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Die Salons des Fremdencirkels – gemeinhin Casino genannt – waren seit elf Uhr geöffnet. Obwohl die Zahl der Spieler noch eine beschränkte war, begannen doch schon einige Roulettetische ihre Arbeit.
Das Ebenmaß dieser Tische war vorher geregelt worden, denn dieselben müssen an jeder Stelle gleich hoch sein. Die kleinste Unebenheit, welche die Bewegung der in den sich drehenden Cylinder geworfenen Kugel abändern würde, würde schnell bemerkt und zum Schaden der Bank ausgelegt werden.
Auf jedem der sechs Roulettetische waren sechzigtausend Franken in Gold, Silber und Bankbillets niedergelegt; auf jedem der beiden Tische, welche dem Trente et Quarante-Spiel dienten, hundertundfünfzigtausend. Das ist vor Eröffnung der Hauptsaison der gewöhnliche Einsatz, und es kommt selten vor, daß die Administration sich zur Erneuerung dieses Grundfonds veranlaßt sieht. Sie soll nur mit dem Refait und dem Zero gewinnen, deren Profit ihr gehört – und immer. Wenn das Spiel an und für sich schon unmoralisch ist, um wie viel mehr, wenn man unter solchen ungleichen Bedingungen operiren muß.
An jedem Roulettetische hatten die acht Croupiers, ihre Harken in den Händen, bereits die ihnen reservirten Plätze eingenommen. Ihnen zu Seiten saßen oder standen Spieler oder Zuschauer. Durch die Säle spazierten die Inspectoren und beobachteten sowohl die Croupiers als die Aussetzenden, während die Garçons des Saales im Auftrage des Publicums wie der Administration, die über nicht weniger als hundertundfünfzig Angestellte für das Spiel verfügt, hierhin und dorthin eilten.
Gegen zwölfundeinhalb Uhr brachte der Zug von Nizza das übliche Contingent der Spieler. An diesem Tage fanden sie sich vielleicht noch zahlreicher als sonst ein. Die Serie von siebzehnmal Roth hatte ihre natürliche Wirkung gethan. Sie bildete eine neue Anziehungskraft und Alles, was vom Zufalle lebt, kam herbei, um den Wechselfällen des Spieles mit noch größerem Eifer als zuvor zu fröhnen.
Eine Stunde später hatten sich die Säle gefüllt. Man unterhielt sich namentlich von dem außergewöhnlichen Ereignisse, doch durchschnittlich mit leiser Stimme. Nichts Traurigeres, im Ganzen genommen, als diese riesigen Säle, trotz ihres verschwenderisch aufgetragenen Goldschmuckes, ihrer phantastischen Ornamentirung, des Luxus ihrer Ausstattung, der Fülle ihrer Lustres, welche Ströme von Gasstrahlen entsenden, ohne der Oelhängelampen mit ihren grünen Schirmen zu gedenken, welche die Spieltische noch besonders beleuchten. Was hier trotz des Zuflusses der Besucher vorherrscht, ist nicht das Gesurr der Stimmen, sondern das Klimpern der Gold- und Silberstücke, welche gezählt werden oder über das grüne Tuch rollen, und das Knistern der Bankbillets, das unaufhörliche: »Roth gewinnt und Farbe«, oder »siebzehn, schwarz, impair und manque«, welche Redensarten mit gleichgiltiger Stimme der Spielführer ausruft – höchst traurig Alles das!
Zwei der Verlierer vom vorigen Abend, die zu den berühmtesten zählten, waren noch nicht in den Sälen aufgetaucht. Schon versuchten einige Spieler den verschiedenen Chancen zu folgen, das Glück an ihre Person zu fesseln, theils an der Roulette, theils beim Trente et Quarante. Allein die Alternativen des Gewinnes und Verlustes glichen sich aus und es schien nicht, als ob das »Phänomen« des vorigen Abends sich noch einmal zeigen würde.
Erst gegen drei Uhr betraten Sarcany und Silas Toronthal das Casino. Ehe sie in die Spielsäle gingen, machten sie einen Rundgang durch die Halle, wo die Neugierde des lieben Publikums sich sofort ihnen zuwendete. Man betrachtete sie, stellte sich ihnen in den Weg, man fragte sich, ob sie sich heute abermals mit dem Zufalle in einen Kampf einlassen würden, der ihnen theuer genug zu stehen gekommen war. Einige Spielprofessoren hätten gern die Gelegenheit benützt, ihnen ihre unfehlbaren Tabellen zu verkaufen, wenn Jene in diesem Augenblicke leichter zugänglich gewesen wären. Der Bankier mit seinen verstörten Mienen sah kaum, was um ihn her vorging. Sarcany blickte kühler, zugeknöpfter als je um sich. Beide richteten ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Augenblick, in welchem sie ihren letzten Coup ausführen wollten.
Unter den Personen, welche sie mit jener besonderen Neugier beobachteten, die man namentlich Patienten oder Verurtheilten angedeihen läßt, befand sich auch ein Fremder, der sie keinen Augenblick verlassen zu wollen schien.
Es war ein junger Mann, im Alter von zwei- oder dreiundzwanzig Jahren, mit feinen Gesichtszügen, verschmitztem Aussehen, spitzer Nase – einer jener Nasen, welche zugleich zu sehen scheinen. Seine Augen, die eine auffallende Lebhaftigkeit entwickelten, verbargen sich hinter einer mit Schutzgläsern versehenen Brille. Er schien viel baares Geld bei sich zu haben, oder er that so, denn seine Hände steckten tief in den Taschen seines Ueberziehers, vielleicht hätten sie auch sonst irgendwie gestikulirt; seine Füße nahmen, wenn er stillstand, die bekannte erste Position des Tanzunterrichtes ein, gewiß, um seiner Person einen festeren Halt zu geben. Er war angemessen gekleidet, ohne gerade den neuesten Verschrobenheiten des Geckenthums zu huldigen, und legte augenscheinlich keinen besonderen Werth auf seine Erscheinung; vielleicht fühlte er sich auch etwas genirt in den correct sitzenden Kleidungsstücken.
Man wird ohne besondere Ueberraschung vernehmen, daß kein Anderer als Pointe Pescade dieser junge Fremde war.
Draußen in den Gärten erwartete ihn Kap Matifu.
Die Persönlichkeit, für deren Rechnung sie Beide in besonderer Mission in dieses Paradies oder diese Hölle des Reiches von Monaco kamen, war Doctor Antekirtt.
Das Schiff, welches sie am Abend zuvor auf dem Ufer von Monte Carlo gelandet hatte, war der »Electric 2« der Flottille von Antekirtta gewesen.
Der Zweck ihrer Reise nach Monaco war der folgende:
Zwei Tage nach seiner Ueberbringung an Bord des »Ferrato« war Carpena ans Land gesetzt und trotz seiner Einsprüche in eine der Kasematten der Insel gebracht worden. Dort wurde es dem Flüchtlinge des spanischen Präsidios bald klar, daß er nur ein Gefängniß gegen ein zweites eingetauscht hatte. Anstatt zu der Sträflingskolonie des Gouvernements von Ceuta zu gehören, befand er sich, ohne es zu wissen, in der Gewalt des Doctors Antekirtt. Wo? er hätte es nicht zu sagen gewußt. Hatte er aus diesem Wechsel etwas gewonnen? Das fragte er sich nicht ohne Sorgen. Er war übrigens entschlossen, Alles zu thun, was seine Lage aufbessern konnte.
Er zögerte deshalb auch nicht, in dem ersten Verhör, welchem der Doctor selbst ihn unterwarf, freimütige Antworten zu geben.
Kannte er Silas Toronthal und Sarcany?
Silas Toronthal nicht, Sarcany ja – er hatte ihn sogar mit nur kurzen Unterbrechungen zu Gesicht bekommen.
Hatte Sarcany Fühlung mit Zirone und seiner Bande, seit Jener in der Umgebung von Catania hauste?
Ja, da Sarcany in Sicilien erwartet wurde und auch sicher dorthin gekommen wäre, wenn der Ausgang jener unglücklichen Expedition, die mit dem Tode Zirone's endete, eine andere gewesen wäre.
Wo befand sich Sarcany jetzt?
In Monte Carlo, falls er nicht bereits wieder diese Stadt verlassen hatte, in der er seit einiger Zeit lebte und zwar wahrscheinlich mit Silas Toronthal zusammen.
Mehr wußte Carpena nicht, doch genügte das, was er erfahren, dem Doctor, um einen neuen Feldzug zu beginnen.
Natürlich hatte der Spanier keine Ahnung davon, welches Interesse der Doctor gehabt, ihn aus Ceuta entkommen zu lassen und sich seiner Person zu bemächtigen, ebenso wenig, daß sein an Andrea Ferrato begangener Verrath dem wohl bekannt war, der ihn ausfragte. Er wußte nicht einmal, daß Luigi der Sohn des Fischers von Rovigno war. Der Gefangene wurde in seiner Kasematte viel strenger bewacht als es in Ceuta der Fall gewesen. Er sollte mit Niemandem Verkehr haben können bis zu dem Tage, an dem über sein Schicksal beschlossen werden sollte.
Von den drei Verräthern also, welche den blutigen Ausgang der Triester Verschwörung herbeigeführt hatten, befand sich jetzt Einer in den Händen des Doctors. Es erübrigte nur noch, sich der beiden Anderen zu bemächtigen und Carpena selbst hatte gesagt, wo man sie würde finden können.
Da der Doctor von Silas Toronthal, Peter von diesem und von Sarcany gekannt wurde, so schien es ihnen gerathen, erst in dem Augenblick aufzutauchen, in welchem sie es mit Erfolg thun konnten. Jetzt, nachdem man die Spur der beiden Genossen wieder aufgefunden hatte, war es von Wichtigkeit, sie nicht mehr aus den Augen zu verlieren, so lange, bis die Umstände es erlauben würden, gegen sie zu operiren.
Deshalb waren Pointe Pescade, um Jenen überallhin zu folgen, wohin sie gingen, und Kap Matifu, um wenn nöthig, Pointe Pescade die starke Hand zu reichen, nach Monaco gesandt worden, wohin der Doctor, Peter und Luigi sich auf dem »Ferrato« ebenfalls begeben wollten, sobald der richtige Zeitpunkt gekommen sein würde.
Die in der Nacht angelangten Freunde hatten sich sofort an ihr Werk gemacht. Es war ihnen nicht schwer geworden, das Hotel zu entdecken, in welchem Silas Toronthal und Sarcany abgestiegen waren. Während Kap Matifu in der Umgegend in Erwartung des Abends umherpromenirte, sah Pointe Pescade, der auf der Lauer stand, die beiden Verbündeten in der ersten Nachmittagsstunde fortgehen. Es schien ihm, als ob der sehr niedergeschlagen aussehende Bankier wenig sprach, während Sarcany ihn ziemlich lebhaft unterhielt. Pointe Pescade hatte des Vormittags erzählen gehört, was am Abend vorher in den Sälen des Casino zu Monte Carlo vorgegangen war, das heißt, von jener unglaublichen Serie, die zahlreiche Opfer gefordert hatte, darunter in hervorragender Weise Silas Toronthal und Sarcany. Er folgerte daraus, daß ihre Unterhaltung sich auf dieses unglückliche Ereigniß bezog. Da er überdies erfahren, daß die beiden Spieler in der letzten Zeit bedeutende Einbußen erlitten hatten, so schloß er nicht weniger juridisch genau daraus, daß ihre letzten Mittel fast vollständig erschöpft sein mußten und daß gewiß der Augenblick herannahe, in dem der Doctor zu passender Zeit auftauchen könnte.
Das Erfahrene wurde einer Depesche anvertraut, die gleich am frühen Morgen ohne Namensnennung an die Station La Vallette auf Malta gerichtet wurde; von dort wurde sie auf einem besonderen Draht schnell nach Antekirtta befördert.
Als Sarcany und Silas Toronthal die Halle des Casino betraten, war Pointe Pescade hinter ihnen; als sie die Thürschwelle zu den Sälen der Roulette und des Trente et Quarante überschritten, that er das Gleiche.
Es war gerade drei Uhr Nachmittags. Das Spiel begann lebhafter zu werden. Der Bankier und sein Gefährte machten erst einen Spaziergang durch die Säle. Sie standen vor den Spieltischen einige Augenblicke und beobachteten die Züge, nahmen aber selbst nicht am Spiele Theil.
Pointe Pescade bewegte sich neugierig hin und her, verlor aber seine beiden Leute dabei nicht aus den Augen. Er glaubte sogar, um nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, einige Fünffrankenstücke auf die Rubriken der Roulette setzen zu müssen; er verlor sie selbstverständlich, übrigens mit einer bewundernswerthen Kaltblütigkeit. Warum hatte er auch nicht den trefflichen Rath eines äußerst verdienstvollen Spielprofessors befolgt, der zu ihm gesagt hatte:
»Wenn man beim Spiele Glück haben will, mein Herr, so muß man die kleinen Treffer schießen lassen und nur die großen gewinnen. Darin gipfelt die ganze Kunst!«
Vier Uhr schlug es, als Sarcany und Silas Toronthal die Zeit für gekommen erachteten, einen Einsatz zu wagen. An einem der Roulettetische waren mehrere Plätze unbesetzt. Beide ließen sich nebeneinander nieder. Der Leiter des Spieles sah sich sofort nicht nur von Spielern, sondern auch von Zuschauern umringt, die begierig waren, der Revanche der beiden am Abend vorher ausgeplünderten Berühmtheiten der Spielsäle beizuwohnen.
Pointe Pescade stellte sich natürlich in die vorderste Reihe der Neugierigen und er war gewiß nicht Einer der am wenigsten von den Wechselfällen des Spieles aufgeregten Zuschauern.
Während der ersten Stunde waren die Chancen fast die gleichen. Um sie besser zu verwerthen, spielte Jeder von Beiden für sich. Sie pointirten besonders und machten bedeutende Coups, theils auf Grund einfacher Combinationen, theils auf vervielfachten, wie sie die Roulette ermöglicht, theils mit Hilfe verschiedener Combinationen auf einmal. Das Schicksal wendete sich nicht gegen sie, aber auch nicht ihnen zu.
Zwischen vier und sechs Uhr schien das Glück ihnen am holdesten zu sein. Sie gewannen mehrfach das Maximum auf vollen Nummern, welches sich bei der Roulette auf sechstausend Franken beläuft.
Die Hände von Silas Toronthal zitterten, wenn sie sich über das grüne Tuch ausstreckten, um seinen Einsatz hinzuschieben oder um das Gold und die Bankbillets der Croupiers fast noch unter deren Harke fortzunehmen.
Sarcany, stets seiner mächtig, ließ nicht ein einziges seiner Gefühle sich in seinen Mienen widerspiegeln. Er begnügte sich, mit Blicken seinen Compagnon anzufeuern, und Silas Toronthal war es, auf dessen Seite die Chancen augenblicklich mit großer Beständigkeit lagen.
Pointe Pescade, obwohl etwas benebelt von dem fortwährenden Hin- und Herschieben des Goldes und der Bankbillets, hörte nicht auf, Beide zu beobachten. Er fragte sich, ob sie wohl klug genug sein würden, zur richtigen Zeit abzubrechen, um dieses Vermögen, welches sich unter ihren Händen aufbaute, sich zu erhalten.
Dann kam ihm der Gedanke, daß, wenn Sarcany und Silas Toronthal wirklich so klug waren – woran er übrigens zweifelte – sie vielleicht versucht sein würden, Monte Carlo zu verlassen und in irgend einen anderen Winkel Europas zu fliehen, wo man sie dann aufsuchen müßte. Wenn ihnen das Geld wieder zu Gebote stand, würden sie auch nicht mehr so bequem von dem Doctor zu erreichen sein.
»Entschieden, so schloß er seine Ueberlegung, ist es werthvoller, wenn sie sich ruiniren, und ich täusche mich sehr, wenn ich diesen Schuft Sarcany für den Mann halte, der im Stande ist, zur richtigen Zeit aufzuhören.«
Wie auch Pointe Pescade's Ideen in dieser Hinsicht gewesen sein mögen, ebenso seine Hoffnungen, die Chancen blieben den beiden Associés treu. Sie hätten in der That dreimal die Bank gesprengt, wenn nicht der Spielleiter Zuschüsse von zwanzigtausend Franken erbeten hätte.
Das war unter den Zuschauern dieses Kampfes eine Aufregung! Die Stimmung der Meisten war natürlich eine den Spielern günstige. Sah das nicht wie eine Revanche für die unverschämte Serie im Roth aus, aus der die Administration am Abend zuvor einen so reichlichen Nutzen gezogen hatte?
Als um sechs und einhalb Uhr Silas Toronthal und Sarcany das Spiel aufgaben, strichen sie einen baaren Gewinn von zwanzigtausend Louisdors ein. Sie erhoben sich von ihren Plätzen und verließen den Roulettetisch. Silas Toronthal wankte mit unsicheren Schritten einher, als wenn er ein wenig zu viel getrunken hätte – er war vielleicht benebelt von der Aufregung und der Abspannung des Gehirns. Sein gefühlloser Genosse überwachte ihn, denn es war ihm noch nicht ganz gewiß, ob Toronthal sich nicht versucht fühlen würde, mit den mehrfachen hunderttausend Franken, die mit so vielem Schweiße zurückerobert worden waren, zu entfliehen und sich seiner Herrschaft zu entziehen.
Beide durchschritten, ohne ein Wort zu sprechen, die Halle, stiegen den Vorbau hinunter und wendeten sich ihrem Hotel zu.
Pointe Pescade folgte ihnen in einiger Entfernung.
Als er ins Freie trat, sah er nahe einem der Kioske des Gartens Kap Matifu auf einer Bank sitzen.
Pointe Pescade trat an ihn heran.
»Ist der Augenblick da? fragte Kap Matifu.
– Welcher Augenblick?
– Um ... um ...
– Um auf die Scene zu treten? ... Nein, mein Kap! ... Noch nicht! ... Bleibe noch hinter den Coulissen! ... Hast Du gespeist? ...
– Meine Glückwünsche! Mir hängt der Magen bis in die Fußsohlen ... wohin er doch wirklich nicht gehört. Ich werde ihn aber mir schon wieder heraufholen, sobald ich Zeit habe! ... Also, gehe nicht eher von hier fort, als bis ich Dich wiedergesehen habe.«
Und Pointe Pescade trat auf die Rampe zurück, welche Silas Toronthal und Sarcany hinabstiegen.
Als er sich überzeugt hatte, daß die beiden Associés sich das Diner in ihren Zimmern serviren ließen, nahm sich auch Pointe Pescade die Freiheit, an der Table d'hôte des Hotels Theil zu nehmen. Es war die höchste Zeit, und in einer halben Stunde hatte er, wie er sagte, seinen Magen wieder an den richtigen Platz gebracht, den dieses wichtige Organ in der menschlichen Maschine einnehmen muß.
Dann ging er hinaus, zündete sich eine vortreffliche Cigarre an und nahm seinen Beobachtungsposten vor dem Hotel wieder ein.
»Ich gebe, weiß Gott, eine vortreffliche Schildwache ab. Ich habe meinen Beruf verfehlt!«
Die einzige und immer wiederkehrende Frage, die er sich selbst vorlegte, lautete: werden diese Gentlemen heute noch nach Monte Carlo zurückkehren oder nicht?
Um acht Uhr erschienen Silas Toronthal und Sarcany an der Hotelthür. Pointe Pescade glaubte zu hören und zu verstehen, daß sie sich lebhaft stritten.
Der Bankier versuchte augenscheinlich zum letzten Male, den Verführungen zu widerstehen und den Einflüsterungen seines Genossen, denn dieser sagte schließlich mit befehlerischer Stimme:
»Es muß sein Silas! ... Ich will es!«
Sie gingen wieder die Rampe hinauf, um die Gärten von Monte Carlo zu erreichen. Pointe Pescade ging ihnen nach, konnte aber – zu seinem großen Bedauern – nichts von der Unterhaltung verstehen.
Was Sarcany in dem Tone sagte, der keine Widerrede von Seiten des Bankiers gestattete, dessen Widerstand überhaupt nach und nach sich legte, war Folgendes:
»Es wäre wahnsinnig, Silas, innezuhalten, wenn die Chance uns günstig ist ... Sie müssen den Kopf verloren haben! ... Wie? Im Unglück haben wir das Spiel wie die Verrückten zwingen wollen und sollten es nun im Glück nicht wie die Vernünftigen an uns fesseln? ... Es bietet sich uns eine Gelegenheit, die einzig in ihrer Art ist, eine Gelegenheit, die sich uns vielleicht nie wieder zeigen wird, uns zu Meistern unseres Schicksals zu machen, zu Herren unseres Glückes und wir wollen sie durch unsere eigene Schuld entweichen lassen? ... Fühlen Sie denn nicht, Silas, daß die Chance ...
– Wenn sie noch nicht erschöpft ist, murmelte Silas Toronthal.
– Nein, hundert Mal nein, erwiderte Sarcany. Man kann das nicht so erklären, zum Teufel, aber man fühlt das, es dringt bis in das innerste Mark der Knochen! ... Eine Million erwartet uns noch heute Abend an den Tischen von Monte Carlo! ... Ja, eine Million, und mir soll sie nicht entgehen!
– Spielt doch, Sarcany!
– Ich? ... Allein spielen? ... Nein, mit Ihnen spielen, Silas, ja! ... Und wenn zwischen uns gewählt werden müßte, so würde ich Ihnen unbedingt den Platz einräumen! ... Das Glück neigt zu einer Person und offenbar ist es bei Ihnen wieder eingekehrt! ... Spielen Sie und Sie werden gewinnen! ... Ich will es!«
Sarcany wollte bei Licht betrachtet nur, daß Silas Toronthal es nicht bei dem Besitz einiger hunderttausend Franken bewenden ließe, welche diesem die Mittel an die Hand gegeben haben würden, sich seiner Macht zu entziehen. Er wollte, daß sein Genosse wieder der Millionär würde, der er einst gewesen war, oder daß er ein Bettler wurde. War Jener wieder reich, so konnte er das Leben weiter fortsetzen, welches sie bis dahin geführt hatten. War er ruinirt, so mußte er wohl oder übel Sarcany überallhin folgen, wohin dieser es haben wollte. In beiden Fällen hatte er von Silas Toronthal nichts zu befürchten.
Silas Toronthal übrigens, obwohl er Widerstand zu leisten versuchte, fühlte jetzt alle Leidenschaften des Spielers in sich regen. Er war so elendiglich zerworfen mit sich selbst, daß er Furcht und Lust zugleich empfand, in die Säle des Casinos zurückzukehren. Sarcany's Worte hatten ihm Feuer in das Blut gegossen. Das Schicksal hatte sich sichtlich für ihn erklärt und zwar während der letzten Stunden mit einer so großen Beständigkeit, daß es wirklich unverzeihlich gewesen wäre, innezuhalten.
Der Narr! Er setzte, wie alle Spieler thun, voraus, daß die Gegenwart dasselbe bringen würde, was nur der Vergangenheit angehören konnte. Anstatt zu sagen: Ich habe die Chance gehabt – was ja die Wahrheit war – sagte er sich: Ich habe Chance – was falsch ist. Und trotzdem greift in dem Gehirn aller derjenigen, welche auf den Zufall rechnen, keine andere Ueberlegung Platz, als diese. Sie vergessen zu sehr, was erst jüngst ein großer Mathematiker Frankreichs gesagt hat: »Der Zufall hat Launen, keine Gewohnheiten.«
Inzwischen waren Sarcany und Silas Toronthal vor dem Casino angelangt, stets gefolgt von Pointe Pescade. Hier blieben sie einen Augenblick stehen.
»Kein Zaudern, Silas! mahnte Sarcany ... Sie sind doch entschlossen, zu spielen? Nicht wahr?
– Ja! ... Entschlossen Alles gegen Alles zu setzen, antwortete der Bankier, dessen Schwanken gewichen war, sobald er sich auf der untersten Stufe des Casinogebäudes befand.
– Es ist nicht mein Fall, Sie beeinflussen zu wollen, nahm Sarcany von Neuem das Wort. Verlassen Sie sich auf Ihre Inspiration, nicht auf die meinige. Sie kann mich täuschen ... Wollen Sie zur Roulette gehen ...?
– Nein, zum Trente et Quarante, antwortete Silas Toronthal und betrat die Vorhalle.
– Sie haben Recht, Silas. Hören Sie nur auf sich selbst! ... Die Roulette hat Ihnen soeben beinahe ein Vermögen eingebracht ... Das Trente et Quarante mag das Fehlende ergänzen.«
Beide wanderten erst in den Sälen umher. Zehn Minuten später sah sie Pointe Pescade an einem der Tische, wo Trente et Quarante gespielt wird, Platz nehmen.
Bei diesem Spiele lassen sich in der That kühnere Züge vornehmen. Hier beträgt das Maximum zwölftausend Franken, obgleich die Chancen einfacherer Natur sind, obgleich nur gegen das Refait gekämpft zu werden braucht, und wenige Passes schon können beträchtliche Differenzen hinsichtlich des Gewinnes oder Verlustes erzeugen. Hier ist das Liebhabertheater, das heißt, hier sind die großen Spieler zu finden. Hier bauen sich Vermögen oder Ruine mit Schwindel erregender Schnelligkeit auf, auf welche die Börsen von Paris, New-York oder London mit Recht eifersüchtig sein könnten.
Am Tische des Trente et Quarante hatte Silas Toronthal sofort seine Bekümmernisse vergessen. Er spielte jetzt nicht mehr mit Furcht, sondern wüthend, genauer ausgedrückt, wie ein Mann, der nicht zögern will, sich selbst hineinzulegen. Kann man übrigens behaupten, daß es hierbei eine bestimmte Regel zu spielen, sein Geld anzulegen gibt? Ersichtlich nicht, obgleich es die Spielhabitué's behaupten. Man ist vollständig dem Zufalle unterthan. Der Bankier spielte also unter der Aufsicht Sarcany's, dessen Interesse an dieser hohen Partie ein doppeltes war, wie immer auch das Ende sein würde.
Während der ersten Stunde waren Gewinn und Verlust fast die gleichen. Der Sieg begann schon sich auf die Seite von Silas Toronthal zu neigen.
Sarcany und er glaubten nun des Erfolges gewiß zu sein. Sie reizten sich selbst und forderten nur noch das Maximum heraus. Bald aber hatte die Bank wieder Oberhand, welche natürlich nicht die Dummheit macht, aus sich herauszugehen und deren, den Spielern aufgelegtes Maximum die Interessen in so beträchtlichem Maße schützt.
Es gab furchtbare Hiebe. Der ganze Gewinn, den Silas Toronthal am Nachmittage eingeheimst hatte, ging nach und nach wieder verloren. Es war schrecklich zu sehen, wie der Bankier mit verzerrten Mienen und weitaufgerissenen Augen sich an den Tischrand, an seinen Stuhl klammerte, an die Bankbillets, an die Goldrollen, die seine Hand nicht freigeben wollte, mit den Bewegungen, dem Aufspringen und den Zuckungen eines Mannes, der ertrinkt. Und Niemand da, der ihn vom Rande des Abgrundes zurückgerissen hätte. Nicht ein Arm, der ihm hingereicht wurde, an dem er sich hätte festklammern können! Kein Versuch Seitens Sarcany's, ihn von dem Platze zu entfernen, fortzuschleppen, ehe sein Ruin vollständig war, ehe sein Kopf in den Fluthen seines Bankerotts versank.
Um zehn Uhr hatte Silas Toronthal seinen letzten Einsatz gemacht, das letzte Maximum gewagt. Er hatte es gewonnen, dann wieder verloren. Und als er sich mit verwirrtem Haar erhob, kam ihm der Wunsch, die Säle des Casinos möchten zusammenstürzen und Alles vergraben, was sich in ihnen befand, denn er besaß ja nichts mehr – nichts mehr von den Millionen, welche ihm sein mit den Millionen des Grafen Sandorf neu aufgebautes Bankhaus hinterlassen hatte.
Silas Toronthal verließ in der Begleitung Sarcany's, der sein Kerkermeister zu sein schien, die Spielsäle, er durchschritt die Vorhalle und stürzte aus dem Casino hinaus. Beide flüchteten durch die Anlage in die Fußpfade hinein, welche zur Turbie hinaufführen.
Pointe Pescade war ihnen bereits wieder auf den Fersen. Er hatte Kap Matifu im Vorübergehen von der Bank aufgeschreckt, auf welcher der Herkules noch in einem Halbschlaf versunken saß und ihm zugerufen:
»Hurtig! ... Gebrauche Deine Augen und Beine!«
Und Kap Matifu hatte sofort mit ihm die Fährte eingeschlagen, welche sie nicht mehr verlieren durften.
Sarcany und Silas Toronthal schritten nebeneinander weiter und stiegen allmälig immer höher, indem sie den gewundenen Fußpfaden folgten, welche sich auf dieser Seite des Gebirges durch die Oliven- und Orangenbäume hindurchschlängeln. Diese muthwilligen Zickzacklinien machten es Kap Matifu und Pointe Pescade bequem, Jene nicht aus den Augen zu verlieren, aber vernehmen konnten sie nicht, was Jene sprachen.
»Kommen Sie in das Hotel zurück, Silas, hörte Sarcany nicht auf, mit befehlerischer Stimme zu wiederholen. Kommen Sie zurück! ... Gewinnen Sie doch ihre Kaltblütigkeit wieder! ...
– Nein! ... Wir sind ruinirt! ... Wir wollen uns trennen! ... Ich will Sie nicht mehr sehen! ... Ich will nicht mehr ...
– Uns trennen? ... Und warum! ... Sie werden mir folgen, Silas! ... Morgen verlassen wir Monaco! ... Wir haben noch genügend Geld, um Tetuan zu erreichen, und dort werden wir unser Werk vollenden!
– Nein, Nein! ... Lassen Sie mich, Sarcany, lassen Sie mich!« erwiderte Silas Toronthal.
Und er stieß ihn heftig von sich, als Jener ihn anfassen wollte. Dann schritt er so schnell weiter, daß Sarcany ihn kaum einzuholen vermochte. Dessen unbewußt, was er that, riskirte Silas Toronthal, in die reißenden Gießbäche zu stürzen, oberhalb deren sich das Netz der Fußpfade entwickelt. Ein einziger Gedanke beherrschte und quälte ihn unaufhörlich: Monte Carlo zu fliehen, wo sein Ruin sich vollzogen hatte, Sarcany zu fliehen, dessen Rathschläge ihn in den Abgrund geführt, mit einem Worte, zu fliehen, dem Zufalle nach, ohne Ziel und Zweck, ohne zu wissen, wohin und was aus ihm werden würde.
Sarcany fühlte wohl, daß, wenn er nicht mehr Vernunft besäße als sein Genosse, dieser ihm entschlüpfen würde. Ja, wenn der Bankier nicht Kenntniß von den Geheimnissen gehabt hätte, die ihn verderben oder wenigstens unheilbar dies letzte Spiel, welches er noch spielen wollte, vereiteln konnten, so hätte er sich wenig Sorgen um den Mann gemacht, den er an den Rand des Verderbens gebracht hatte. Doch ehe Silas Toronthal ganz hineinstürzte, konnte er einen letzten Schrei ausstoßen und dieser Schrei war es, den Sarcany ersticken mußte.
Von dem Gedanken an das Verbrechen, das zu begehen er entschlossen war, bis zu dessen unmittelbarer Ausführung war nur ein Schritt und diesen Schritt zögerte Sarcany nicht zu gehen. Was er eigentlich auf der Landstraße von Tetuan thun wollte, in der Einsamkeit der marokkanischen Landschaft, hinderte Niemand ihn noch in dieser Nacht zu thun, sobald die Anlagen erst von den Besuchern verlassen worden waren.
Doch zu dieser Stunde gab es noch zwischen Monte Carlo und der Turbie Nachzügler, welche die Rampen hinauf oder hinunter stiegen. Ein Schrei von Silas Toronthal hätte sie zu seiner Hilfe herbeilocken können, der Mörder aber wollte, daß der Todtschlag unter solchen Umständen vor sich ginge, die Niemand verdächtigen konnten. Daher der Zwang, warten zu müssen. Weiter oben, jenseits der Turbie und der Grenze des Reiches von Monaco, auf der Straße der Corniche, welche in einer Höhe von zweitausend Meter in die Seitenwände der untersten Absätze der Seealpen eingehauen ist, konnte Sarcany sein Vorhaben mit voller Sicherheit ausführen. Wer hätte da seinem Opfer zu Hilfe kommen sollen? Wie hätte man den Leichnam von Silas Toronthal auf dem Grunde der Schluchten, welche die Straße eingrenzen, auffinden können?
Sarcany wollte indessen erst noch einmal versuchen, seinen Genossen aufzuhalten und ihn nach Monte Carlo zurückzuführen.
»Komm, Silas, komm, rief er und ergriff dessen Arm. Morgen fangen wir noch einmal an! ... Ich besitze noch etwas Geld! ...
– Nein! ... Lassen Sie mich ... lassen Sie mich! ...« rief Silas Toronthal in einem letzten Wuthanfalle.
Wenn er stark genug gewesen wäre, sich mit Sarcany in einen Kampf einzulassen, wenn er Waffen bei sich gehabt hätte, würde er gewiß nicht gezögert haben, Rache für alles Unheil zu nehmen, welches sein einstiger Makler in Tripolis über ihn gebracht hatte.
Silas Toronthal stieß mit der einen Hand, welcher der Zorn Stärke verlieh, Sarcany zurück; dann wendete er sich der letzten Krümmung des Pfades zu und überschritt einige Stufen, die zwischen kleinen, etagenförmig angelegten Gärten, in roher Manier in den Fels gehauen waren. Bald hatte er die Hauptstraße der Turbie erreicht, die über den schmalen Paß führt, welcher den Hundskopf vom Rumpf des Berges Agal trennt, die einstige Grenze zwischen Italien und Frankreich.
»Geh' nur, Silas, rief Sarcany nochmals. Geh' nur, Du wirst nicht weit kommen!«
Er warf sich nach rechts, überkletterte einen niedrigen Steinwall, durchschritt flink einen Treppengarten und eilte dann schnell fort, um Silas Toronthal auf der Straße vorauszukommen.
Pointe Pescade und Kap Matifu hatten, obwohl sie von der Unterhaltung nichts verstehen konnten, gesehen, wie der Bankier Sarcany heftig zurückstieß und Sarcany im Dunkel verschwand.
»Der Teufel hat seine Hand im Spiel! rief Pointe Pescade. Der Beste entwischt uns wahrscheinlich ... Es fehlt nicht viel und der Andere macht es ebenso! ... Jedenfalls ist auch Toronthal eine gute Beute ... Uebrigens haben wir keine Wahl ... Vorwärts, mein Kap, vorwärts!«
Sie setzten sich in schnellere Bewegung und hatten sich bald Silas Toronthal genähert.
Dieser stieg rüstig auf der Straße der Turbie weiter. Nachdem er den kleinen Hügel, welcher den Thurm des Augustus beherrscht, zur Linken gelassen hatte, schritt er fast im Laufschritt an den schon geschlossenen Häusern vorüber und kam endlich auf die Straße der Corniche.
Pointe Pescade und Kap Matifu waren fünfzig Schritte hinter ihm.
Von Sarcany konnte keine Rede mehr sein. Entweder war er auf der Kante der Anhöhen zur rechten Seite weiter gegangen oder er hatte seinen Genossen definitiv verlassen und war nach Monte Carlo herunter gestiegen.
Die Straße der Corniche, der Ueberrest einer alten römischen Landstraße, senkt sich von der Turbie aus nach Nizza zu und führt in halber Höhe des Gebirges durch herrliche Felspartien, an einzeln stehenden Kegeln und tiefen Abgründen vorüber, welche sich bis zum Eisenbahndamm, der längs des Gestades führt, kreuzen. Jenseits tauchten in dieser sternenklaren Nacht, beim Schimmer des sich im Osten erhebenden Mondes flüchtig sechs Golfe auf, die Insel vom Heiligen Hospiz, die Mündung des Var, die Halbinsel La Garoupe, das Kap d'Antibes, der Golf Juan, die Lerin-Inseln, der Golf der Napoule, der Golf von Cannes und dahinter die Gebirgszüge der Esterel. Hier und dort blitzten Leuchtfeuer auf, das von Beaulieu, am Fuße der Abhänge von Klein-Afrika, das von Villefranche, welches den Berg Leuza beherrscht, ferner einige Signalfeuer von Fischerbooten, welche die ruhigen Gewässer des Meeres zurückwarfen.
Die Uhr zeigte bereits nach Mitternacht. Silas Toronthal bog jetzt dicht hinter der Turbie von der Straße der Corniche ab und lenkte in einen schmalen Pfad ein, der direct nach Eza führt, einer Art Adlernest mit fast uncivilisirter Bevölkerung, das sich auf seinem aus einem Walde von Pinien und Johannisbrodbäumen aufsteigenden Felsen ungemein erhaben fühlt.
Dieser Weg lag vollständig verlassen da. Der Unsinnige verfolgte ihn eine Zeit lang, ohne seinen Schritt zu verlangsamen oder den Kopf zurückzuwenden; plötzlich betrat er einen zur Linken sich öffnenden schmalen Fußweg, welcher nahe den hohen Felsen des Gestades entlang führt, unter denen der Schienenweg und eine Fahrstraße durch einen Tunnel führen.
Pointe Pescade und Kap Matifu waren ihm jetzt dicht auf den Fersen.
Hundert Schritte weiter stand Silas Toronthal plötzlich still. Er war einen Felsen hinaufgegangen, der einen Abgrund überragte, in dessen Tiefe von vielleicht mehreren hundert Fuß die Brandung schäumte.
Was wollte Silas Toronthal beginnen? Hatte der Gedanke an einen Selbstmord sein Hirn durchkreuzt? Wollte er seinem elenden Leben durch einen Sturz in diesen Abgrund ein Ziel setzen?
»Tausend Teufel! schrie Pointe Pescade. Wir müssen ihn lebendig haben! ... Greife ihn, Kap Matifu, und halte ihn gut fest!«
Beide hatten noch keine zwanzig Schritte gemacht, als sie einen Mann rechts vom Wege auftauchen, ihn die Böschung zwischen Büscheln von Mastix- und Myrthenbäumen entlang gleiten sahen und sein offenbares Bestreben erkannten, den Fels zu erreichen, auf welchem Silas Toronthal stand.
Es war Sarcany.
»Himmel! rief Pointe Pescade, er wird seinem Genossen gewiß einen Genickstoß geben wollen, um ihn von dieser in die andere Welt zu schicken! ... Kap Matifu, Du nimmst den Einen, ich nehme den Anderen!«
Sarcany war aber stehen geblieben ... Er fürchtete wiedererkannt zu werden.
Ein Fluch entfuhr seinen Lippen. Er entschlüpfte nach rechts, noch ehe Pointe Pescade ihn erreicht hatte und verschwand inmitten der Gebüsche.
Einen Augenblick später, gerade als Silas Toronthal sich hinabstürzen wollte, war dieser von Kap Matifu angepackt und auf den Weg zurückgebracht worden.
»Lassen Sie mich! rief er. Lassen Sie mich!
– Sie einen Fehltritt thun lassen? Nimmermehr, Herr Toronthal,« rief Pointe Pescade.
Der einsichtige Mensch war auf diesen Zwischenfall, den seine Instructionen nicht vorgesehen hatten, in keiner Weise vorbereitet. Wenn nun auch Sarcany entkommen war, so hatte er doch wenigstens Silas Toronthal abgefangen und es handelte sich jetzt zunächst darum, ihn nach Antekirtta zu bringen, wo er mit allen Ehren, die er beanspruchen konnte, empfangen werden sollte.
»Willst Du Dich mit dem Transporte dieses Herrn – zu ermäßigtem Preise – befassen? fragte Pointe Pescade Kap Matifu.
– Gern!«
Silas Toronthal hatte kaum das Bewußtsein von dem, was hier vorging und wagte daher nicht den geringsten Widerstand. Pointe Pescade schlug einen ziemlich abschüssigen Fußpfad ein, der zum Ufer hinab, an dem Abgrunde herum führte, und wurde von Kap Matifu gefolgt, der den trägen Körper des Bankiers bald zog, bald schleppte.
Das Herniedersteigen war ein höchst mühseliges und ohne die wunderbare Geschicklichkeit Pointe Pescade's, ohne die außerordentliche Kraft seines Genossen, hätten Beide im Umsehen einen tödtlichen Sturz erleiden können.
Nachdem sie gewiß zwanzig Mal ihr Leben auf's Spiel gesetzt hatten, langten sie endlich glücklich bei den letzten, schon im Niveau des Meeres liegenden Klippen an. Dort wird das Ufer von einer Reihenfolge von kleinen Buchten gebildet, welche von der Natur willkürlich in die Sandsteinmasse hineingetrieben worden sind. Sie werden von hohen röthlichen Felswänden umrahmt und von eisenhaltigen Klippen eingeschlossen, so daß sie kleinen, mit Blut gefärbten Uferseen gleichen.
Der Tag begann schon heraufzudämmern, als Pointe Pescade eine Höhle im Innern einer dieser Einbuchtungen fand, welche die Brandung zur Zeit der geologischen Bewegungen geschaffen haben mag. In dieser konnte man Silas Toronthal bergen und Kap Matifu bei ihm als Wache bleiben.
»Du wirst hier bleiben und auf mich warten, Kap, sagte Pointe Pescade zu dem Riesen.
– So lange es nöthig sein wird, Pointe Pescade.
– Selbst zwölf Stunden, wenn ich so lange fortbleiben muß?
– Selbst zwölf Stunden.
– Ohne zu essen?
– Wenn ich heute Früh auch nicht frühstücken kann, so werde ich doch zu Mittag speisen können. – Dann für Zwei.
– Und solltest Du selbst nicht für Zwei zu Mittag essen können, dann magst Du für Vier das Abendbrod genießen.«
Kap Matifu ließ sich auf einem Felsen nieder, so zwar, daß er seinen Gefangenen stets vor Augen hatte. Pointe Pescade ging an den Rändern der verschiedenen Buchten entlang, bis er Monaco vor sich hatte.
Er sollte weniger Zeit zu seiner Rückkehr gebrauchen, als er geglaubt hatte. In knapp zwei Stunden Hütte er den »Electric« wiedergefunden, der auf einer der verlassenen Rheden ankerte, welche die Brandung gegen die Wogen der offenen See stützt. Eine Stunde später langte das Eilschiff vor der schmalen Bucht an, an welcher Kap Matifu, vom Meere aus gesehen, wie der mythologische Proteus auftauchte, die Heerden Neptun's hütend.
Einen Augenblick später waren Silas Toronthal und Kap Matifu an Bord. Weder die Zollwächter noch die Fischer der Küste hatten den »Electric« bemerkt, der mit Entwickelung seiner größten Schnelligkeit die Richtung nach Antekirtta einschlug.