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Am folgenden Morgen, den 5. Januar, betraten die Reisenden das große Territorium von Murray. Dieser ausgedehnte und unbewohnte District reicht bis an die hohe Kette der Australischen Alpen. Noch hat die Civilisation ihn nicht in bestimmte Grafschaften getheilt. Er ist der mindest bekannte und unbelebteste Theil der Provinz. Auch seine Wälder werden einst unter der Axt des Buschmannes fallen, seine Wiesenflächen die Heerde des Squatters nähren, aber noch ist's ein jungfräulicher Boden, wie er dereinst dem Indischen Ocean entstieg; noch ist es eine Wüstenei.
Der ganze Landstrich trägt auf den englischen Karten den bezeichnenden Namen: »Reserve for the blacks«, das Revier für die Schwarzen. Dorthin sind die Eingeborenen durch die Colonisten gewaltsam zurückgedrängt worden. In weitentlegenen Ebenen hat man ihnen in unzugänglichen Wäldern einige bestimmte Landstrecken überlassen, wo die Race der Ureinwohner langsam erlischt. Jeder Weiße, jeder Colonist, Auswanderer, Squatter oder Buschmann hat das Recht, die Grenzen dieses Gebietes zu überschreiten, der Schwarze allein darf sie niemals verlassen.
Paganel befaßte sich während des Reitens mit dieser wichtigen Frage der eingeborenen Stämme. Er hatte darüber nur das eine Urtheil, daß das britische System die überwundenen Völkerschaften der Vernichtung entgegenführe, schon indem es sie der Wohnsitze beraubt, die ihre Vorfahren inne hatten. Diese verderbliche Tendenz zeigte sich überall, und in Australien am meisten. In den ersten Jahren der Colonie betrachteten die Deportirten, ja selbst auch die freien Colonisten, die Schwarzen als wilde Thiere. Sie machten Jagd auf dieselben und schossen sie nieder. Man tödtete sie und rief auch noch den Wahrspruch der Gerichtshöfe an, daß der Australier außer den Gesetzen der Natur stehe und die Ermordung dieser Unglücklichen kein Verbrechen sei. Die Journale von Sidney schlugen sogar als durchgreifendes Mittel, sich von den am See Hunter lebenden Stämmen zu befreien, vor, dieselben in Masse zu vergiften.
Man erkennt, wie die Engländer bei ihrem ersten Auftreten den Mord der Colonisirung zu Hilfe riefen. Ihre Grausamkeit war abscheulich. Sie verfuhren in Australien wie in Indien, wo fünf Millionen Indier spurlos verschwanden, oder wie am Cap, wo eine Bevölkerung von einer Million Hottentotten auf hunderttausend Köpfe zusammenschmolz. So ist auch hier die eingeborene Bevölkerung, welche durch Mißhandlung und Trunksucht decimirt wird, dabei, vor jener menschenmörderischen Civilisation von dem Festlande zu verschwinden. Manche Gouverneure haben allerdings Verordnungen gegen jene blutgierigen Bushmen erlassen. Mit einigen Peitschenhieben bestraften sie den Weißen, der einem Schwarzen die Nase oder die Ohren abschnitt, oder ihn auch des kleinen Fingers beraubte, »um sich einen Pfeifenräumer daraus zu machen«. Leere Drohungen! Die Mordgesellen organisirten sich in größerem Maßstabe und ganze Tribus verschwanden von der Erde. Hier sei beispielsweise nur die Vandiemens-Insel angeführt, deren fünftausend Eingeborene zu Anfang des Jahrhunderts im Jahre 1863 auf – sieben herabgekommen waren! Und kürzlich erst, konnte der »Mercure« melden, daß in Hobart-Town der Letzte der Tasmanier angekommen sei.
Weder Glenarvan, noch der Major oder John Mangles widersprachen Paganel. Und wenn sie selbst Engländer gewesen wären, sie hätten ihre Landsleute nicht vertheidigen können. Die Thatsachen sprachen zu offenkundig und unbestreitbar.
»Vor fünfzig Jahren,« fügte Paganel hinzu, »wären wir auf unserem Wege schon manchem Stamme Eingeborener begegnet, heut ist uns bis jetzt noch kein Einziger zu Gesicht gekommen. In einem Jahrhundert wird sich dieser Continent seiner schwarzen Race vollkommen entledigt haben.«
Wirklich zeigte sich das Negerrevier völlig verlassen. Keine Spur von Lagerplätzen oder Hütten war bemerkbar. Freie Ebenen und große Gehölze reihten sich an einander, und mehr und mehr nahm die Gegend den Charakter der Wildniß an. Es schien fast, als ob kein lebendes Wesen, weder Mensch noch Thier, in diesen entlegenen Gegenden vorkäme, als Robert vor einer Eucalyptusgruppe hielt und ausrief:
»Ein Affe! Da ist ein Affe!«
Er zeigte dabei nach einem großen schwarzen Körper, der mit wunderbarer Behendigkeit von Ast zu Ast glitt und sich von einem Wipfel zum andern schwang, als wenn irgend ein Hilfsmittel, etwa eine Flughaut, ihn in der Luft erhielte. Sollten in diesem fremdartigen Lande vielleicht auch die Affen fliegen können, so wie jene Füchse, welche die Natur mit Fledermausfittichen ausgestattet hat?
Inzwischen hatte der Wagen Halt gemacht, und jedes Auge folgte dem Geschöpf, welches sich nach und nach in der Krone des Eucalyptus verlor. Bald darauf sah man es mit Blitzesschnelle wieder herabsteigen, mit tausend Verrenkungen und Sprüngen auf der Erde dahinlaufen und endlich seine langen Arme nach dem glatten Stamme eines gewaltigen Gummibaumes ausstrecken. Man fragte sich, wie es wohl an diesem geraden und glatten Baum, den es nicht zu umspannen vermochte, emporklimmen werde. Der Affe aber hackte mit einer Art Beil kleine Stufen in den Stamm, und mit Hilfe dieser gleichweit von einander entfernten Stützpunkte gelangte er bis zur Gabeltheilung desselben. In wenigen Secunden verschwand er in dem Blätterdickicht.
»Ei! Was ist das für ein Affe?« fragte der Major.
»Dieser Affe,« erwiderte Paganel, »ist ein Vollblut-Australier!«
Noch hatten die Begleiter des Geographen nicht Zeit gehabt, mit den Achseln zu zucken, als aus geringer Entfernung Rufe, welche man schriftlich etwa mit »coo-eeh! coo-eeh!« wiedergeben könnte, an ihr Ohr schlugen. Ayrton trieb seine Ochsen an, und hundert Schritte weiterhin trafen die Reisenden unerwartet auf ein Lager von Eingeborenen.
Welch ein trauriger Anblick! Ein Dutzend Zelte erhoben sich auf dem nackten Erdboden. Diese »Gunyos«, welche aus Rindenstücken, die man gleich Dachziegeln übereinander geschichtet hatte, gefertigt waren, gewährten ihren elenden Bewohnern nur nach einer Seite hin einigen Schutz. Diese durch Elend heruntergekommenen Wesen waren wirklich abstoßend. Es waren etwa dreißig, Männer, Frauen und Kinder, mit zerfetzten Kängurufellen bekleidet.
Bei der Annäherung des Wagens suchten sie zunächst zu entfliehen, einige von Ayrton in unverständlichem Kauderwälsch ausgesprochene Worte schienen sie aber wieder zu beruhigen, so daß sie halb vertrauensvoll, halb furchtsam, wie Thiere, denen man einen leckeren Bissen hinhält, zurückkehrten.
Diese Eingeborenen von fünf Fuß und vier bis sieben Zoll Körpergröße, hatten nußbraune Hautfarbe, wolliges Haupthaar, lange Arme, hervorstehenden Unterleib, und ihr Körper war mit Narben vom Tätowiren oder von Schnitten, die bei Leichenfeierlichkeiten beigebracht wurden, bedeckt. Es giebt nichts Abschreckenderes, als ihre wahrhaft ungeschlachten Gesichter, mit dem ungeheuren Munde, der platten Stumpf-Nase, dem vorstehenden Unterkiefer mit weißen, aber schiefstehenden Zähnen. Niemals können menschliche Wesen so ausgeprägt den Typus des Thierischen aufweisen.
»Robert hat sich nicht geirrt,« sagte der Major, »das sind Affen, – meinetwegen Vollblut –, aber es bleiben doch Affen!«
»Aber, Mac Nabbs,« erwiderte sanft Lady Helena, »möchten Sie Denen Recht geben, die Jene wie wilde Thiere jagen? Diese armen Wesen sind doch Menschen!«
»Menschen!« rief Mac Nabbs, »höchstens Zwischengeschöpfe zwischen Mensch und Orang-Utang! Wenn ich ihren Gesichtswinkel mäße, würde ich ihn ebenso klein finden, wie beim Affen!«
In dieser Hinsicht hatte Mac Nabbs wohl Recht; der Gesichtswinkel des australischen Eingeborenen ist sehr spitz und nähert sich auffallend dem des Orang-Utang, er beträgt nämlich sechzig bis zweiundsechzig Grade. Auch ist der Vorschlag de Rienzi's nicht unbegründet zu nennen, diese Unglücklichen als besondere Race der »Pithecomorphen«, das sind affenähnliche Menschen, zu betrachten.
Aber mehr als Mac Nabbs war Lady Helena im Rechte, wenn sie diese Eingeborenen als seelenbegabte Wesen, wenn auch auf der untersten Stufe der Menschheit, auffaßte. Zwischen dem Thiere und dem Australneger bleibt immer noch eine nie zu überbrückende Kluft, welche die Arten scheidet. Pascal hatte gewiß Recht zu sagen, daß der Mensch nie und nirgends gleich dem Thiere ist; freilich setzte er nicht minder weise hinzu: »daß er auch nie zum Engel werde.«
Nun bewiesen aber gerade Lady Helena und Miß Mary Grant die Unhaltbarkeit jenes Nachsatzes des großen Denkers. Die beiden liebenswürdigen Frauen hatten den Wagen verlassen, liebevoll streckten sie den elenden Geschöpfen die Hand entgegen und boten ihnen Nahrungsmittel, welche die Wilden mit widerlicher Gier verschlangen. Die Eingeborenen mußten Lady Helena desto leichter für ein überirdisches Wesen halten, als nach ihrer religiösen Anschauung die Weißen früher Schwarze waren, welche nach ihrem Tode gebleicht sind.
Vorzüglich aber riefen die Frauen das Mitleid der reisenden Damen wach. Für die Verhältnisse einer Australierin existirt kein Vergleich; von einer stiefmütterlichen Natur auch nicht mit dem mindesten Liebreiz ausgestattet, ist sie eine von roher Gewalt entführte Sklavin, die kein anderes Hochzeitsgeschenk kennen lernt, als Schläge mit dem »Waddie«, das heißt, einem derben Stocke in der Hand ihres Herrn. Von dieser Zeit an muß sie sich, früh und schnell gealtert, den mühseligsten Arbeiten auf dem Wanderleben unterziehen, wobei sie auch mit ihren Kindern die in einem Binsenbündel eingepackten Jagd- und Fischergeräthschaften trägt, neben dem Vorrathe von »Phormium tenax«, aus dem sie die nöthigen Fäden herstellt. Sie muß die Nahrungsmittel für die Familie besorgen, sie verfolgt Dachse, Opossums und Schlangen bis in die Wipfel der Bäume; sie zerkleinert das Feuerholz, und schafft die Baumrinde zum Zelte herbei; ein geplagtes Lastthier, kennt sie keine Ruhe und verzehrt erst nach ihrem Herrn die unappetitlichen Reste, die Jener verschmähte.
Jetzt waren einige dieser Bedauernswerthen, die vielleicht schon lange jeder Nahrung entbehrten, dabei, mittels hingestreuter Körner einige Vögel herbeizulocken.
Sie lagen unbeweglich, todtenähnlich, ganze Stunden lang auf dem glühenden Boden ausgestreckt, und lauerten, bis ein naiver Vogel in das Bereich ihrer Hände kam. Ihre Kunst, Fallen zu stellen, reichte nicht weiter, und es gehörte eben ein gefiederter Bewohner Australiens dazu, um sich auf diese Weise fangen zu lassen.
Unterdessen umringten die durch das Entgegenkommen der Reisenden vertrauter gewordenen Eingeborenen die Ersteren, welche alle Mühe hatten, sich der vorzüglich entwickelten Diebesgelüste derselben zu erwehren. Diese sprachen ein vorwiegend aus Zungenlauten bestehendes pfeifendes Idiom, das dem Schrei mancher Thiere ähnelte. Manchmal hatte ihre Sprache jedoch auch Schmeicheltöne von großer Zartheit; häufig wiederholte sich das Wort »Noki, noki«, welches die begleitenden Handbewegungen genügend verständlich machten. Es hieß »Gebt mir, gebt mir!« und wurde auch bezüglich des Besten, was die Reisenden besaßen, laut. Olbinett hatte viel zu thun, um den Lagerraum und vor Allem den Proviant der Expedition zu schützen. Die armen Verhungerten warfen erschreckende Blicke auf den Wagen und wiesen ihre scharfen Zähne, denen wohl auch Menschenfleisch nichts Fremdes war. Die meisten australischen Stämme sind zwar im Friedenszustande gewiß keine Anthropophagen, aber es giebt ja nur wenig Wilde, welche den Körper des besiegten Feindes zu verzehren verschmähen.
Auf Helena's Wunsch ließ Glenarvan indeß einige Nahrungsmittel vertheilen.
Die Eingeborenen benahmen sich dabei auf eine Art und Weise, welche auch das fühlloseste Herz bewegt hätten; sie stießen Laute ähnlich denen wilder Thiere aus, wenn der Wärter diesen das tägliche Futter bringt. Ohne dem Major völlig beizustimmen, war es doch nicht zu leugnen, daß diese Menschenrace dem Thiere sehr nahe stand.
Olbinett glaubte galanter Weise erst die Frauen befriedigen zu sollen. Diese unglücklichen Creaturen wagten es aber nicht, vor ihren gefürchteten Herren zu essen. Letztere stürzten sich wie auf gute Beute auf das Backwerk und getrocknete Fleisch.
Mary Grant traten bei dem Gedanken, daß ihr Vater unter ebenso rohen Eingeborenen gefangen sein sollte, die Thränen in die Augen. Sie stellte sich vor, was ein Mann, wie Harry Grant, als Sklave eines solchen umherziehenden Stammes, zu leiden haben möchte, wo er dem Elend, dem Hunger und jeder Mißhandlung preisgegeben war.
John Mangles, der sie mit sorgenvoller Aufmerksamkeit betrachtete, errieth die Gedanken, von denen ihr Herz voll war, und kam ihren Wünschen durch einige Fragen an den Quartiermeister der Britannia zuvor.
»Ayrton,« sagte er, »sind Sie den Händen derartiger Wilden entlaufen?«
»Ja wohl, Kapitän,« antwortete Ayrton. »Diese Völkerschaften des Binnenlandes sind alle einander ähnlich. Hier sehen Sie indeß nur eine Handvoll dieser armen Teufel, doch wohnen an den Ufern des Darling noch zahlreiche Stämme, die von Häuptlingen beherrscht werden, welche mit furchtbarer Machtvollkommenheit handeln.«
»Was kann aber,« fragte John Mangles, »ein Europäer inmitten dieser Eingeborenen beginnen?«
»Das, was auch ich gethan habe,« erwiderte Ayrton; »er jagt und fischt mit ihnen, nimmt Theil an ihren Kämpfen und wird, wie ich schon erwähnte, je nachdem, was er leistet, behandelt. Ist er intelligent und tapfer, so nimmt er bei dem Stamme auch eine angesehene Stellung ein.«
»Aber er ist doch ein Gefangener?« sagte Mary Grant.
»Und so überwacht,« fügte Ayrton hinzu, »daß er weder bei Tage, noch bei Nacht einen Schritt thun kann.«
»Aber Ihnen, Ayrton,« sagte der Major, der sich in das Gespräch mischte, »ist es doch gelungen, zu entwischen.«
»Ja, Herr Mac Nabbs, und zwar gelegentlich eines Kampfes zwischen meinem Stamme und einer benachbarten Völkerschaft. Ich habe es durchgesetzt, nun wohl, jetzt bedauere ich es auch nicht. Sollte ich es aber noch einmal ausführen, ich glaube, ich zöge eine ewige Sklaverei den Qualen vor, die ich beim Marsch durch die Wüsten des Innern erduldet habe. Gott bewahre den Kapitän Grant davor, einen ähnlichen Rettungsversuch zu wagen!«
»Ja, gewiß muß es unser Wunsch sein, Miß Mary,« meinte John Mangles, »daß Ihr Vater bei irgend einem Stamme Eingeborener zurückgehalten werde. So werden wir weit leichter auf seine Fährte kommen, als wenn er in den Wäldern des Continentes umherirrte.«
»Sie haben noch immer Hoffnung?« fragte das junge Mädchen.
»Noch immer die eine, Miß Mary, Sie dereinst mit Gottes Hilfe glücklich zu sehen.«
Die feuchten Augen Mary Grant's allein konnten dem jungen Kapitän danken.
Während dieses Gesprächs entstand unter den Wilden eine ungewöhnliche Bewegung; sie stießen gellende Schreie aus, liefen verschiedentlich durch einander, ergriffen ihre Waffen und schienen von wilder Wuth erregt zu sein.
Glenarvan wußte nicht, wo das hinauswolle, als der Major an Ayrton die Frage richtete:
»Da Sie lange Zeit unter den Australnegern gelebt haben, verstehen Sie zweifelsohne auch die Mundart Dieser hier?«
»So ziemlich,« entgegnete der Quartiermeister, »aber so viel Stämme, so viel Mundarten. Doch glaube ich annehmen zu dürfen, daß diese Wilden aus Dankbarkeit Seiner Herrlichkeit ein Kampfspiel aufführen wollen.«
Wirklich war das die Ursache jener Bewegung. Ohne weitere Umstände griffen sich die Eingeborenen mit erheuchelter Wuth an, und das so täuschend, daß der weniger Unterrichtete einen ernsthaften Kampf vor sich zu haben glauben mußte. Die Australier sind aber nach Aussage aller Reisenden ganz perfecte Schauspieler und bei vorliegender Gelegenheit entwickelten sie ein ganz bemerkenswerthes Talent.
Ihre Angriffs- und Vertheidigungswaffen bestanden in einer Art hölzerner Keule, welche auch für den dicksten Schädel genügen würde, und eine Art »Tomahawk«, einem spitzen, sehr harten Steine, der zwischen zwei Stäben durch einen Klebstoff befestigt war. Diese Hacke hat einen zehnfüßigen Griff, und ist ein ebenso furchtbares Werkzeug für den Krieg, wie nützlich für die Beschäftigungen des Friedens, und dient je nach Bedarf zum Abhacken der Aeste und der Köpfe, und zum Zerschneiden der Leiber und der Bäume. Alle diese Waffen wurden unter wildem Geschrei von wahnsinnigen Händen geschwungen, die Kämpfer warfen sich auf einander, Einige stürzten wie todt zusammen, Andere erhoben ein Siegesgeschrei. Die Frauen, vorzüglich die älteren, feuerten, wie von der Furie des Krieges besessen, zum Kampfe an, fielen über die falschen Leichname her und verstümmelten sie scheinbar mit einer Wildheit, die auch in der Wirklichkeit nicht schrecklicher erscheinen konnte. Jeden Augenblick fürchtete Lady Helena das Spiel in einen ernsthaften Kampf ausarten zu sehen. Doch gingen die Kinder, die auch daran Theil genommen hatten, dabei nicht frei aus. Die kleinen Knaben und Mädchen, die übrigens noch wüthender erschienen, behandelten sich mit ganz respectablen Ohrfeigen.
Schon währte das Scheingefecht an zehn Minuten, als die Streiter plötzlich inne hielten. Die Waffen entfielen ihren Händen. Ein tiefes Schweigen folgte dem betäubenden Lärmen. Die Eingeborenen verharrten in ihrer zuletzt inne gehabten Stellung, wie die Figuren eines lebenden Bildes. Man hätte sie für versteinert halten können.
Was war die Ursache dieses Wechsels und was veranlaßte plötzlich diese marmorne Bewegungslosigkeit?
Eine Schaar Kakadus wurde in den Kronen der hohen Gummibäume bemerkbar; sie erfüllten die Luft mit ihrem Geschwätz und glichen mit den lebhaften Farben ihres Gefieders einem fliegenden Regenbogen. Die Erscheinung dieser glänzenden Wolke von Vögeln hatte das Gefecht unterbrochen. Die Jagd, welche doch nutzbringender erschien, folgte auf den Kampf.
Einer der Eingeborenen ergriff ein roth gefärbtes, eigentümlich construirtes Instrument, verließ seine noch immer bewegungslosen Genossen und verfügte sich zwischen Bäumen und Gebüschen näher nach der Gesellschaft der Kakadus hin. Er kroch lautlos dahin, streifte kein Blatt und verrückte kein Steinchen; es war ein gleitender Schatten.
Als der Wilde bis auf geeignete Entfernung nahe gekommen war, schleuderte er sein Instrument in wagerechter Richtung etwa zwei Fuß über den Boden hin. So flog diese Waffe etwa vierzig Fuß weit; plötzlich aber stieg sie, ohne die Erde zu berühren, senkrecht gegen hundert Fuß hoch aufwärts, verletzte ein Dutzend Vögel tödtlich und kam, eine Parabel beschreibend, zu den Füßen des Jägers zurück.
Glenarvan und seine Begleiter waren erstaunt; sie trauten ihren Augen nicht.
»Das war ein ›Boomerang‹!« sagte Ayrton.
»Der Boomerang!« rief Paganel, »der australische Boomerang!«
Wie ein Kind lief er nach dem Instrumente, das er aufhob, um zu sehen, »was denn daran sei.«
Man konnte wirklich zu dem Glauben verführt werden, daß ein innerer Mechanismus, etwa eine plötzlich losschnellende Feder, dem Wege desselben eine andere Richtung gegeben hätte. Aber nichts von dem Allen fand sich.
Der Boomerang bestand einfach in einem Stücke langen, krummen, dreißig bis vierzig Zolle langen Holzes; in der Mitte etwa drei Zoll dick, spitzte er sich nach den Enden hin scharf zu. Seine concave Seite trat um sechs Linien ein, während die convexe zwei scharfe vorspringende Ränder aufwies. Das Ganze war ebenso einfach als unerklärlich.
»Das ist also dieser berühmte Boomerang!« sagte Paganel, nachdem er das sonderbare Instrument genau betrachtet hatte. »Ein Stück Holz und Nichts weiter. Wie steigt er aber von einem gewissen Punkte seines horizontalen Laufes auf in die Luft, um auch wieder nach der Hand, die ihn schleuderte, zurückzukehren? Nie haben Gelehrte oder Reisende den Grund dieser Erscheinung anzugeben vermocht.«
»Sollte das nicht eine Wirkung ähnlich derjenigen sein, nach welcher ein in gewisser Art geworfener Reifen zu seinem Ausgangspunkte zurückkehrt?« fragte John Mangles.
»Oder vielmehr,« meinte Glenarvan, »ein Rückschlag, ähnlich dem der Billardkugel, die an einen bestimmten Punkt antrifft?«
»Keineswegs,« erwiderte Paganel; »in beiden Fällen ist ein bestimmter fester Punkt die Ursache der Reaction; der Erdboden für den Reifen, die Billardbande für die Kugel. Aber hier fehlt jener völlig; das Instrument berührt die Erde nicht und steigt doch zu beträchtlicher Höhe auf!«
»Nun, Paganel, wie erklären Sie aber diese Erscheinung,« fragte Lady Helena.
»Ich erkläre sie gar nicht, Madame, ich bestätige sie nur von Neuem; gewiß hängt sie von der Art und Weise des Schleudern und der eigenthümlichen Gestaltung des Boomerangs ab. Was das Schleudern betrifft, so ist dies übrigens noch ein Geheimniß der Australier.«
»Jedenfalls ist die Sache ziemlich geistreich . . . . für Affen«, sagte Lady Helena mit einem Seitenblick auf den Major, der wenig überzeugt den Kopf senkte.
Dabei verfloß unversehens die Zeit, und Glenarvan war dafür, den Weiterzug nach Osten nicht noch mehr zu verzögern; er ersuchte also die Reisenden, den Wagen wieder zu besteigen, als einer der Wilden im vollen Laufe daher kam und sehr lebhaft einige Worte aussprach.
»O,« übersetzte Ayrton, »sie haben Kasuare gesehen!«
»Wie? Handelt es sich um eine Jagd?« fragte Glenarvan.
»Das müssen wir noch sehen!« rief Paganel, »das wird merkwürdig; vielleicht spielt der Boomerang dabei wieder seine Rolle.«
»Was meinen Sie, Ayrton?«
»Es wird uns das nicht lange aufhalten, Mylord«, erwiderte der Quartiermeister.
Die Eingeborenen hatten keinen Augenblick verloren; für sie ist es ein Glücksfall, Kasuare zu erlegen. Der Stamm sichert sich dadurch für einige Tage Nahrung. Auch verwenden die Jäger alle Schlauheit, eine solche Beute zu erlangen. Aber wie ist es ihnen möglich, ohne Gewehre und ohne Hunde ein so schnelles Thier zu erlegen oder zu erlangen? Darin lag die interessante Seite des Schauspiels, das Paganel nicht versäumen wollte.
Der Emu oder haubenlose Kasuar, in der Ursprache »Mureuk« genannt, ist ein in den australischen Ebenen schon seltener werdendes Thier. Dieser große, zweiundeinhalb Fuß hohe Vogel hat ein weißes, dem des Truthahns ähnliches Fleisch; auf dem Kopfe trägt er eine hornige Platte, seine Augen sind hellbraun, der Schnabel nach unten zu gekrümmt; seine dreizehigen Füße haben mächtige Krallen; seine abgestutzten Flügel können ihm nicht zum Fliegen dienen; am Halse ist sein Gefieder, um nicht zu sagen sein Fell, dunkler als an der Brust. Wenn er aber auch nicht fliegt, so läuft er doch, und würde im Wettrennen das schnellste Pferd überholen. Man kann ihn also nur durch List, und zwar durch nicht ganz gewöhnliche, fangen.
Auf den Anruf der Eingeborenen verstreuten sich etwa zehn Australneger nach Art der Tirailleurs. Das Ganze ging in einer wunderbaren Ebene vor sich, wo der Indigo wild wuchs und den Boden mit seinen blauen Blumen bedeckte. Die Reisenden postirten sich an dem Saume eines Mimosenwäldchens.
Bei der Annäherung der Eingeborenen erhoben sich ein halbes Dutzend Emu's, flohen davon und setzten sich etwa in einer Meile Entfernung wieder nieder. Als der Jäger des Stammes sich über ihren Standpunkt vergewissert hatte, machte er seinen Kameraden ein Zeichen, stehen zu bleiben. Jene streckten sich platt auf den Boden, wahrend er selbst aus seinem Netze zwei geschickt genähte Kasuarbälge zog, mit denen er sich auf der Stelle vermummte. Den rechten Arm streckte er über den Kopf in die Höhe und ahmte die Bewegung eines Emu nach, der sich Nahrung sucht.
Der Eingeborene wandte sich gegen die Heerde; bald machte er Halt, um scheinbar einige Körner aufzupicken, bald wirbelte er mit den Füßen den Staub um sich auf, und umhüllte sich mit einer dichten Wolke. Das ganze listige Verfahren war vollendet in seiner Art. Nicht treuer konnte die ganze Art und Weise eines Emu copirt werden. Der Jäger ließ noch ein dumpfes Gurren ertönen, durch welches selbst ein Vogel sich täuschen lassen mußte. So geschah es auch. Bald befand sich der Wilde mitten in der sorglosen Gesellschaft, aber plötzlich schwang sein Arm die Keule und fünf Emu von jenen sechs fielen ihm zur Seite nieder.
Der Jäger hatte seinen Erfolg, die Jagd war zu Ende.
So nahm denn Glenarvan nebst den Damen und die ganze kleine Truppe von den Eingeborenen Abschied. Diese zeigten keinerlei Betrübniß bei der Trennung. Vielleicht hatte die Frucht der Kasuarjagd sie ihren befriedigten Heißhunger vergessen lassen. Sie besaßen nicht einmal jene Dankbarkeit des Magens, welche bei uncultivirten Naturmenschen und Thieren stärker ist, als die des Herzens.
Doch wie dem auch sei, nach gewissen Richtungen hin konnte man ihrer Intelligenz und Geschicklichkeit nicht alle Achtung versagen.
»Jetzt, mein lieber Mac Nabbs,« sagte Lady Helena, »werden Sie doch zugestehen, daß die Australier keine Affen sind?«
»Weil sie ein Thier so vollendet nachzuahmen verstehen?« versetzte der Major; »das sollte vielmehr meine Annahme erhärten.«
»Ein Scherz ist keine Antwort,« sagte Lady Helena, »ich wünsche, Major, daß Sie auf Ihren Ausspruch zurückkommen.«
»Nun gut; ja! liebe Cousine, oder vielmehr, nein. Die Australier sind keine Affen, sondern die Affen sind Australier.«
»Potz tausend!«
»Uebrigens, erinnern Sie sich wohl, was die Neger bezüglich der interessanten Race der Orang-Utangs annehmen?«
»Das wäre?« fragte Lady Helena.
»Sie nehmen an,« erwiderte der Major, »daß diese Affen Neger sind, wie sie selbst, nur boshaftere. ›Sprechen nur nicht, um nicht arbeiten zu müssen‹, sagte ein Schwarzer in seiner Eifersucht auf einen zahmen Orang-Utang, den sein Herr nährte, ohne daß er zu arbeiten brauchte.«