Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Vierter Theil.
Am 21. September, drei Wochen nach den zuletzt erzählten Ereignissen, deren Schauplatz Catania gewesen war, dampfte eine Yacht – es war der »Ferrato« – von einer nordöstlichen Brise getrieben, zwischen derjenigen Spitze Europas, die im spanischen Lande englisches Eigenthum ist, und dem Vorgebirge von Almina, die auf marokkanischem Gebiete spanischer Besitz ist, eilig dahin. Vier Distanzpunkte zählt man von einem Vorgebirge zum anderen. Wenn man der Götterlehre Glauben beimessen darf, war es Hercules gewesen, der, ein Vorgänger des Herrn von Lesseps, sie für den Strom des atlantischen Meeres schuf, indem er mit einem Keulenschlage diesen Theil des mittelländischen Peripels spaltete.
Pointe Pescade hätte es gewiß nicht verabsäumt, seinen Freund Kap Matifu auf den im Norden liegenden Felsen von Gibraltar und auf den Felsen Hacho im Süden aufmerksam zu machen. Calpe und Abyla sind die beiden Säulen, welche noch den Namen von Kap Matifu's berühmtem Ahn tragen. Kap Matifu hätte, wenn er dabei gestanden, zweifellos dieses Kraftstück nach Verdienst belobt, ohne daß der Neid sein bescheidenes und anspruchsloses Gemüth bewegt haben würde. Der provençalische Hercules hätte sich ganz gewiß vor dem Sohne Jupiter's und der Alkmene gebeugt.
Allein weder Kap Matifu noch Pointe Pescade befanden sich unter den Passagieren der Dampfyacht. Der Eine hatte noch den Genossen zu pflegen und daher mußten Beide auf Antekirtta zurückbleiben. Sollte später ihre Hilfe benöthigt werden, so sollten sie mittelst Depesche herbeigerufen und auf einem der »Electrics« schnell übergesetzt werden.
Der Doctor und Peter Bathory befanden sich allein an Bord des »Ferrato«, der vom Kapitän Köstrik als erstem, von Luigi als zweitem Lieutenant befehligt wurde. Die letzte Expedition, die sich nach Sicilien richtete und den Zweck verfolgte, die Spuren von Sarcany und Silas Toronthal ausfindig zu machen, hatte keinen Erfolg gehabt, weil Zirone dabei den Tod gefunden. Es handelte sich jetzt also darum, die Fährte wieder aufzufinden und zu diesem Zwecke mußte Carpena gezwungen werden, zu sagen, was er von Sarcany und seinen Genossen wußte. Da der Spanier, zur Galeerenarbeit verurtheilt, in das Präsidio von Ceuta gebracht worden war, so mußte er dort aufgesucht werden, denn nur hier konnte man sich mit ihm in Verbindung setzen.
Ceuta ist eine kleine, befestigte Stadt, ein Gegenstück zu dem spanischen Gibraltar; sie liegt auf den östlichen Abhängen des Berges Hacho und Angesichts ihres Hafens manövrirte noch am besagten Tage gegen neun Uhr Morgens in der Entfernung von weniger als drei Meilen von der Küste unsere Yacht.
Es gibt im ganzen Mittelmeer keinen belebteren Punkt als diese Stelle, welche der Mund dieses Meeres genannt werden muß. Dort empfängt es die Gewässer des atlantischen Oceans. Hier hinein segeln die Tausende von Schiffen, die aus dem nördlichen Europa und den beiden Amerikas kommen und welche in die Hunderte von Häfen dieses ungeheuren Bassins das vielgestaltige Leben bringen. Dort hinein und hinaus dampfen die großen transatlantischen Dampfer und die Kriegsschiffe, welchen das Genie eines Franzosen einen Hafen im indischen Ocean und in der Südsee geöffnet hat. Es gibt schwerlich etwas Malerischeres, als diese schmale Wasserstraße, welche durch die so verschieden geformten Gebirge führt. Im Norden zeichnen sich die Umrisse der Sierras von Andalusien ab. Im Süden, auf der prächtig ausgezackten Küste, vom Kap Spartel an bis zum Vorgebirge Almina ragen die schwarzen Hörner der Bullonen, der Affenberg, die höchsten Gipfel der »sieben Brüder« empor. Zur rechten und zur linken Seite erscheinen malerische Städte, so Tarifa, Algesiras, Tanger, Ceuta; sie bauen sich im Hintergrunde der Buchten auf und werden von den untersten Stufen der Gebirge flankirt; ihre Häuserreihen dehnen sich über die niedrig gelegenen Ufer aus, zu deren Schutz die riesigen Felsenmauern hinter ihnen emporstreben. Zwischen diesen beiden Gestaden, unter den Kielen der dahinsausenden Dampfer, deren Curs weder Wasser noch Wind aufhält, unter dem Tuch der Segelschiffe, welche die westlichen Winde mitunter zu hunderten an der Mündung in den atlantischen Ocean festhalten, entwickelt sich eine buntfarbige, stets wechselnde Wasserfläche, hier erscheint sie grau und aufrührerisch, dort blau und ruhig und durchfurcht von den Kämmen, welche die Linie der Gegenströmungen mit ihren durchbrochenen Zick-Zacks markiren. Kein Mensch kann dem Reize dieser erhabenen Schönheiten gegenüber unempfindlich sein, welche die beiden Erdtheile, Europa und Afrika, in dem Doppelpanorama der Meerenge von Gibraltar, von Angesicht zu Angesicht entfalten.
Der »Ferrato« näherte sich schnell der afrikanischen Küste. Die gekrümmte Bai, in deren Hintergrunde Tanger sich verbirgt, schloß sich bereits, während der Felsen von Ceuta um so sichtbarer wurde, je mehr die Küste jenseits des Golfes von Tanger eine Wendung nach Süden machte. Man sah ihn sich nach und nach isoliren, gerade wie ein umfangreiches Eiland, das am Fuße eines Kaps auftaucht und durch einen schmalen Isthmus an das Festland gefesselt wird. Oberhalb, in der Gegend des Gipfels des Hacho-Berges, erschien eine kleine Schanze; sie ist aus einer römischen Citadelle entstanden und in ihr sind unablässig Beobachtungsposten zu finden, welche den Auftrag haben, die Meerenge und namentlich das marokkanische Gebiet zu überschauen, in welchem Ceuta nur eine Enklave bildet.
Um zehn Uhr Morgens warf der »Ferrato« im Hafen oder vielmehr zwei Ankerlängen vor dem Landungsquai, den die Wogen in ihrer vollen Breite und mit ihrem ganzen Ungestüm peitschen, die Anker aus. Ceuta besitzt nur eine forensische Rhede, welche der Brandung des mittelländischen Meeres ausgesetzt ist. Glücklicherweise finden die Schiffe, da sie westlich von Ceuta nicht ankern können, einen zweiten Ankerplatz auf der anderen Seite des Felsens, der ihnen vor den Landwinden Schutz gewährt.
Sobald die Sanitätsbehörde an Bord gewesen, die Papiere oberflächlich eingesehen worden waren, ließ sich der Doctor, begleitet von Peter, in der ersten Mittagsstunde auf das Festland bringen; er landete an einem kleinen Quai, am Fuße der Stadtmauer. Daß das Ziel dieser Reise darauf hinauslief, sich Carpena's zu bemächtigen, unterlag keinem Zweifel. Doch wie wollte der Doctor es erreichen? Er wußte es vorläufig selbst nicht, darüber wollte er sich erst nach Inspicirung der Oertlichkeiten entscheiden und es schließlich den Umständen anheimgeben, ob der Spanier mit Gewalt entführt oder ihm die Entweichung aus dem Präsidio von Ceuta erleichtert werden sollte.
Diesmal bemühte sich der Doctor keineswegs, sein Incognito zu bewahren – im Gegentheil. Die Beamten, die an Bord gekommen waren, hatten sofort das Gerücht von der Ankunft der berühmten Persönlichkeit ausgesprengt. Wer im ganzen arabischen Lande, von Suez bis zum Kap Spartel, kannte nicht, wenigstens vom Hörensagen, den gelehrten Taleb, der jetzt zurückgezogen auf seiner Insel Antekirtta im Meere der Syrten lebte? Auch die Spanier bereiteten ihm, ebenso wie die Marokkaner, einen lauten Empfang. Da auch der Besuch des »Ferrato« nichts weniger als untersagt war, so zögerten viele Boote nicht, bei ihm anzulegen.
Dieses geräuschvolle Wesen, das seine Ankunft hervorbrachte, paßte ersichtlich in den Kram des Doctors. Seine Berühmtheit sollte diesmal seinem Vorhaben zu Hilfe kommen. Peter und er bemühten sich also durchaus nicht, sich der Neugierde des Publikums zu entziehen. In einem offenen Wagen, den das erste Hotel in Ceuta gestellt hatte, wurde zuerst die Stadt besichtigt mit ihren engen, von traurigen Häusern eingerahmten Straßen, Häusern, denen weder Farbe noch irgend eine in die Augen fallende Eigenthümlichkeit zu Eigen war; hier und dort zeigten sich kleine Plätze, auf denen staubbedeckte, magere Bäume sproßten, welche verdächtig aussehende Wirthshäuser beschatteten, ein oder zwei Regierungsgebäude, welche wie Kasernen aussahen – mit einem Worte Originelles gab es hier nicht zu sehen, vielleicht mit Ausnahme des maurischen Stadtviertels, aus welchem die Farbentöne noch nicht ganz entschwunden waren.
Gegen drei Uhr gab der Doctor Befehl, ihn zu dem Gouverneur zu fahren, dem er einen Besuch abstatten wollte – ein Act ganz natürlicher Aufmerksamkeit von Seiten eines so distinguirten Fremden.
Der Gouverneur war natürlich keine Civilperson. Ceuta ist vor allen Dingen eine Militärkolonie, sie zählt ungefähr zehntausend Seelen, Officiere und Soldaten, Kaufleute, Fischer oder Matrosen für die Küstenfahrzeuge; in der Stadt selbst wohnen fast ebenso viele Leute wie auf dem Streifen Landes, dessen Verlängerung nach Osten hin den ganzen Besitz Spaniens ausmacht.
Ceuta wurde damals vom Oberst Guyarre regiert. Dieser höhere Officier hatte unter seinem Befehle drei Bataillone Infanterie, die zur Continentalarmee gehörten und ihre afrikanische Zeit durchzumachen hatten, ein Strafregiment, das ständig in der kleinen Kolonie stationirt war, zwei Batterien Artillerie, eine Compagnie Geniesoldaten, ferner eine Compagnie Mohren, deren Familien ein besonderes Viertel bewohnen. Die Zahl der Sträflinge beläuft sich auf fast zweitausend.
Um von der Stadt zur Residenz des Gouverneurs zu gelangen, mußte der Wagen außerhalb der Umwallung eine chaussirte Straße einschlagen, welche die spanische Enclave bis zu ihrem östlichen Ende begleitet.
Der schmale Streifen Landes zu beiden Seiten dieser Straße, der von dem Fuße der Gebirge und den Sümpfen, die das Meer zurückgelassen, eingeschlossen wird, ist, Dank der Thätigkeit der Bewohner, gut unterhalten, die tapfer gegen die schlechte Beschaffenheit des Bodens angekämpft haben. Weder Feldfrüchte jeglicher Gattung noch Obstbäume fehlen dort; man muß allerdings berücksichtigen, daß es dort auch Arbeitskräfte im Ueberflusse gibt.
Die Deportirten werden nämlich nicht nur vom Staate beschäftigt, sei es in den speciellen Werkstätten, sei es bei den Befestigungen oder auf den Landstraßen, deren Unterhaltung fortgesetzte Pflege erfordert, oder selbst bei der städtischen Polizei, wenn sie es durch ihre gute Führung dahin bringen, Beamte zu werden, welche überwachen und zugleich überwacht werden. Auch Private können diese Sträflinge, welche in Ceuta zwanzig Jahre oder mehr abzumachen haben, unter gewissen, vom Gouvernement erlassenen Bestimmungen für sich anstellen.
Während seiner Besichtigung von Ceuta hatte der Doctor bereits Sträflinge gesehen, welche sich ohne Aufsicht durch die Straßen bewegten, namentlich solche, welche häusliche Arbeiten auszuführen hatten; in einer viel größeren Anzahl mußte man sie außerhalb der Wälle, auf den Chausseen und Feldern zu Gesicht bekommen.
Es war vor allen Dingen wichtig, zu erfahren, zu welcher Kategorie des Sträflingspersonals in Ceuta Carpena gehörte. Der Plan des Doctors mußte eine wesentlich einfachere Form annehmen, wenn der Spanier ohne Aufsicht bei Privatleuten zu arbeiten hatte, als wenn er als Gefangener für Rechnung des Staates thätig war.
»Da seine Verurtheilung erst aus der jüngsten Zeit datirt, sagte der Doctor zu Peter, so ist es leider wahrscheinlich, daß er sich noch nicht der Vortheile erfreut, die älteren Gefangenen in Folge ihrer guten Führung zugestanden werden.
– Und wenn er angeschlossen worden ist? fragte Peter.
– So wird seine Entführung um so schwieriger werden, antwortete der Doctor. Und doch muß sie geschehen, sie soll auch geschehen!«
Inzwischen rollte der Wagen, gezogen von den kurz trabenden Pferden, sanft auf der Landstraße einher. In der Entfernung von zweihundert Metern außerhalb der Befestigungen arbeitete eine größere Zahl von Sträflingen unter der Leitung von Aufsehern des Präsidio, an der Betonirung der Straße. Es waren an fünfzig Leute, die Einen zerklopften die Steine, die Anderen breiteten sie über die Straße aus, wieder Andere drückten sie mittelst Walzen in den Erdboden hinein. Der Wagen des Doctors hatte, um den Theil des Weges, der ausgebessert wurde, zu umgehen, einen kleinen Nebenweg einzuschlagen.
Plötzlich ergriff der Doctor den Arm Peter's.
»Er!« sagte er leise.
Ein Mann stand da, einige zwanzig Schritt vor seinen Gefährten auf den Griff seiner Spitzhacke gelehnt.
Es war Carpena.
Der Doctor hatte den Salzarbeiter aus Istrien nach fünfzehn Jahren in seinem Sträflingsanzuge eben so schnell erkannt, wie Maria Ferrato ihn in seiner maltesischen Kleidung in den Gassen des Manderaggio erkannt hatte. Dieser Sträfling, zu faul und ungeschickt zu jeder Arbeit, war selbst in den Arsenalen des Präsidio nicht zu verwerthen gewesen. Auf der Landstraße Steine zerklopfen, zu dieser rauhen Arbeit paßte er noch gerade.
Das Wiedererkennen war trotzdem nur einseitig, denn Carpena erkannte in dem Doctor schwerlich den Grafen Sandorf wieder. Er hatte diesen nur flüchtig gesehen im Hause des Fischers Andrea Ferrato, in dem Augenblick, als er die Polizisten herbeiführte. Aber auch er hatte wie Jedermann von der Ankunft des Doctors vernommen. Dieser weitberühmte Doctor – Carpena wußte es wohl – war die Persönlichkeit, über welche Zirone während ihrer Unterhaltung bei den Polyphemosklippen an der sicilischen Küste mit ihm gesprochen hatte, dieses der Mann, dem vor Allen zu mißtrauen Sarcany anempfahl, dieses der Millionär, um dessen willen Zirone's Bande den mißlungenen Handstreich auf die Casa Inglese unternahm.
Was ging wohl in dem Geiste Carpena's vor, als er sich unerwartet dem Doctor gegenüber sah? Welche Vorstellung bedrückte wohl sein Gehirn mit jener dringlichen Beständigkeit, die gewisse photographische Proceduren charakterisirt? Es wäre das schwer zu sagen gewesen. Jedenfalls fühlte der Spanier plötzlich, daß sich der Doctor seiner Person mit Hilfe einer Art moralischen Uebergewichts ganz und gar bemächtigte, daß sein eigenes Selbst vor dem Doctor in Nichts aufging, daß ein fremder Wille, der stärker war als der seinige, ihn ohnmächtig machte. Er wollte sich ermannen, es ging nicht: er mußte vor diesem übermächtigen Einflusse zurückweichen.
Der Doctor hatte seinen Wagen halten lassen und fuhr fort, Carpena mit einer durchdringenden Stetigkeit anzublicken. Der leuchtende Punkt in seinen Augen brachte in dem Gehirn Carpena's eine befremdliche, unwiderstehliche Wirkung hervor. Die Sinne des Spaniers verdummten nach und nach. Seine Augenlider blinzelten und schlossen sich; sie gingen in ein krampfhaftes Zittern über. Sobald das Bewußtsein ganz entschwunden war, fiel Carpena auf den Straßenrand nieder, ohne daß seine Genossen irgend etwas von der Scene bemerkt hätten. Er war in einen magnetischen Schlaf verfallen, aus dem ihn Keiner von ihnen hätte ziehen können.
Der Doctor ließ nun den Wagen nach der Residenz des Gouverneurs zu weiterfahren. Die Scene hatte überdies kaum eine halbe Minute gedauert. Niemand hatte beobachten können, was soeben zwischen dem Spanier und ihm vorgegangen war. – Niemand, mit Ausnahme Peter Bathory's.
»Jetzt gehört der Mensch mir, sagte der Doctor, und ich kann ihn zwingen ...
– Uns Alles zu sagen, was er weiß? fragte Peter.
– Nein, das nicht, wohl aber Alles zu thun, was ich verlange, und zwar unbewußt. Beim ersten Blick, den ich auf diesen Elenden geworfen habe, habe ich gefühlt, daß ich sein Meister werden, meinen Willen an Stelle des seinigen setzen kann.
– Trotzdem der Mann nicht krank ist?
– Glaubst Du denn, daß die Wirkungen der Hypnose sich nur bei Nervenkranken zeigen? Nein, Peter, gerade die Irrsinnigen sind die unbrauchbarsten Medien. Im Gegentheil, das Subject muß einen Willen haben und nur die Umstände kamen mir zu Hilfe, indem sie mich in diesem Carpena eine vorzüglich sich meinem Willen fügende Natur finden ließen. Er wird so lange im Schlafe versunken sein, bis ich selbst mich bewogen fühlen werde, diesen Schlaf enden zu lassen.
– Gut, aber welchen Zweck hat dieser Schlaf, da es doch unmöglich ist, Carpena in diesem Zustande von dem sprechen zu lassen, was uns zu wissen wünschenswerth erscheint, erwiderte Peter.
– Richtig, sagte der Doctor, und es ist sehr klar, daß ich ihn nicht etwas sagen lassen kann, was ich selbst nicht weiß. Aber wohl steht es in meiner Macht, ihn zu zwingen, es zu thun, und wann es mir gefallen wird, es ihn thun zu lassen, ohne daß sein Wille sich dem zu widersetzen wagen wird. Zum Beispiel morgen, übermorgen, in acht Tagen, in sechs Monaten, selbst wenn er in einem wachenden Zustande sich befindet. Wenn ich will, daß er das Präsidio verläßt, so wird er es verlassen!
– Das Präsidio verlassen, frei ausgehen? fragte Peter ganz betroffen ... Erst müssen seine Wächter das doch gestatten! Der Einfluß der Eingebung kann doch nicht bis dahin gehen, daß seine Kette gelöst, das Bagnothor geöffnet, eine unübersteigbare Mauer übersteigbar wird ...?
– Nein, Peter, antwortete der Doctor, ich kann ihn allerdings nicht dazu zwingen, zu thun, was ich selbst nicht würde unternehmen können, und aus diesem Grunde unternehme ich den Besuch beim Gouverneur von Ceuta.«
Der Doctor Antekirtt übertrieb in keiner Weise. Diese Eingebungsfacta im hypnotischen Zustande sind jetzt erwiesen. Die Arbeiten und Beobachtungen von Charcot, Brown-Séquard, Azam, Richet, von Dumontpallier, Maudsley, Hack Tuke, Rieger und vielen anderen Gelehrten lassen in dieser Beziehung keinen Zweifel mehr aufkommen. Der Doctor hatte während seiner Reisen im Orient Gelegenheit gehabt, die merkwürdigsten Vorgänge zu verfolgen und diesem Zweige der physiologischen Wissenschaft einen reichen Beitrag von neuen Beobachtungen zugewendet. Er war also in diesen phänomenalen Erscheinungen sehr bewandert und ebenso in den Wirkungen, welche sich aus ihnen ergaben. Selbst mit einer großen Dosis suggestiver Macht begabt, deren Wirkung er in Kleinasien oft erprobt hatte, baute er darauf, mit Hilfe eben dieser Macht sich Carpena's bemächtigen zu können, da der Zufall ihm gezeigt hatte, daß der Spanier auf den hypnotischen Einfluß reagirte.
Wenn aber der Doctor in Zukunft Herr über Carpena sein, wenn er ihn handeln lassen wollte, wann und wie es ihm beliebte, dadurch, daß er ihm seinen eigenen Willen einflößte, so war es unumgänglich nothwendig, daß der Gefangene sich frei bewegen konnte, sobald der Augenblick gekommen sein würde, ihn diese oder jene That begehen zu lassen. Zu diesem Zwecke mußte die Vollmacht des Gouverneurs eingeholt werden. Der Doctor hoffte dieselbe von Oberst Guyarre zu erlangen, denn nur auf diese Weise konnte man den Spanier ausgeliefert erhalten.
Zehn Minuten später langte der Wagen am Eingange zu den großen Kasernen an, welche sich fast an der Grenze der Enclave erheben, und fuhr an der Residenz des Gouverneurs vor.
Der Gouverneur Guyarre war von der Anwesenheit des Doctors Antekirtt in Ceuta schon unterrichtet. Diese berühmte Persönlichkeit wurde durch den Ruf, den ihm seine Talente und sein Vermögen eintrugen, wie ein auf Reisen befindlicher Herrscher angesehen. Daher empfing der Gouverneur ihn und seinen jungen Genossen Peter, sobald die Fremden in den Empfangssalon geführt worden waren, mit der ausgesuchtesten Höflichkeit. Vor allen Dingen stellte er sich ihnen, behufs Besichtigung der Enclave, dieses kleinen Stückchens von Spanien, das so glücklich in das marokkanische Gebiet hineingeschoben ist, völlig zur Verfügung.
»Wir nehmen Ihr freundliches Anerbieten gern an, Herr Gouverneur, antwortete der Doctor auf spanisch, welche Sprache Peter ebenso beherrschte und sprach, wie der Doctor selbst. Doch ich fürchte, wir werden nicht die Zeit haben, Ihre Liebenswürdigkeit in Anspruch zu nehmen.
– Ich bitte, Herr Doctor, unsere Kolonie ist nicht groß, antwortete der Gouverneur. In einem halben Tage ist die Rundfahrt beendet. Gedenken Sie nicht, sich einige Zeit hier aufzuhalten?
– Vier bis fünf Stunden höchstens, sagte der Doctor. Ich muß heute Abend noch nach Gibraltar fahren, woselbst man mich morgen Vormittag erwartet.
– Heute Abend noch wollen Sie abreisen? rief der Gouverneur. Gestatten Sie mir auf meinem Anerbieten zu bestehen. Ich versichere Sie, Herr Doctor Antekirtt, unsere Militärkolonie verdient es, daß man sie gründlich kennen lernt. Sie haben auf Ihren Reisen gewiß viel gesehen, viel beobachtet, aber gewiß nichts im Hinblick auf die Strafeinrichtungen. Sie dürfen mir schon glauben, daß Ceuta die Aufmerksamkeit der Gelehrten wie diejenige der Volkswirthschaftler verdient.«
Man konnte es dem Gouverneur nicht übel nehmen, daß er voller Eigenliebe seine Kolonie pries. Er übertrieb aber nicht, denn das Verwaltungssystem des Präsidio von Ceuta – identisch demjenigen der Präsidien von Sevilla – wird als eine der besten Einrichtungen der Alten und der Neuen Welt angesehen, sowohl was den materiellen Zustand der Deportirten als auch ihre moralische Besserung betrifft. Der Gouverneur bestand deshalb darauf, daß ein so bedeutender Mann wie der Doctor Antekirtt seine Abreise verschob, um die verschiedenen Abtheilungen der Strafanstalt mit seinem Besuch zu beehren.
»Es wäre das leider unmöglich, Herr Gouverneur, doch heute gehöre ich Ihnen ganz und wenn Sie wollen ...
– Es ist bereits vier Uhr, meinte Oberst Guyarre, Sie werden selbst sehen, daß uns wenig Zeit bleibt ...
– In der That, antwortete der Doctor, und es thut mir das um so mehr weh, je mehr ich mich darauf gefreut habe, Ihnen die Honneurs auf meiner Yacht erweisen zu können, nachdem Sie so liebenswürdig sein wollten, persönlich mir Ihre Kolonie zu zeigen.
– Können Sie durchaus nicht Ihre Abreise nach Gibraltar um einen Tag verschieben, Herr Doctor?
– Ich könnte es sehr wohl, wenn mich nicht eine Verabredung, wie schon bemerkt, zwänge, heute Abend noch in See zu gehen.
– Das ist in der That bedauerlich, antwortete der Gouverneur, und ich bin darüber untröstlich, daß es mir nicht gelingt, Sie länger an uns zu fesseln. Doch halt! Ihr Schiff liegt im Bereiche der Kanonen meines Forts; es hängt also nur von mir ab, es in Grund und Boden zu schießen!
– Und die Repressalien, Herr Gouverneur? antwortete lachend Doctor Antekirtt. Wollen Sie sich mit dem mächtigen Reiche Antekirtta in einen Krieg einlassen?
– Ich weiß, daß ich ein gefährliches Spiel beginnen würde, erwiderte der Gouverneur, in demselben scherzhaften Tone fortfahrend. Doch was würde man nicht wagen, nur, um Sie vierundzwanzig Stunden länger bei sich zu sehen?«
Peter, der nicht Theil an der Unterhaltung genommen hatte, mußte glauben, der Doctor habe selbst gegen das Ziel gefehlt, welches er zu erreichen hoffte. Der Entschluß, am Abend desselben Tages Ceuta noch zu verlassen, überraschte ihn nicht wenig. Wie wollte der Doctor es ermöglichen, in dieser kurzen Spanne Zeit die nothwendigen Maßregeln zu treffen, welche die Entweichung Carpena's zur Folge haben sollten? In wenigen Stunden bereits mußten alle Gefangenen in das Präsidio zurückkehren, um über Nacht hinter Schloß und Riegel gehalten zu werden. Es dann noch durchzusetzen, daß dem Spanier die Möglichkeit der freien Bewegung gelassen wurde, erschien doch zum Mindesten sehr zweifelhaft.
Allerdings sah Peter andererseits auch ein, daß der Doctor einem genau zurechtgelegten Plane folgen mußte. Er hörte ihn nämlich zum Gouverneur sagen:
»In der That, Herr Gouverneur, ich bin mißgestimmt darüber, Ihnen in dieser Beziehung nicht Genugthuung geben zu können – heute wenigstens nicht. Und doch ließe sich vielleicht noch Alles zum Besten wenden?
– Wie das, Herr Doctor? Sprechen Sie, bitte.
– Da ich morgen Vormittag in Gibraltar sein muß, so ist es allerdings durchaus nothwendig, daß ich heute Abend abfahre. Ich denke aber, daß mein Aufenthalt auf diesem englischen Felsen höchstens zwei bis drei Tage dauern wird. Heute haben wir Donnerstag und anstatt meine Reise in das nördliche Mittelmeer fortzusetzen, soll mich nichts hindern, Sonntag Früh wieder bei Ihnen in Ceuta zu sein.
– Das ginge allerdings, sagte der Gouverneur, und ich wäre Ihnen noch mehr verpflichtet als ich es schon bin. Das klingt zwar stark nach Eigenliebe. Doch gibt es wohl etwas auf dieser Welt, wo hinein sich die Eitelkeit nicht mischt? Also abgemacht, Herr Doctor, auf Sonntag denn.
– Ja, aber unter einer Bedingung.
– Welche es auch sei, ich nehme sie an.
– Daß Sie und Ihr Herr Adjutant dann bei mir, am Bord des »Ferrato«, Ihr Frühstück einnehmen.
– Ich verpflichte mich feierlichst dazu, Herr Doctor Antekirtt ... Doch ebenfalls unter einer Bedingung.
– Wie Sie, Herr Gouverneur, nehme auch ich sie schon im Voraus an, wie sie auch lauten mag.
– Daß Sie und Herr Bathory am Sonntag bei mir zu Mittag speisen.
– Angenommen, sagte der Doctor, so zwar, daß zwischen Frühstück und Mittag ...
– Ich mit Hilfe meiner Autorität Sie alle Wunder meines Königreiches schauen lassen werde,« erwiderte Oberst Guyarre, indem er die Hand des Doctors drückte.
Peter Bathory hatte ebenfalls die ihm gewordene Einladung angenommen und verneigte sich vor dem zuvorkommenden und sehr befriedigten Gouverneur von Ceuta.
Der Doctor schickte sich nun an, sich zu verabschieden und Peter las in seinen Blicken, daß Jener sein Ziel erreicht habe. Doch der Gouverneur bestand darauf, seine künftigen Gäste bis zur Stadt zu begleiten. Sie bestiegen also zu Dreien den wartenden Wagen und dieser lenkte in die einzige Straße ein, welche die Residenz mit Ceuta selbst verbindet.
Wenn der Gouverneur während der Fahrt die Gelegenheit ergriff, die Fremden alle mehr oder weniger angreifbaren Schönheiten der kleinen Kolonie bewundern zu lassen, wenn er von den Verbesserungen sprach, die er vom militärischen und civilistischen Gesichtspunkte aus noch einführen wollte, wenn er hinzusetzte, daß die Lage dieses alten Abyla weit werthvoller als diejenige Calpe's auf der gegenüberliegenden Küste der Meerenge sei, wenn er bestätigte, daß es möglich wäre, daraus ein zweites Gibraltar zu schaffen, welches ebenso uneinnehmbar sein würde als das der Engländer, wenn er gegen die unverschämten Worte des Mr. Ford Verwahrung einlegte, welche lauten: »Ceuta müßte den Engländern gehören, weil Spanien nichts daraus zu machen und kaum es zu halten versteht,« wenn er sich schließlich in sehr bitterer Weise über die zähen Engländer aussprach, die nirgends den Fuß hinstellen können, ohne sich auch sofort festzusetzen, so kann man das einem Spanier schließlich nicht übel nehmen.
»Ja! rief er. Ehe sie daran denken, sich Ceuta's zu bemächtigen, sollten sie lieber bedacht sein, Gibraltar zu halten. Es gibt da noch ein Gebirge, das Spanien eines Tages ihnen auf den Kopf schütten könnte!«
Der Doctor wollte nicht fragen, wie die Spanier eine solche geologische Erschütterung hervorzubringen gedächten, und ebenso wenig diese Drohung anfechten, welche mit der ganzen Großthuerei eines Hidalgo hervorgebracht worden war. Die Unterhaltung wurde auch durch ein plötzliches Halten des Wagens unterbrochen. Der Kutscher hatte die Pferde vor einer Ansammlung eines halben Hunderts Sträflinge pariren müssen, welche die Straße versperrten.
Der Gouverneur winkte einen der die Aufsicht führenden Unterofficiere herbei. Dieser eilte sofort im vorschriftsmäßigen Schritte an den Wagen. Mit geschlossenen Absätzen und die rechte Hand an den Schirm der Mütze legend, wartete er in militärischer Haltung auf die Anrede.
»Was gibt es hier? fragte der Gouverneur.
– Wir haben einen Sträfling hier auf der Böschung schlafend gefunden, Excellenz, meldete der Aufseher. Er scheint nur eingeschlafen zu sein und trotzdem gelingt es uns nicht, ihn wach zu machen.
– Wie lange befindet er sich schon in diesem Zustande?
– Seit ungefähr einer Stunde.
– Und er schläft ununterbrochen?
– Zu Befehl, Excellenz. Er ist gerade so unempfindlich, als ob er todt wäre. Man hat ihn geschüttelt, gepikt, sogar einen Pistolenschuß vor seinem Ohre abgefeuert: er fühlte und hörte nichts.
– Warum hat man nicht nach dem Arzt des Präsidio geschickt? fragte der Gouverneur.
– Ich habe nach ihm geschickt, Excellenz, doch war er ausgegangen und bis er zurückkommt, wissen wir nicht, was wir mit dem Menschen machen sollen.
– Man möge ihn in das Hospital bringen.«
Der Unterofficier schickte sich schon an, den Befehl ausführen zu lassen, als der Doctor sich hineinmischte.
»Wollen Sie mir erlauben, Herr Gouverneur, diesen widerspenstigen Schläfer in meiner Eigenschaft als Arzt zu untersuchen? Ich würde es nicht ungern haben, mir den Mann dort in der Nähe betrachten zu dürfen.
– Richtig, das schlägt ja in Ihr Fach, erwiderte der Gouverneur. Ein Schurke behandelt vom Doctor Antekirtt ... Der Mann hat in der That Glück!«
Die Herren verließen ihren Wagen und der Doctor näherte sich dem Verurtheilten, der noch auf der Böschung der Straße lag. Das Leben zeigte sich bei diesem fest eingeschlafenen Menschen nur durch einen etwas keuchenden Athem und das lebhafte Schlagen des Pulses.
Der Doctor ließ die Umstehenden etwas zurücktreten. Er beugte sich über den trägen Körper, sprach leise zu ihm und betrachtete ihn andauernd, als wollte er eine seiner eigenen Willensäußerungen auf des Spaniers Gehirn übertragen.
»Es hat nichts zu bedeuten. Der Mann ist ganz einfach in einen magnetischen Schlaf verfallen.
– Ah, wirklich? sagte der Gouverneur. Das ist allerdings sehr sonderbar. Und können Sie ihn diesem Schlafe entreißen?
– Nichts leichter als das,« antwortete der Doctor.
Er berührte die Stirn Carpena's, hob leicht dessen Augenlider empor und sagte:
»Wacht auf! ... Ich will es!«
Carpena bewegte sich, öffnete die Augen, blieb aber in dem schläfrigen Zustande. Der Doctor strich mehrere Male und in schräger Richtung mit der Hand vor dem Gesicht des Spaniers vorbei, um die Schlafsucht zu vertreiben und nach und nach entflog die Betäubung. Carpena erhob sich und ohne das Bewußtsein dessen zu haben, was vorgegangen war, begab er sich wieder in die Reihe seiner Genossen zurück.
Der Gouverneur, der Doctor und Peter Bathory bestiegen wieder den Wagen, der seine Fahrt zur Stadt fortsetzte.
»Meinen Sie nicht, fragte der Gouverneur, daß der Spitzbube etwas getrunken hat?
– Ich glaube nicht, antwortete der Doctor. Die Erscheinung sah durchaus nach Somnambulismus aus.
– Doch durch was mag sie hervorgebracht worden sein?
– Darauf kann ich beim besten Willen nichts erwidern, Herr Gouverneur. Vielleicht neigt der Mann zu solchen Zufällen? Jetzt ist er wieder auf den Beinen und vorläufig wird der Anfall nicht wiederkommen.«
Der Wagen langte bald an den Wällen an; er fuhr in die Stadt hinein, dann in schräger Richtung durch dieselbe und hielt schließlich auf einem kleinen Platze, der die Einschiffungsquais beherrscht.
Der Doctor und der Gouverneur nahmen in herzlicher Weise von einander Abschied.
»Da liegt der ›Ferrato‹, sagte der Doctor und zeigte auf die Dampfyacht, welche sich in den Wellen graziös wiegte. Sie werden doch nicht vergessen, daß Sie mir versprochen haben, am Sonntag bei mir an Bord zu frühstücken?
– Ebenso wenig als hoffentlich Sie, lieber Herr Doctor Antekirtt vergessen haben, daß Sie am Sonntag in meiner Residenz speisen wollen.
– Ich werde nicht ermangeln.«
Sie trennten sich und der Gouverneur verließ den Quai erst, nachdem er das Boot, welches die Reisenden ihrem Schiffe zuführte, hatte abstoßen sehen.
Unterwegs sagte der Doctor zu Peter, der ihn fragte, ob Alles nach seinem Wunsch verlaufen wäre:
»Ja! ... Sonntag Abend soll Carpena mit Erlaubniß des Gouverneurs an Bord des »Ferrato« sein!«
Um acht Uhr verließ die Dampfyacht ihren Ankerplatz; sie dampfte nordwärts und bald war der Berg Hacho, der diesen Theil der marokkanischen Küste beherrscht, in den Abendnebeln verschwunden.