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Fünftes Kapitel

Der wunderbare Vogel spricht mit Formosante; er erzählt ihr seine Geschichte. Beschreibung des Landes der Gangariden, aus dem sein Freund Amazan stammt. Vergeblicher Zug eines Königs von Indien wider jenes Land. Reichtum, Kriege und Religion dieses Landes. Ratschläge des Vogels für die Prinzessin

Lange schon hatte die unvergleichliche Formosante sich schlafengelegt. Neben ihrem Bett stand ein kleiner Orangenbaum in einem silbernen Kübel, worauf ihr Vogel ausruhen sollte. Die Bettvorhänge waren zugezogen; aber sie hatte keine Lust zu schlafen; ihr Herz und ihre Phantasie waren zu wach. Der reizende Unbekannte stand ihr vor Augen; sie sah ihn, wie er einen Pfeil mit dem Bogen des Nimrod spannte; sie erblickte ihn, wie er den Kopf des Löwen abhieb; sie sagte sich sein Madrigal vor; und sie gewahrte ihn schließlich, wie er sich der Menge auf seinem Einhorn entzog. Da brach sie in Tränen aus und rief: »Ich werde ihn also nie wiedersehen; er wird nicht wiederkommen!«

»Er wird wiederkommen, Prinzessin,« antwortete der Vogel von der Höhe seines Baumes herab; »kann man Euch gesehen haben und nicht wiederkommen?«

»O Himmel! O himmlische Mächte! mein Vogel spricht reines Chaldäisch!«

Bei diesen Worten zieht sie die Vorhänge zurück, hält ihm die Arme hin und kniet auf ihrem Bett: »Bist du ein Gott, der auf die Erde herabgestiegen ist? Bist du der große Ormuzd, der sich unter diesem schönen Gefieder versteckt? Wenn du ein Gott bist, gib mir diesen schönen jungen Mann wieder!«

»Ich bin nur ein fliegendes Tier,« versetzte der andere; »aber ich kam zur Welt zu jener Zeit, da alle Tiere noch sprachen und Vögel, Schlangen, Eselinnen, Pferde und Greifen sich vertraulich mit Menschen unterhielten. Ich wollte nicht vor der Gesellschaft sprechen aus Furcht, daß Eure Ehrendamen mich für einen Zauberer halten möchten: ich will mich nur Euch entdecken.«

Formosante war bestürzt, verwirrt und berauscht von so viel Wundern. Beseelt von dem Eifer, hundert Fragen auf einmal zu tun, fragte sie ihn zuerst nach seinem Alter. »Siebenundzwanzigtausendneunhundert und ein halbes Jahr, Prinzessin, ich bin so alt wie die kleine Himmelsrevolution, die eure Magier das Vorrücken der Tag- und Nachtgleiche nennen, und die sich in etwa achtundzwanzigtausend eurer Jahre vollzieht. Es gibt noch unendlich viel längere Revolutionen; auch gibt es viel ältere Wesen, als ich bin. Zweiundzwanzigtausend Jahre ist es her, seit ich auf einer meiner Reisen Chaldäisch lernte; ich habe immer viel Vorliebe für die chaldäische Sprache gehabt; aber die anderen Tiere, meine Mitbrüder, haben in eurer Gegend darauf verzichtet, zu reden.«

»Und warum, mein göttlicher Vogel?«

»Ach! weil die Menschen die Gewohnheit annahmen, uns zu essen, anstatt sich mit uns zu unterhalten und von uns zu lernen. Die Barbaren! müßten sie nicht überzeugt sein, daß wir, die dieselben Gefühle, Bedürfnisse, Wünsche haben wie sie, auch das, was man Seele nennt, besitzen, daß wir ihre Brüder sind, daß man höchstens die Bösen kochen und essen sollte? So sehr sind wir eure Brüder, daß das große Wesen, das ewige, schaffende Wesen, uns bei seinem Pakt mit den Menschen ausdrücklich im Vertrag erwähnt hat. Er verbietet euch, mit unserm Blute euch zu nähren und uns, das eure zu schlürfen.

Die Fabeln eures alten Lokman, die in so viel Sprachen übersetzt sind, werden ein ewiges Zeugnis des glücklichen Verkehrs sein, den ihr ehemals mit uns gepflogen habt. Sie beginnen alle mit den Worten: ›Zur Zeit, als die Tiere noch sprachen.‹ Es ist wahr, es gibt unter euch Frauen viele, die immer mit ihren Hunden sprechen; aber die Hunde haben beschlossen, nicht zu antworten, seit man sie mit Peitschenhieben gezwungen hat, auf die Jagd zu gehen und Mitschuldige am Mord unserer alten, gemeinsamen Freunde, der Hirsche, Damhirsche, Hasen und Rebhühner zu werden.

Auch habt ihr alte Gedichte, in denen die Pferde sprechen, und eure Kutscher richten täglich das Wort an sie; aber dies geschieht mit so viel Grobheit und mit solch abscheulichen Ausdrücken, daß die Pferde, die euch früher so sehr liebten, euch heute verabscheuen.

Das Land, in dem euer reizender Unbekannter wohnt, dieser vollkommenste aller Menschen, ist das einzige, in dem euer Geschlecht noch das unsere liebt und mit ihm spricht; es ist die einzige Gegend der Erde, wo die Menschen gerecht sind.«

»Und wo ist es, dieses Land meines teuren Unbekannten? Wie heißt dieser Held? Wie nennt sich sein Reich? Denn ich glaube so wenig, daß er ein Hirte ist, wie ich glaube, daß du eine Fledermaus bist.«

»Sein Land, o Fürstin, ist das der Gangariden, eines tugendhaften und unbesiegbaren Volkes, das das östliche Ufer des Ganges bewohnt. Der Name meines Freundes ist Amazan. Er ist nicht König, und ich weiß sogar nicht, ob er sich herablassen würde, einer zu werden. Er liebt seine Landsleute zu sehr; er ist Hirte wie sie. Aber stellt Euch nicht vor, daß diese Hirten den eurigen gleichen, die, kaum mit zerrissenen Lumpen bedeckt, Schafe hüten, die unendlich besser gekleidet sind als sie; die unter der Last der Armut seufzen und die Hälfte des kärglichen Lohnes, den sie von ihren Herren erhalten, einem Steuereinnehmer zahlen müssen. Die gangaridischen Hirten sind alle gleichgeboren und Herren der unzähligen Herden, die ihre ewig blühenden Wiesen bedecken. Man tötet sie niemals: es ist ein ungeheures Verbrechen im Lande des Ganges, seinesgleichen zu töten und zu essen. Ihre Wolle, die feiner und glänzender als die schönste Seide ist, bildet den wichtigsten Handelsgegenstand des Orients. Außerdem bringt das Land der Gangariden alles hervor, was Menschen sich nur wünschen können. Die großen Diamanten, die Amazan die Ehre hatte, Euch zu schenken, stammen aus einer Mine, die ihm gehört. Das Einhorn, das Ihr ihn besteigen sahet, ist das gewöhnliche Reittier der Gangariden. Es ist das schönste, stolzeste, furchtbarste und sanfteste Tier, das diese Erde ziert. Hundert Gangariden und hundert Einhörner würden genügen, um unzählige Heere auseinanderzutreiben. Vor etwa zwei Jahrhunderten war ein König von Indien so vermessen, diese Nation besiegen zu wollen; er kam mit zehntausend Elefanten und einer Million Krieger. Die Einhörner durchbohrten die Elefanten, ähnlich wie ich an Eurer Tafel Lerchen auf goldenen Bratspießen aufgereiht sah. Die Krieger fielen unter dem Säbel der Gangariden, wie Reisbüschel von den Händen orientalischer Völker abgeschnitten werden. Man nahm den König gefangen mit mehr als sechshunderttausend Mann. Man badete ihn in dem heilsamen Wasser des Ganges; man verordnete ihm die Diät des Landes, die darin besteht, sich nur von Pflanzen zu nähren, die von der Natur hervorgebracht worden sind, damit alles, was atmet, erhalten werde. Menschen, die von Fleisch und starken Getränken leben, haben alle scharfes, entzündetes Blut, das sie auf hundert verschiedene Arten zu Narren macht. Ihr Hauptwahnsinn ist der, das Blut ihrer Brüder zu vergießen und fruchtbare Landstriche zu verwüsten, um über Friedhöfe zu herrschen. Man brauchte sechs volle Monate, um den König der Inder von seiner Krankheit zu heilen. Als die Ärzte endlich fanden, daß der Puls langsamer und der Geist beruhigter geworden war, stellten sie darüber ein Zeugnis aus für den Rat der Gangariden. Dieser Rat fragte die Einhörner um ihre Meinung und schickte darauf den König von Indien, seinen dummen Hof und seine blöden Krieger menschlicherweise in sein Land zurück. Diese Lektion machte sie klug. Seit dieser Zeit achten die Inder die Gangariden, ähnlich wie bei euch Unwissende, die sich unterrichten wollen, chaldäische Philosophen schätzen, denen sie nicht gleichkommen können.«

»Da fällt mir ein, mein teurer Vogel,« sagte die Prinzessin, »gibt es auch eine Religion bei den Gangariden?«

»Ob es eine gibt, Fürstin! Wir versammeln uns in der Zeit des Vollmondes, um Gott zu danken, die Männer in einem großen Tempel aus Zedernholz, die Frauen in einem andern, damit sich niemand zerstreue; alle Vögel in einem Gehölz, die Vierfüßler auf einem schönen Anger; wir danken Gott für alles Gute, das er uns erwiesen hat. Besonders Papageien haben wir, die wunderbar predigen.

Dies ist das Vaterland meines lieben Amazan; dort wohne ich; ich hege ebensoviel Freundschaft für ihn, wie er Euch Liebe eingeflößt hat. Wenn Ihr mir folgen wollt, so lasset uns zusammen abreisen, und Ihr werdet seinen Besuch erwidern.«

»Wahrlich, mein Vogel, Ihr treibt da ein hübsches Handwerk«, antwortete lächelnd die Prinzessin, die vor Lust brannte, die Reise zu machen und es nur nicht zu sagen wagte.

»Ich diene meinem Freund,« sagte der Vogel; »nach dem Glücke, Euch zu lieben, weiß ich kein höheres als Eurer Liebe zu dienen.«

Formosante wußte nicht mehr, woran sie war; sie glaubte sich über die Erde hinweggehoben. Alles, was sie an diesem Tage gesehen hatte, alles, was sie noch sah, alles, was sie hörte, vor allem aber, was sie in ihrem Herzen empfand, stürzte sie in ein Entzücken, das jenes weit übertraf, das heute glückliche Muselmänner fühlen, wenn sie, von allen irdischen Banden befreit, sich in den Armen ihrer Huris im neunten Himmel befinden, umgeben und durchdrungen von himmlischem Glanz und himmlischer Glückseligkeit.


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