sie sich vor: blutjung, so gesund, so lebensfrisch, mit solchen leuchtenden Augen, solchen roten, frischen Lippen. Sie sang und lachte. Inmitten der schrecklichen Einsamkeit und der Kirchhofsruhe tönten ihre Lieder, schallte ihr Lachen. Salvatore malte sich aus, wie es sein müßte, wenn diese kräftige, trotzige, junge Stimme in seinen öden Mauern widerhallte. Eine solche Stimme mußte das Gespenst der Einsamkeit bannen, mit dem zu leben er verdammt war.
Um ihre Stimme zu hören, ging Salvatore fast jeden Abend nach Ostia hinüber, wo man ihn nicht unfreundlich, aber gleichgültig empfing. Der Fieberluft wegen konnten sie nicht im Freien sein, sondern mußten im Hause sitzen, wo es zum Ersticken heiß war. Die qualmende Oellampe warf ein grelles Streiflicht auf die schwarzen Mauern: Marcantonia kauerte neben dem Herde und spann; Francesco lag, von Fieberschauern geschüttelt, auf dem Boden, und Salvatore saß gegenüber auf einer Bank und blickte unverwandt die junge Sabinerin an. Um ihre Stimme zu hören und zwischen ihren vollen Lippen die Zähne durchschimmern zu sehen, versuchte Salvatore sie zum Reden zu bringen, was ihm bisweilen gelang. Sie erzählte dann von ihrem Heimatsorte »da droben« im Sabinergebirge.
»Gute Luft ist bei uns und eine Quelle haben wir, kalt wie Eis. Und im Winter fällt Schnee. Dann frieren wir, und die Wölfe kommen. Wir fürchten uns aber nicht, denn wir haben Büchsen, und auch die Frauen und Mädchen bei uns können schießen. Oft machen wir Jagd auf die Wölfe. Für jedes Wolfsfell bekommen wir in Tivoli zehn Scudi; das ist viel Geld. Noch vor der Regenzeit ziehen die meisten Männer davon, ins Römische hinunter. Lange Monate sind dann die Frauen und Kinder allein; sie sammeln im Buschwald Holz für den Winter, spinnen, warten auf die Männer, beten für sie – wegen der schlechten Luft und des Fiebers – die Armen!«
Sie schwieg und beugte sich zu ihrem Bruder herab, der kein Zeichen von Teilnahme gab. Nach einer Weile fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort, immerwährend ihren Bruder anblickend und wie zu diesem redend: »Dann leisten wir der Madonna ein Gelöbnis, damit sie unsere Männer gesund wiederkommen läßt, und dann hilft die Madonna.
»Das war eine gute Zeit, als nach dem Tode unserer Eltern mein Bruder die Herden zu hüten bekam. Weil ich ganz allein war, nahm er mich mit. Wir bauten uns eine Hütte aus Ginster, kletterten mit unserm Umberto den Schafen und Ziegen nach, aßen Ricotto und sangen den ganzen Tag Ritornelli und Rispetti. Mein Bruder lehrte mich die Flöte blasen. Er selbst spielte den Dudelsack. Da spielten wir der Madonna und dem süßen Jesusknaben jeden Morgen und jeden Abend die lustigsten Stücklein vor, damit die lieben Himmlischen doch auch eine Freude hätten. So sind wir zwei immer beisammen gewesen. Später mußte Francesco mehr verdienen, und so zog er ins Römische hinunter, und weil ich ihn bat, hat er mich mitgenommen. Nicht wahr, mein Francesco, es geht uns beiden hier ganz gut; zum Winter kehren wir wieder heim und hören die Wölfe heulen und frieren.« Sie lachte auf; aber ihre Augen hatten dabei einen Ausdruck, der Salvatore unheimlich war. Er erhob sich und sagte gute Nacht. Marcantonia stand gleichfalls auf, nahm die Lampe und leuchtete ihm hinaus. Von einer Regung des Mitleids ergriffen, flüsterte Salvatore dem Mädchen zu: »Es steht nicht gut um deinen Bruder, ich werde morgen Chinin mitbringen.«
Sie lehnte ab.
»Behaltet Euer Chinin. Ich habe der Madonna ein heißes Gelübde gethan und ihr zwei große Kerzen geopfert, sie wird meinem Bruder sicherlich helfen.«
Salvatore zuckte die Achseln.
»Wie du willst. Gute Nacht!«
»Gute Nacht!«
Er blieb aber stehen. »Wenn du ein andermal für deinen Bruder Chinin willst, so komm zu mir.«
»Ich brauche kein Chinin.«
Er ging.
Wie sie will, dachte er; diesem abergläubischen Volke ist nicht zu helfen. Uebrigens würde den Burschen auch Chinin nicht mehr retten.
Als Salvatore das nächste Mal nach Ostia ging, hörte er hinter sich den Galopp eines Pferdes. Er erkannte Marcantonia auf dem Pferde ihres Bruders. Sie saß wie ein Mann im Sattel, ritt ohne Bügel und trieb den kleinen, schlanken Renner unter gellendem Zuruf mit dem Ende eines Strickes an. Während Salvatore auf sie wartete, hatte er Muße, die kecke Reiterin zu betrachten; der rote Rock schmiegte sich eng um die junge Gestalt, unter dem weißen Schleiertuche leuchtete das braune Gesicht hervor. Mit einer fast wilden Bewegung warf sie den Kopf in den Nacken und hob winkend den Arm.
Bei Salvatore angelangt, hielt sie ihr Pferd an.
»Ich habe nach den Herden gesehen und sie in den Buschwald getrieben. Es war lustig.«
»Ist dein Bruder kränker geworden?«
»Er fühlt sich schwach, der Arme. Sobald es ihm besser geht, will ich eine Wallfahrt zur Madonna del divino amore thun. Wolltet Ihr zu uns?«
»Ja, um dich zu fragen, ob ich dir in irgend etwas helfen könnte; denn wir müssen doch gute Kameradschaft halten.«
»Freilich.«
»Wenn dein Bruder sich heute so schwach fühlt, komme ich lieber ein andermal.«
»Wie Ihr wollt,« meinte sie gleichmütig, zu seinem stillen Aerger.
Sie trennten sich.
In der Nacht wurde Salvatore von den gellenden Rufen einer Frauenstimme geweckt. Er ahnte sogleich, was vorgefallen war, sprang in die Höhe, riß das Fenster auf und rief hinunter: »Was ist geschehen, Marcantonia?«
»Kommt! Mein Bruder stirbt. Helft ihm! Kommt! Kommt!«
Wenige Augenblicke später befand er sich bei ihr, die sich wie eine Wahnsinnige gebärdete. Salvatore hob sie wieder aufs Pferd, schwang sich hinter ihr auf, ergriff die Zügel und wollte den Weg nach Ostia einschlagen. Marcantonia aber rief: »Nach Crocetta zu den Mönchen! Ich weiß den Weg nicht, deshalb kam ich zu Euch. Er darf nicht sterben ohne einen Priester. Helft ihm, helft seiner Seele!«
Sie umklammerte ihn in ihrer Verzweiflung. Salvatore fühlte ihren jungen, lebenswarmen Leib gegen den seinen gepreßt, er fühlte ihren Atem an seiner Wange und ihm ward zu Mute, als ob Flammen von ihr zu ihm überströmten. Marcantonia hörte nicht auf zu jammern und zu schluchzen, bis sie das Kloster erreichten. Dasselbe lag in einer sumpfigen Niederung, als wäre es ein Heiligtum, errichtet für den Genius des Ortes, die Malaria. Die öden Mauern stiegen beim Licht der Sterne totenfarben aus dem giftigen Boden empor; das Grabesschweigen wurde nicht einmal von den Klagerufen des Kauzes unterbrochen.
Salvatore sprang vom Pferde, pochte und lärmte, bis er die drei einzigen Bewohner des furchtbaren Ortes wachgeschrieen hatte. Zuerst glaubten die Mönche, ein verfolgter Bandit suche in ihrem Heiligtum Schutz, und zauderten zu öffnen: dann meinten sie, es handle sich um einen Ermordeten, und begannen zu schelten, daß man sie deshalb geweckt hatte; was sie dabei thun sollten? Als sie endlich begriffen, daß ein Priester für einen Sterbenden verlangt wurde, erhoben sie selbander ein großes Lamento.
Atemlos horchte Marcantonia auf die Verhandlungen: sie glitt aus dem Sattel, lief zur Thür und stieß gellende Klagelaute aus, die schrill durch die Stille der Nacht drangen. Erst nachdem Salvatore dem Priester eine reichliche Spende versprochen, erklärte sich dieser zum Mitkommen bereit. Auf Marcantonias flehentliche Bitten ließ man sie in die Kirche ein; hier warf sie sich, wahrend der Mönch die Heiligtümer hervorholte, vor dem Altar nieder und schrie die Madonna an: sie sollte daran denken, was für schöne Musik sie und der Bruder ihr gemacht hatten; sie sollte daran denken, daß sie ihr um ihres Bruders willen ein Gelübde gethan, daß sie ihr zwei geweihte Kerzen geopfert und eine Wallfahrt zur Madonna del divino amore gelobt hatte. An alles das sollte die Madonna denken und ihren Bruder am Leben lassen.
Endlich war der Priester bereit. Auf Marcantonias leidenschaftliches Drängen setzte der Mönch sich auf das Pferd, welches Marcantonia, mit wildem Geschrei hinterherlaufend, antrieb. Salvatore blieb weit zurück. Er befand sich in einer Aufregung, wie er sie seit Jahren nicht gefühlt hatte; war der Bruder tot, blieb das Mädchen schutzlos allein zurück.
Der Morgen graute, als er in Ostia ankam. Er fand Francesco tot und Marcantonia in halber Raserei neben seiner Leiche, denn ihr Bruder war gestorben, ohne für die Ewigkeit versorgt worden zu sein. Salvatore bat den Mönch, ihm zu helfen, den Toten zu begraben, und noch denselben Morgen schaufelten die beiden Männer auf dem wüsten Felde, welches den Kirchhof von Ostia vorstellte, ein Grab, hüllten den Leichnam in ein Laken und legten ihn in die niedrige Grube, die sie sogleich zuwarfen und über welcher der Priester ein kurzes Gebet sprach. Dann fragte er Salvatore: »Was wird aus dem Mädchen?«
Salvatore zuckte die Achseln.