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Zehntes Kapitel

Formosante kommt bei den Gangariden an und steigt im Hause Amazans ab. Ausgezeichnetes Mahl, das man ihr serviert. Sie besucht die Mutter ihres Geliebten. Unterhaltung, die sie zusammen führen. Eine Amsel mischt sich darein und erzählt die Geschichte ihrer Reisen.

Endlich kamen sie bei den Gangariden an. Das Herz der Prinzessin klopfte von Hoffnung, Liebe und Freude. Der Phönix ließ den Wagen vor dem Hause Amazans halten; er verlangt ihn zu sprechen; aber er war vor drei Stunden weggereist, ohne daß man wußte, wohin.

Es gibt selbst in der gangaridischen Sprache keine Worte, die die Verzweiflung Formosantes auszudrücken vermöchten. »Ach! das habe ich gefürchtet,« sagte der Phönix; »die drei Stunden, die Ihr in dem Gasthof auf dem Wege von Bassora mit diesem unglückseligen König von Ägypten zubrachtet, haben Euch vielleicht für immer das Glück Eures Lebens geraubt; ich fürchte, daß wir Amazan unwiederbringlich verloren haben.« Darauf fragte er die Dienerschaft, ob sie Amazans Mutter begrüßen dürften. Man antwortete, ihr Gemahl sei am Abend vorher gestorben, und sie empfange niemanden. Der Phönix, der im Hause etwas zu sagen hatte, ließ die Prinzessin in einen Saal führen, dessen Wände mit Orangenholz und eingelegtem Elfenbein getäfelt waren. Die Unterschäfer und Unterschäferinnen, die in lange, weiße Gewänder mit rosenfarbenen Gürteln gekleidet waren, trugen in hundert Körben aus einfachem Porzellan hundert köstliche Speisen auf, unter denen kein einziger Leichnam versteckt war: Reis, Sago, Grieß, Nudeln, Makkaroni, Omelettes, Eier in Milch, Rahmkäse, Bäckereien aller Art, Gemüse, Früchte mit einem Aroma und einem Geschmack, von denen man unter andern Himmelsstrichen keine Ahnung hat; dann ein Überfluß an erfrischenden Likören, die herrlicher waren als die besten Weine.

Während die Prinzessin auf einem Rosenbett lag und aß, fächelten vier glücklicherweise stumme Pfauen sie mit ihren glänzenden Flügeln; zweihundert Vögel, hundert Schäfer und hundert Schäferinnen brachten ihr ein Konzert in zwei Chören, Nachtigallen, Finken, Grasmücken und Stieglitze sangen die obere Stimme zusammen mit den Schäferinnen; die Schäfer sangen Alt und Baß: alles war schöne und einfache Natur. Die Prinzessin gestand, daß, wenn auch in Babylon mehr Pracht herrschte, bei den Gangariden dafür die Natur tausendmal anmutiger war. Doch weinte sie, während man ihr diese tröstende und wollüstige Musik darbrachte, und sagte zu der jungen Irla, ihrer Begleiterin: »Diese Schäfer und Schäferinnen, diese Nachtigallen und Finken erglühen alle in Liebe, nur ich bin des gangaridischen Helden beraubt, des Gegenstandes meiner zärtlichsten, ungeduldigsten Wünsche.«

Während sie also speiste, bewunderte und weinte, sagte der Phönix zu der Mutter Amazans: »Teure Frau, Ihr könnt es nicht umgehen, die Prinzessin von Babylon zu empfangen; Ihr wißt ...«

»Ich weiß alles«, sagte sie, »bis zu dem Abenteuer im Gasthof auf dem Wege nach Bassora; eine Amsel hat mir heute früh alles erzählt. Diese grausame Amsel ist schuld, daß mein Sohn aus Verzweiflung wahnsinnig geworden ist und sein Vaterhaus verlassen hat.«

»Ihr wißt also nicht,« entgegnete der Phönix, »daß die Prinzessin mich wieder auferstehen ließ?«

»Nein, teures Kind; ich wußte durch die Amsel, daß du tot seiest, und war untröstlich. So sehr betrübte mich dieser Verlust, der Tod meines Gemahls, die plötzliche Abreise meines Sohnes, daß ich niemanden vorzulassen befahl; da aber die Prinzessin von Babylon mir die Ehre erweist, mich zu besuchen, laßt sie schnellstens eintreten; ich habe ihr Dinge von entscheidender Wichtigkeit zu sagen und will, daß du dabei seist.« Sie ging sogleich in einen andern Saal, der Prinzessin entgegen. Sie hatte keinen leichten Gang: sie war eine Dame von ungefähr dreihundert Jahren. Aber man sah noch Spuren ihrer Schönheit und daß sie gegen ihr zweihundertunddreißigstes bis vierzigstes Jahr reizend gewesen sein mußte. Sie empfing Formosante mit achtunggebietender Vornehmheit, die gemischt war mit einem Ausdruck der Teilnahme und des Schmerzes, der einen tiefen Eindruck auf die Prinzessin machte.

Formosante drückte zuerst ihr Beileid aus über den Tod ihres Gemahls. »Ach!« sagte die Witwe, »Ihr werdet noch mehr Anteil an diesem Verlust nehmen als Ihr denket.«

»Ich bin natürlich tief ergriffen davon,« sagte Formosante, »er war ja der Vater von ...« Bei diesen Worten weinte sie. »Seinetwegen allein bin ich gekommen, trotz aller Gefahren. Für ihn verließ ich meinen Vater und den glänzendsten Hof der Welt. Ich wurde von einem König von Ägypten entführt, den ich verabscheue. Als ich diesem Räuber entgangen war, durchkreuzte ich die Lüfte, um ihn, den ich liebe, zu sehen; ich komme an, und er flieht mich!« Tränen und Schluchzen hinderten sie, weiterzusprechen.

Darauf sagte die Mutter: »Prinzessin, als der König von Ägypten Euch umwarb, als Ihr mit ihm in einem Gasthaus auf dem Wege nach Bassora speistet, als Eure schönen Hände ihm Wein von Schiras einschenkten, erinnert Ihr Euch nicht an eine Amsel, die im Zimmer umherflog?«

»Wirklich, ja. Ihr bringt sie mir in Erinnerung; ich schenkte ihr keine Aufmerksamkeit. Wenn ich mich jetzt aber zurückbesinne, so erinnere ich mich wohl, daß in dem Augenblick, da der König von Ägypten sich von der Tafel erhob, um mir einen Kuß zu geben, eine Amsel mit lautem Schrei aus dem Fenster flog und nicht wiederkam.«

»Ach, Prinzessin,« sagte die Mutter Amazans, »das eben ist die Ursache unsres Unglücks. Mein Sohn hatte diese Amsel ausgeschickt, um Eure Gesundheit und alles, was sich in Babylon zutrug, zu erkunden: er hoffte, bald zurückzukehren, um sich Euch zu Füßen zu werfen und Euch sein Leben zu weihen. Ihr wißt nicht, wie über alle Maßen er Euch anbetet. Alle Gangariden sind verliebt und treu; aber mein Sohn ist der leidenschaftlichste und beständigste von allen. Die Amsel traf Euch in einem Gasthaus; Ihr tranket ausgelassen mit dem König von Ägypten und einem eklen Priester; sie sah Euch schließlich diesem Monarchen einen zärtlichen Kuß geben, ihm, der den Phönix getötet hatte, und gegen den mein Sohn einen unauslöschlichen Abscheu hegt. Die Amsel wurde bei diesem Anblick von begreiflicher Empörung erfaßt; sie flog davon und verfluchte Eure unselige Liebe. Heute ist sie zurückgekommen und hat alles erzählt; aber in welchem Augenblick, gerechter Himmel! Mein Sohn beweinte mit mir den Tod seines Vaters und den des Phönix und hatte eben von mir erfahren, daß er Euer Vetter sei!«

»O Himmel! Mein Vetter! Ist es möglich? Durch welchen abenteuerlichen Zufall? Wie? Wieso? Ich sollte so glücklich sein und zugleich so unglücklich, ihn gekränkt zu haben?«


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