Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Seltsame Gedanken des Hofes und der Prinzessin Aldea über die Abreise des Siegers und seinen Stand. Das Orakel wird von neuem über die Heirat Formosantes befragt. Seine doppelsinnige Antwort
Jedermann sprach von diesem seltsamen Abenteuer und zerbrach sich den Kopf mit nichtigen Vermutungen. Wie kann der Sohn eines Hirten vierzig große Diamanten verschenken? Warum ist er auf einem Einhorn gekommen? Man verlor sich in diesen Fragen; Formosante liebkoste ihren Vogel und versank in tiefe Träumerei.
Ihre Base, Prinzessin Aldea, die sehr gut gewachsen und fast ebenso schön war wie Formosante, sagte zu ihr: »Meine Liebe, ich weiß nicht, ob dieser junge Halbgott der Sohn eines Hirten ist; aber mir scheint, er hat alle Bedingungen erfüllt, die an deine Vermählung geknüpft sind. Er hat den Bogen des Nimrod gespannt, er hat den Löwen besiegt, er hat viel Geist, da er ein hübsches Stegreifgedicht auf dich gemacht hat; und nach den vierzig ungeheuren Diamanten, die er dir gegeben hat, kannst du nicht leugnen, daß er der freigebigste aller Menschen ist. Er besaß in seinem Vogel die größte Seltenheit der Erde. Seine Tugend erwies sich als unvergleichlich, denn er, der hier bei dir hätte bleiben können, ist ohne zu zögern fortgeeilt, als er erfuhr, daß sein Vater erkrankt sei. Das Orakel ist in allen Teilen erfüllt, jenen einzigen ausgenommen, der fordert, daß er seine Nebenbuhler niederwerfe; aber er hat mehr getan: er hat das Leben des einzigen Bewerbers, den er fürchten konnte, gerettet; und was den Sieg über die anderen zwei betrifft, so brauchst du wohl nicht zu zweifeln, daß er leicht zum Ziel gekommen wäre.«
»Alles, was du sagst, ist sehr wahr,« antwortete Formosante; »aber ist es möglich, daß der außergewöhnlichste und wahrscheinlich liebenswerteste aller Männer der Sohn eines Hirten ist?«
Die Ehrendame mischte sich in die Unterhaltung und meinte, das Wort »Hirte« oder »Schäfer« werde sehr oft auf Könige angewandt. Man nenne sie Schäfer, weil sie ihre Herde gerne scheren. Sicher handle es sich um einen schlechten Spaß des Bedienten, und der junge Held sei nur mit so einfachem Geleit gekommen, um zu zeigen, wie sehr sein persönliches Verdienst über dem leeren Gepränge der Könige stehe, und daß er Formosante einzig sich selber verdanken wolle. Die Antwort der Prinzessin bestand in tausend zärtlichen Küssen, die sie ihrem Vogel gab.
Inzwischen wurde ein großes Gastmahl für die drei Könige und alle Fürsten, die zum Feste gekommen waren, vorbereitet. Die Tochter und die Nichte des Königs sollten die Gäste empfangen. Die Könige wurden beschenkt, wie es der Würde Babylons entsprach. Vor dem Mahle versammelte Belus seinen Rat wegen der Vermählung Formosantes. Hier sprach er als großer Politiker diese Worte:
»Ich bin alt, ich weiß mir keinen Rat, weiß nicht, wem ich meine Tochter geben soll. Der, welcher sie verdiente, ist ein niederer Hirte, der indische und der ägyptische König sind Hasenfüße. Der König der Skythen würde mir einigermaßen zusagen, aber er hat keine der Bedingungen erfüllt. Ich werde das Orakel noch einmal befragen. Inzwischen überleget alles, und dann werden wir uns nach dem Spruch des Orakels entschließen: ein König soll nur nach dem klaren Willen der unsterblichen Götter handeln.«
Darauf geht er in seine Kapelle. Das Orakel antwortet, seiner Gewohnheit entsprechend, in wenigen Worten:
»Deine Tochter wird sich nicht vermählen, bevor sie die Welt durchwandert haben wird.« Verwundert kehrt Belus in den Rat zurück und berichtet diese Antwort.
Alle Minister hatten tiefen Respekt vor Orakeln; alle waren darin einig oder gaben vor, es zu sein, daß sie die Grundlage der Religion seien; daß die Vernunft vor ihnen zu schweigen habe; daß durch sie Könige über Völker und Magier über Könige herrschten; daß ohne Orakel weder Frieden noch Tugend auf der Erde sei. Nachdem sie so im allgemeinen ihre tiefste Ehrerbietung vor den Orakeln bezeugt, kamen sie fast alle zu dem Schlusse, daß dieses hier anmaßend sei und man ihm nicht zu folgen brauche. Könne es für ein Mädchen und gar die Tochter des großen Königs von Babylon etwas Unpassenderes geben, als ohne Ziel in der Welt umherzuirren? Und sei dies nicht das einzige Mittel, niemals zu einer Vermählung oder höchstens zu einer heimlichen, schimpflichen und lächerlichen zu kommen? Mit einem Wort, dieser Orakelspruch sei ohne jeden gesunden Menschenverstand.
Der jüngste der Minister, mit Namen Onadases, der mehr Geist als die andern hatte, meinte, das Orakel verstünde sicher irgendeine Wallfahrt darunter; er biete sich als Führer der Prinzessin an. Der Rat stimmte seiner Meinung zu; doch wollte ein jeder Führer sein. Der König bestimmte, daß die Prinzessin dreihundert persische Meilen auf der Straße nach Arabien zu einem Tempel pilgern solle, dessen Heiliger den Ruf hatte, den Mädchen glückliche Ehen zu verschaffen; der Älteste des Rates sollte sie begleiten. Nach dieser Entschließung ging man zum Mahle.