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Es ging auf neun Uhr. Musketenfeuer, Gelärm, Musik, Alles war plötzlich verstummt. Die Menge begann sich zu verlaufen, die Einen kehrten nach Tripoli zurück, die Anderen suchten die Oase von Mendschjeh und die benachbarten Ortschaften zu erreichen. Ehe eine Stunde um war, lag die Ebene von Sung-Ettelateh schweigsam und verlassen da. Die Zelte waren zusammengelegt, die Lagerstätten abgebrochen worden, die Neger und Araber hatten sich schon auf den Marsch nach ihren Provinzen in Tripolis gemacht, während die Senusisten sich der Cyrrhenäischen Halbinsel und namentlich Ben-Ghazi zuwendeten, woselbst sich alle Streitkräfte des Kalifen sammeln sollten.
Der Doctor Antekirtt, Peter und Luigi nur beabsichtigen den Platz während der ganzen Nacht nicht zu verlassen. Auf jedes Ereigniß seit dem Verschwinden Pointe Pescade's gefaßt, hatte Jeder von ihnen alsbald seinen Beobachtungsposten am Fuße der Mauern des Hauses von Sidi Hazam selbst gewählt.
Pointe Pescade, der mit einem staunenswerthen Satz in dem Augenblick, als Kap Matifu die Stange mit gestreckten Armen hielt, sich abgeschnellt hatte, war auf den Kranz einer der Terrassen gefallen, welche das die verschiedenen Höfe des Hauses beherrschende Minaret umgaben.
Inmitten der dunklen Nacht hatte ihn Niemand weder von außen noch vom Hause aus sehen können, nicht einmal von der Skifa; diese lag auf dem zweiten Patio, in welchem eine Anzahl von Khuans, theils schlafend, theils auf Befehl des Moyaddem wachend vereinigt war.
Pointe Pescade konnte begreiflicher Weise sich keinen feststehenden Plan zurechtgelegt haben, denn die verschiedenartigsten Umstände konnten eintreten und das Luftgebäude über den Haufen werfen. Die innere Eintheilung des Hauses Sidi Hazam's war ihm nicht bekannt, er wußte ferner nicht, wo das junge Mädchen eingeschlossen war, ob sie allein sich befand oder bewacht wurde und ob ihr die physische Kraft zur Flucht nicht abgehen würde. Er sah sich deshalb genöthigt, auf gut Glück vorzugehen. Seine Ueberlegungen lauteten:
»Ich muß vor Allem, entweder mit List oder Gewalt zu Sarah Sandorf dringen. Wenn sie mir nicht unverzüglich folgen kann, wenn es mir nicht gelingt, sie heute Nacht noch zu entführen, so soll sie wenigstens erfahren, daß Peter Bathory am Leben, daß er hier, am Fuße dieser Mauern sich befindet, und daß Doctor Antekirtt und seine Genossen bereit sind, ihr zu Hilfe zu kommen; schließlich daß sie, wenn die Flucht nicht so schnell zu ermöglichen ist, keiner Drohung nachgeben soll ... Es ist ja allerdings möglich, daß ich, noch ehe ich sie sehen und sprechen kann, überrascht werde ... Doch dann habe ich noch immer Zeit, andere Entschlüsse zu fassen.«
Er sprang über die Brustwehr, eine Art weißschimmernden Wulstes, den Mauerzinnen durchbrachen. Seine erste Sorge war es nun, einen dünnen, mit Knoten versehenen Strick abzuwickeln, welchen er unter seinem leichten Clowngewand verborgen gehabt hatte; er befestigte das eine Ende an einer der Zinnen, so daß es außerhalb der Mauer bis zum Boden hinabhing. Es war das eine Vorsichtsmaßregel, die nur gutzuheißen war. Darauf wagte sich Pointe Pescade weiter vor und zwar kroch er auf dem Bauche die Brustwehr entlang. In dieser Stellung, welche ihm die Klugheit eingab, lauschte er mit angehaltenem Athem. Wenn er gesehen worden wäre, hätten die Leute Sidi Hazam's gewiß bereits die Mauer erstiegen, und in diesem Falle konnte er für sein Theil schwerlich den Strick benützen, aus dem er ein Rettungsmittel für Sarah Sandorf hatte machen wollen.
Ein tiefes Schweigen herrschte im Hause des Moyaddem. Da weder Sidi Hazam, noch Sarcany, noch die Leute des Ersteren Theil an dem Feste der Störche genommen hatten, so hatte sich die Thür der Zauiya seit Sonnenaufgang noch nicht geöffnet.
Nachdem Pointe Pescade einige Minuten gewartet, rutschte er nach der Ecke hin, in welcher das Minaret aufstieg. Die Treppe, welche den oberen Theil dieses Minarets zugänglich machte, führte jedenfalls zum Erdboden des ersten Patio hinunter. Eine Thür, die auf die Terrasse führte, ermöglichte das Herabsteigen zu den Erdgeschossen der inneren Höfe.
Diese Thür war von innen verschlossen, nicht mittelst eines Schlüssels – sondern mit einem Riegel, der von außen nur aufgestoßen werden konnte, wenn ein Loch in den Thürflügel gebohrt wurde. Mit dieser Arbeit hätte Pointe Pescade ganz gewiß fertig werden können, denn in seiner Tasche steckte ein mit den verschiedenartigsten Klingen versehenes Messer, ein kostbares Geschenk des Doctors, das er gut gebrauchen konnte. Aber die Arbeit hätte längere Zeit in Anspruch genommen und wahrscheinlich ein Geräusch verursacht.
Sie war auch unnöthig. Denn in einer Höhe von drei Fuß über der Terrasse befand sich in der Mauer des Minarets ein Lichtfenster in Form einer Schießscharte. Es hatte zwar nur einen sehr geringen Durchmesser, aber auch Pointe Pescade war nur dünn. Besaß er im Uebrigen nicht auch die Gewandtheit einer Katze, die im Stande ist, ihren Körper zu verlängern, wenn sie einen kaum passirbar erscheinenden Weg zu nehmen wünscht? Er versuchte und mit einigen Abschürfungen der Schulter ging es: er befand sich bald im Innern des Minarets.
»Das hätte Kap Matifu gewiß nicht fertig bekommen,« konnte er zu sich selbst mit vollem Rechte sagen.
Er tastete sich bis zur Thür, deren Riegel er zurückschob, um sie offen vorzufinden, wenn es nöthig sein sollte, auf demselben Wege zurückzukehren.
Er stieg die Wendeltreppe des Minarets hinunter und zwar ließ er sich gleiten, so daß er die Holzstufen kaum zu berühren brauchte, die vielleicht unter seinen Tritten geknarrt hätten. Unten angelangt, sah er wiederum eine verschlossene Thür vor sich, doch diese brauchte er nur aufzustoßen, damit sie sich öffnete.
Diese Thür führte auf eine Colonnadenreihe, welche nur den ersten Patio einschloß; in ihr mündeten eine Anzahl Zimmer. Nach der auf der Treppe herrschenden vollständigen Dunkelheit erschien diese Umgebung in einem doppelt so hellen Lichte. Im Uebrigen zeigte sich im Innern weder ein Licht noch hörte man irgend etwas.
In der Mitte des Patio befand sich ein rundes Springbrunnenbassin, umgeben von großen Blumenkübeln, aus denen die verschiedenartigsten Staudengewächse, Pfeffersträuche, Palmen, Rosenlorbeer, Cactusse sproßten, deren dichtes Grün einen Wald um den Rand des Bassins zu bilden schien.
Pointe Pescade schlich mit den Tritten eines Wolfes durch die Gallerie, indem er vor jedem Zimmer stehen blieb. Sie schienen unbewohnt zu sein. Doch nicht alle, denn hinter der Thür eines der letzten ließ sich ein Gemurmel menschlicher Stimmen vernehmen.
Pointe Pescade wich zunächst zurück. Es war Sarcany's Stimme – dieselbe, die er in Ragusa mehrfach vernommen hatte; obwohl er sein Ohr an die Thür legte, konnte er doch nichts von dem, was dort im Zimmer verhandelt wurde, vernehmen.
Jetzt ließ sich ein stärkeres Geräusch vernehmen. Blitzschnell eilte Pointe Pescade zurück und duckte hinter einem der großen, um das Bassin vertheilten Blumenkübel nieder.
Sarcany öffnete soeben die Thür des betreffenden Zimmers. Ein hochgewachsener Araber begleitete ihn. Beide setzten ihre Unterhaltung bei ihrem Spaziergange in der Galerie des Patio fort.
Unglücklicherweise konnte Pointe Pescade nicht verstehen, wovon sich Sarcany und sein Begleiter unterhielten, denn sie bedienten sich der arabischen Sprache, deren er nicht mächtig war. Zwei Worte jedoch schlugen an sein Ohr, die er verstand: der Name Sidi Hazam's – es war in der That der Moyaddem selbst, der mit Sarcany plauderte – und derjenige Antekirtta's, der mehrfach in der Unterhaltung wiederkehrte.
»Das ist zum Mindesten befremdlich, sagte sich Pointe Pescade. Warum sprechen sie von Antekirtta? ... Sollten Sidi Hazam, Sarcany und alle Piraten von Tripolis wirklich eine Expedition gegen unsere Insel unternehmen wollen? Tausend Teufel! Muß man auch gerade nichts von der Sprache verstehen, welche die beiden Schufte dort reden!«
Pointe Pescade gab sich Mühe, noch ein anderes verdächtiges Wort aufzufangen, während er sich ganz in die Pflanzen verkroch, als Sarcany und Sidi Hazam sich dem Bassin näherten. Die Nacht war so dunkel, daß sie ihn nicht sehen konnten.
»Wenn Sarcany noch allein in diesem Hofe gewesen wäre, sprach er weiter zu sich, dann hätte ich ihm an die Gurgel springen und ihn unschädlich machen können. Damit wäre aber Sarah Sandorf allerdings nicht geholfen gewesen und ihretwegen habe ich eigentlich den wagehalsigen Sprung unternommen ... Geduld ... Sarcany kommt später an die Reihe.«
Die Unterhaltung Sidi Hazam's mit Sarcany dauerte vielleicht zwanzig Minuten. Der Name Sarah's wurde wiederholt ausgesprochen und zwar stets mit dem Zusatze eines arabischen Wortes, welches, wie er öfter gehört, die Bedeutung »verlobt« hat. Der Moyaddem kannte ersichtlich Sarcany's Pläne und lieh diesem hilfreiche Hand.
Dann zogen sich beide Männer durch eine der Eckthüren des Patio zurück, welche diese Gallerie mit den anderen Flügeln in Verbindung setzte.
Sobald sie verschwunden waren, glitt auch Pointe Pescade diese Galerie entlang und blieb vor derselben Thür stehen. Er stieß sie auf und befand sich vor einem schmalen Gange, welchem er folgte, indem er an der Mauer entlang tastete. An seinem Ende breitete sich eine doppelte Arkade aus; sie wurde von einer Centralsäule getragen, die den Eingang zum zweiten Hofe vermittelte.
Helles Licht strahlte aus den Oeffnungen der Skifa, die auf den Patio hinausführten und spiegelte seine Reflexe auf dem Boden wider. Es wäre nicht gerathen gewesen, sie jetzt zu überschreiten. Ein Gemurmel zahlreicher Stimmen wurde hinter der geschlossenen Thür dieses Saales vernehmbar.
Pointe Pescade zögerte einen Augenblick. Was er suchte, war das Zimmer, in welchem Sarah gefangen gehalten wurde; er konnte kaum noch darauf zählen, daß es der Zufall ihm entdeckte.
Plötzlich tauchte grell ein Licht am anderen Ende des Hofes auf. Eine Frau, die eine arabische, mit Kupferzierrathen und Scheiben ausgestattete Laterne trug, kam aus einem in der gegenüberliegenden Ecke des Patio befindlichen Zimmer und ging durch die Galerie, auf welche sich die Thür der Skifa öffnete.
Pointe Pescade erkannte diese Frau sofort wieder ... es war Namir.
Da es möglich war, daß diese sich in das Zimmer begab, in welchem sich das junge Mädchen befand, so mußte ein Mittel erdacht werden, welches ermöglichte, ihr zu folgen, und um ihr zu folgen, mußte sie vorübergelassen werden, ohne daß sie ihn bemerken konnte. Dieser Augenblick mußte über das kühne Unterfangen Pointe Pescade's und über das Schicksal Sarah Sandorf's entscheiden.
Namir kam näher. Ihre, fast den Boden erreichende, Laterne tauchte die obere Partie der Galerie in um so größere Dunkelheit, je heller das Mosaikpflaster beleuchtet war. Da sie unter den Arkaden entlang gehen mußte, so wußte Pointe Pescade in der That nicht, was er beginnen sollte; plötzlich zeigte ihm ein aus der Laterne fallender Strahl, daß der obere Theil der Arkade aus durchbrochenen Arabesken in maurischem Geschmacke bestand.
Auf die Mittelsäule klettern, sich an eine der Arabesken klammern, mit Hilfe der Armmuskeln einen Aufzug machen, sich um den Säulenschaft legen und dort unbeweglich wie ein Heiliger in seiner Nische verharren, war für Pointe Pescade das Werk eines Augenblickes.
Namir ging unter ihm vorüber, ohne ihn zu sehen und erreichte die gegenüberliegende Seite der Galerie. Vor der Thür der Skifa angekommen, öffnete sie diese.
Ein blendender Lichtstrahl fiel in den Hof und erlosch sofort, als sich die Thür wieder geschlossen hatte.
Pointe Pescade überlegte – hätte er einen besseren Ort dazu finden können, als den unfreiwillig gewählten?
»Namir ist also in diesen Saal gegangen, meinte er. Ersichtlich wird sie sich nicht in Sarah Sandorf's Zimmer begeben. Vielleicht aber ist sie aus demselben gekommen und in diesem Falle müßte das in der Ecke dort das betreffende sein ... Wir wollen uns gleich überzeugen.«
Pointe Pescade wartete noch einige Augenblicke, ehe er seinen Zufluchtsort aufgab. Das Licht im Innern der Skifa schien allmälig an Intensität nachzulassen und auch das Gewirr der Stimmen beschränkte sich jetzt auf ein schwaches Gemurmel. Die Stunde war wohl gekommen, in der das ganze Personal des Sidi Hazam sich zur Ruhe begab. Die Umstände waren also so günstig als möglich, um die That auszuführen, denn dieser ganze Theil des Hauses versank bereits in Schweigen, trotzdem noch nicht der letzte Lichtschimmer verblichen war. Doch auch das geschah.
Pointe Pescade ließ sich an der Säule der Arkade heruntergleiten, und schlüpfte auf dem Fußboden der Galerie an der Thür der Skifa vorüber; er ging um den Patio herum und erreichte in der gegenüberliegenden Ecke das Zimmer, aus welchem Namir getreten war.
Pointe Pescade öffnete die Thür, die kein Schlüssel verschloß. Beim Scheine einer arabischen Lampe, die in ihrem matten Glase einer Nachtlampe ähnelte, nahm er hastig das Zimmer in Augenschein.
Einige Decken, die an den Wänden hingen, hier und dort Fußbänke in maurischer Form, in den Ecken aufgehäufte Kissen, ein über den Mosaikboden gebreiteter doppelter Teppich, ein niedriger Tisch, der noch die Reste einer Mahlzeit trug, ein mit einem Wollstoff bedeckter Divan – Alles das sah Pointe Pescade zunächst.
Er trat ein und schloß die Thür.
Eine weibliche Gestalt – sie ruhte wohl mehr als daß sie wirklich schlief – lag halb bedeckt von einem jener Burnusse, in welche sich die Araber gewöhnlich vom Kopf bis zu den Füßen zu hüllen pflegen, auf dem Divan.
Es war Sarah Sandorf.
Pointe Pescade erkannte das junge Mädchen ohne Bedenken wieder, denn er war ihr oft genug in den Straßen von Ragusa begegnet. Doch wie hatte sie sich seit jener Zeit verändert! Ihre bleiche Farbe, dieselbe, die sie in dem Augenblick bedeckte, als ihr Hochzeitswagen mit dem Leichenzuge Peter Bathory's zusammenstieß, ihre Haltung, ihr trauriges Aussehen, ihre unnatürliche Betäubung – Alles das verrieth deutlich, was sie gelitten haben mußte und noch litt.
Kein Augenblick war zu verlieren.
Da die Thür nicht verschlossen gewesen, so war anzunehmen, daß Namir in jedem Augenblicke zurückkehren konnte. Die Marokkanerin bewachte sie augenscheinlich Tag und Nacht. Unnütze Vorsicht; selbst wenn das junge Mädchen dieses Zimmer verlassen hätte, wie sollte sie es ermöglichen, ohne eine von draußen kommende Hilfe zu entfliehen? Das ganze Haus Sidi Hazam's wurde bewacht wie ein Gefängniß.
Pointe Pescade beugte sich über den Divan. Er war nicht wenig betroffen von der Aehnlichkeit Sarah's mit dem Doctor Antekirtt – die ihm bisher nicht aufgefallen war.
Das junge Mädchen öffnete die Augen.
Als sie einen vor ihr stehenden Fremden in einem sonderbaren Akrobatencostüm erblickte, der den Finger auf die Lippen drückte, den Blick flehend auf sie richtete, da war sie zunächst mehr bestürzt als wirklich erschrocken. Sie richtete sich auf, hatte aber die Geistesgegenwart, nicht zu rufen.
»Schweigen Sie! bat Pointe Pescade. Sie haben nichts zu befürchten. Ich komme her, um Sie zu retten ... Hinter diesen Mauern erwarten Ihre Freunde Sie, Freunde, die sich gern tödten lassen, nur um Sie den Händen Sarcany's zu entreißen ... Peter Bathory lebt ...
– Peter ... lebt? rief Sarah. Die Schläge ihres Herzens schienen zu stocken.
– Lesen Sie!«
Pointe Pescade reichte dem jungen Mädchen einen Zettel hin, auf dem die Worte standen:
»Sarah, vertrauen Sie sich dem an, der mit Gefahr seines Lebens zu Ihnen dringt ... Ich bin am Leben ... Ich bin hier ...
Peter Bathory.«
Peter am Leben! Er am Fuße der Mauern. Durch welches Wunder? ... Sarah sollte es später erfahren ... Eines genügte vorläufig, Peter war da!
»Wir wollen fliehen! rief sie.
– Ja, wir wollen fliehen, antwortete Pointe Pescade, aber unter für uns günstigen Umständen. – Eine Frage gestatten Sie: Bringt Namir die Nacht gewöhnlich in diesem Zimmer zu?
– Nein, erwiderte Sarah.
– Gebraucht sie die Vorsicht, Sie einzuschließen, wenn sie längere Zeit abwesend ist?
– Ja.
– So wird sie also zurückkehren?
– Ja ... Lassen Sie uns fliehen!
– Sofort,« sagte Pointe Pescade.
Vor Allem mußte die Treppe zum Minaret und die Terrasse erreicht werden, welche auf der Seite der Ebene lag.
Einmal da, konnte mit Hilfe der Leine, die an der Außenwand der Mauer bis zur Erde hing, die Flucht leicht bewerkstelligt werden.
»Kommen Sie!« sagte Pointe Pescade und nahm Sarah bei der Hand.
Er schickte sich an, die Thür des Zimmers zu öffnen, als sich auf den Fliesen der Galerie Schritte vernehmen ließen. Gleichzeitig hörte man einige Worte in befehlerischem Tone sprechen. Pointe Pescade hatte die Stimme Sarcany's erkannt, er blieb auf der Schwelle der Thür stehen.
»Er ist es ... er ist es ... flüsterte das junge Mädchen. Sie sind verloren, wenn er Sie hier findet.
– Er wird mich nicht finden,« gab Pointe Pescade zurück.
Der geschickte Jüngling warf sich zu Boden und mit Hilfe eines Akrobatenkniffes, den er oft genug in den Jahrmarktsbuden gezeigt, wickelte er sich in einen der am Boden liegenden Teppiche und rollte sich in die dunkelste Ecke des Zimmers.
Die Thür öffnete sich gerade vor Sarcany und Namir und schloß sich hinter ihnen.
Sarah hatte ihren Platz auf dem Divan wieder eingenommen. Was wollte Sarcany zu solcher Zeit von ihr? Wollte er neue Gründe vorbringen, die ihre Weigerung hinfällig machen sollten? ... Sarah war jetzt stark! Sie wußte, daß Peter lebte und sie draußen erwartete!
Pointe Pescade konnte unter dem Teppiche Alles hören, wenn er auch nichts sehen konnte.
»Sarah, sagte Sarcany, wir werden morgen Mittag dieses Haus verlassen und einen anderen Wohnort uns suchen. Doch will ich nicht von hier fortgehen, bevor Sie nicht in unsere Ehe gewilligt haben, bevor nicht die Heirat vollzogen ist. Alles ist bereit, sie kann jetzt im Augenblick ...
– Weder jetzt noch später, antwortete das junge Mädchen mit ebenso gelassener Stimme als entschiedenem Tone.
– Sarah, fuhr Sarcany fort, als hätte er absichtlich ihre Antwort überhört, in unserem beiderseitigen Interesse muß Ihre Einwilligung eine freiwillige sein, in unserem beiderseitigen Interesse, verstehen Sie mich wohl? ...
– Wir haben noch nie ein gemeinsames Interesse gehabt und werden auch nie eines haben.
– Hüten Sie sich! ... Ich erinnere Sie an die Einwilligung, die Sie zur Zeit in Ragusa ausgesprochen haben ...
– Aus Gründen, die heute nicht mehr maßgebend sind.
– Hören Sie mich, Sarah, sagte Sarcany, dessen scheinbare Ruhe nur schlecht den mühsam verhaltenen, gewaltigen Zorn verbarg, zum letzten Male bitte ich Sie um Ihre Einwilligung ...
– Ich werde sie verweigern, so lange ich die Kraft dazu haben werde.
– Nun gut, diese Kraft wird man Ihnen nehmen, schrie Sarcany. Treiben Sie mich nicht zum Aeußersten! Diese Kraft, deren Sie sich gegen mich bedienten, wird Namir zu vernichten wissen und gegen Ihren Willen, wenn es sein muß! Leisten Sie mir weiter keinen Widerstand, Sarah! ... Der Imam ist hier, um unsere Heirat nach der Sitte dieses Landes, welches meine Heimat ist, zu vollziehen ... Folgen Sie mir also!«
Sarcany ging auf das junge Mädchen zu, die hastig aufgesprungen und bis an die hinterste Wand des Zimmers zurückgewichen war.
»Elender! rief sie.
– Sie werden mir folgen! ... Sie werden mir folgen! wiederholte Sarcany, der jede Herrschaft über sich selbst verloren hatte.
– Nehmen Sie sich in Acht!«
Sarcany hatte ihren Arm gepackt und bemühte sich in Gemeinschaft mit Namir Sarah mit Gewalt in die Skifa zu schleppen, wo Sidi Hazam und der Imam Beide erwarteten.
»Zu Hilfe! ... Zu Hilfe! schrie Sarah. Zu Hilfe, Peter Bathory!
– Peter Bathory! schrie Sarcany. Du rufst einen Todten zu Deiner Hilfe?
– Nein ... er lebt! ... Zu Hilfe, Peter!«
Diese Antwort flößte Sarcany einen jähen Schrecken ein; die Erscheinung seines Opfers hätte ihm wahrscheinlich keine größere Furcht eingeflößt als dieser Ausruf. Doch kam er schnell wieder zu sich. Peter Bathory am Leben! ... Peter, den er mit eigener Hand niedergestochen, dessen Körper er auf den Kirchhof von Ragusa hatte tragen sehen ... Das konnte nur der Einfall einer Wahnsinnigen sein und möglich war es ja, daß Sarah in einer Anwandlung von Verzweiflung den Verstand verloren hatte.
Pointe Pescade hatte die ganze Unterredung angehört. Damit, daß Sarah Sarcany verrieth, Peter Bathory wäre am Leben, spielte Sarah um ihr Leben; das war gewiß. Für den Fall, daß der Elende seine rohen Angriffe erneuerte, hielt er sich bereit, mit dem Messer in der Hand zu erscheinen. Wer ihn für fähig gehalten hätte, noch zu zaudern, Jenen niederzustechen, der kannte Pointe Pescade schlecht.
Doch kam es nicht dahin. Sarcany zog Namir in schroffer Weise mit sich fort. Das Zimmer wurde mittelst eines Schlüssels verschlossen, das junge Mädchen, dessen Schicksal sich nun entscheiden mußte, war gefangen.
Pointe Pescade hatte den Teppich abgeworfen und war mit einem Satze auf den Beinen.
»Kommen Sie!« sagte er zu Sarah.
Da das Schloß der Thür sich innerhalb des Zimmers befand, so deckte der geschickte Mensch es schnell und ohne Geräusch mit Hilfe des Schraubenziehers an seinem Messer auf.
Sobald die Thür geöffnet und hinter ihnen wieder geschlossen worden war, ging Pointe Pescade dem jungen Mädchen voran die Galerie entlang, der Mauer des Patios folgend.
Es konnte elfundeinhalb Uhr Nachts sein. Etwas Helligkeit schimmerte noch durch die Oeffnungen der Skifa. Pointe Pescade vermied es daher, an diesem Saale vorüberzugehen, um in der entgegengesetzten Ecke den Gang zu erreichen, der sie auf den vordersten Hof des Hauses bringen mußte.
Beide durchschritten den Gang bis zu seinem Ende. Sie hatten bis zur Thür des Minarets nur noch einige Schritte zurückzulegen, als Pointe Pescade plötzlich stillstand und Sarah zurückhielt, deren Hand nicht aus der seinigen gekommen war.
Drei Männer wandelten auf diesem Hofe um das Bassin. Der Eine derselben – es war Sidi Hazam – ertheilte den beiden Anderen soeben einen Befehl. Sofort verschwanden Beide auf der Treppe des Minarets, während der Moyaddem in eines der Zimmer des Erdgeschosses zurückkehrte. Pointe Pescade begriff, daß Sidi Hazam es sich angelegen sein ließ, die Ausgänge seiner Behausung überwachen zu lassen. Wenn er mit dem jungen Mädchen auf der Terrasse erscheinen würde, war sie gewiß schon besetzt und bewacht.
»Es muß trotzdem gewagt werden, sagte Pointe Pescade.
– Ja ... Alles!« antwortete Sarah.
Beide durchschritten die Galerie und erreichten die Treppe, die sie mit äußerster Vorsicht hinaufstiegen. Als Pointe Pescade auf der obersten Sprosse angelangt war, blieb er stehen.
Kein Geräusch, nicht einmal der Schritt einer Schildwache war auf der Terrasse hörbar.
Pointe Pescade öffnete leise die Thür und von Sarah gefolgt, glitt er längs der Zinnen dahin.
Plötzlich wurde von der Höhe des Minarets seitens eines dort postirten Wächters ein Schrei ausgestoßen. Im selben Augenblick sprang ein zweiter auf Pointe Pescade, während Namir auf die Terrasse stürzte und das Personal Sidi Hazam's durch die inneren Höfe der Behausung strömte.
Sollte sich Sarah ergreifen lassen? Nein ... Wurde sie von ihm ergriffen, so war sie verloren ... Hundertmal zog sie den Tod vor.
Das muthige Mädchen empfahl ihre Seele Gott, stürzte auf die Brustwehr und sich ohne Zögern in die Tiefe hinunter.
Pointe Pescade war es nicht möglich, den Sturz zu verhindern; es gelang ihm aber, sich den Mann abzuschütteln, der ihn gepackt hatte, den Strick zu fassen und sich blitzschnell herunterzulassen; in einer Secunde stand er am Fuße der Mauer.
»Sarah! ... Sarah! rief er.
– Hier ist das Fräulein! antwortete eine ihm sehr bekannte Stimme. Sie hat sich nichts gethan ... Ich war zur Stelle, um sie ...«
Ein Wuthschrei, dem ein dumpfer Aufschlag folgte, schnitt Kap Matifu das Wort ab.
Namir hatte in einem Anfalle von Wildheit die Beute nicht fahren lassen wollen, die ihr zu entschlüpfen drohte; sie zerschmetterte ihr Gehirn am Boden. Sarah hätte vielleicht dasselbe Schicksal gedroht, wenn nicht zwei kräftige Arme sie vor dem fürchterlichen Sturze bewahrt haben würden.
Doctor Antekirtt, Peter und Luigi hatten sich Kap Matifu und Pointe Pescade, die dem Ufer zu flohen, angeschlossen. Sarah wog, obgleich sie ohnmächtig war, so gut wie nichts in den Armen ihres Retters.
Einige Augenblicke später trat Sarcany mit einer Handvoll wohlbewaffneter Leute die Verfolgung der Flüchtlinge an.
Als diese Schaar am Rande der kleinen Bai ankam, auf welcher der »Electric« geankert hatte, befand sich der Doctor mit seinen Genossen schon an Bord; einige Drehungen der Schraube des Schiffes brachten dasselbe bald aus dem Bereiche jeglicher Gefahr.
Sarah, die mit dem Doctor und Peter allein geblieben war, kam bald wieder zu sich. Sie erfuhr jetzt, daß sie die Tochter des Grafen Mathias Sandorf wäre, daß sie in den Armen ihres Vaters läge.