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Diese Worte machten einen erstaunlichen Eindruck, der sich nicht schildern läßt. Glenarvan stand hastig auf, stieß seinen Stuhl zurück, und rief:
»Wer spricht so?«
»Ich,« erwiderte einer der Diener des Paddy O'Moore, der am Ende des Tisches saß.
»Du, Ayrton!« sagte der Pflanzer, ebenso überrascht, wie Glenarvan.
»Ich,« erwiderte Ayrton, in bewegten, doch festem Ton, »ich, ein Schotte, wie Sie, Mylord, ich, einer der Schiffbrüchigen der Britannia.«
Diese Erklärung machte einen unbeschreiblichen Eindruck. Mary Grant, halb ohnmächtig durch die Bewegung ihres Gemüths, halb sterbend vor Glück, sank in die Arme der Lady Helena. John Mangles, Robert, Paganel sprangen von ihrem Sitz auf und stürzten auf den zu, welchen Paddy O'Moore auf dem Namen Ayrton angeredet hatte.
Es war ein Mann von fünfundvierzig Jahren und von rauhem Aeußern, dessen leuchtender Blick sich unter tiefdunkeln Augenbrauen verlor. Trotz seiner Magerkeit schien er von außergewöhnlicher Körperstärke zu sein. Er war ganz Nerv und Knochen, und vergeudete, um einen schottischen Ausdruck zu gebrauchen, seine Zeit nicht damit, Fett anzusetzen. Ein mittelgroßer Wuchs, breite Schultern, ein entschiedener Gang, ein Gesicht, das trotz der Härte seiner Züge, voller Intelligenz und Entschlossenheit war, nahmen für ihn ein. Die Sympathie, welche er einflößte, wuchs noch durch die Spuren eines noch jungen Leidens, welche auf seinem Gesicht abgeprägt waren. Man sah, daß er gelitten, und zwar viel gelitten hatte, obgleich er der Mann zu sein schien, Leiden zu ertragen, ihnen zu trotzen und sie zu überwinden.
Glenarvan und seine Gefährten hatten diese Empfindungen auf den ersten Blick. Die Persönlichkeit Ayrton's imponirte von Anfang an. Glenarvan, der sich zum Dolmetscher der Anderen machte, bestürmte ihn mit Fragen, welche Ayrton beantwortete. Das Zusammentreffen Glenarvan's und Ayrton's hatte offenbar in Beiden eine gegenseitige Erregung erzeugt.
Die ersten Fragen Glenarvan's jagten sich auch ohne alle Ordnung, wie gegen seinen Willen.
»Sie sind Einer der Schiffbrüchigen von der Britannia?« fragte er.
»Ja, Mylord, der Quartiermeister des Kapitän Grant,« antwortete Ayrton.
»Und mit ihm nach dem Schiffbruche gerettet?«
»Nein, Mylord, nein! In jenem schrecklichen Augenblicke wurde ich getrennt, vom Verdeck weggerissen und an die Küste geschleudert.«
»Sie sind also Keiner der zwei Matrosen, deren das Document erwähnt.«
»Nein. Das Vorhandensein dieses Documentes ist mir ganz unbekannt. Das hat der Kapitän in's Meer geworfen, als ich nicht mehr an Bord war.«
»Aber der Kapitän? Der Kapitän?«
»Ich hielt ihn für ertrunken, verschwunden, für untergegangen mit der ganzen Besatzung der Britannia. Ich glaubte der einzige Ueberlebende zu sein.«
»Sie sagten aber, daß der Kapitän Grant noch lebe.«
»Nein. Ich habe gesagt: Wenn der Kapitän noch lebt . . .«
»Sie fügten hinzu: – so befindet er sich auf dem australischen Festlande! . . .«
»Und er kann auch wirklich nur da sein.«
»Sie wissen demnach nicht, wo er ist?«
»Nein, Mylord. Ich wiederhole Ihnen, daß ich glaubte, er sei von den Fluthen verschlungen oder an den Felsen zerschellt. Erst von Ihnen höre ich, daß er noch leben könnte.«
»Nun aber, was wissen Sie überhaupt?« fragte Glenarvan.
»Das allein: Wenn Kapitän Grant noch am Leben ist, so ist er in Australien.«
»Wo hat denn der Schiffbruch stattgefunden?« sagte da der Major Mac Nabbs.
Offenbar hätte das die erste Frage sein müssen; in der Aufregung aber, die dieses Ereigniß veranlaßte, unterrichtete sich Glenarvan, dem es vor Allem darauf ankam, zu wissen, wo sich der Kapitän Grant befand, gar nicht über den Ort, wo die Britannia verloren gegangen war. Von jetzt an nahm die Unterredung, die bis dahin unbestimmt und unlogisch gewesen war, die sich nur in Sprüngen bewegte, die Gegenstände nur oberflächlich berührte, ohne sie zu erschöpfen, die die Thatsachen vermengte und die Zeitangaben umkehrte, einen geregelten Gang an, und bald standen die Einzelheiten dieser dunkeln Geschichte klar und bestimmt vor dem Geiste der Zuhörer.
Auf Mac Nabbs' Frage antwortete Ayrton folgendermaßen:
»Als ich vom Vorderkastell, wo ich den Klüverbaum niederholte, weggerissen wurde, trieb die Britannia auf die Küste Australiens zu. Sie war kaum zwei Kabellängen davon entfernt. An der nämlichen Stelle hat der Schiffbruch stattgefunden.«
»Auf dem siebenunddreißigsten Grade südlicher Breite?« fragte John Mangles.
»Auf dem siebenunddreißigsten Breitengrade,« antwortete Ayrton.
»An der westlichen Küste?«
»O, nein, an der östlichen,« erwiderte lebhaft der Quartiermeister.
»Und wann?«
»In der Nacht des 27. Juni 1862.«
»So ist es! So ist es!« rief Glenarvan.
»Sie sehen also wohl, Mylord,« fügte Ayrton hinzu, »daß ich Recht hatte zu sagen: Wenn Kapitän Grant noch lebt, so ist er auf dem Festlande Australiens, und nirgends sonstwo, aufzusuchen.«
»Und wir werden ihn suchen, finden und retten, mein Freund!« rief Paganel aus. »O, Du kostbares Dokument,« setzte er in voller Naivetät hinzu, »man muß gestehen, daß Du in die Hände scharfsinniger Leute gefallen bist.«
Ohne Zweifel hörte Niemand Paganel's schmeichelhafte Worte. Glenarvan, Lady Helena, Mary und Robert hatten sich um Ayrton gedrängt. Sie drückten ihm die Hände. Es schien, als ob die Gegenwart dieses Mannes eine Gewähr für die Rettung Harry Grant's darböte. Wenn der Matrose den Gefahren des Schiffbruches entgangen war, warum sollte sich der Kapitän nicht aus dieser Katastrophe gerettet haben? Ayrton wiederholte willig, daß Kapitän Grant so gut wie er am Leben sein werde. Wo, wußte er nicht zu sagen, aber gewiß auf diesem Continent. Mit Intelligenz und bemerkenswerter Sicherheit beantwortete er tausend Fragen, die auf ihn einstürmten. Miß Mary hielt, während sie sprach, eine seiner Hände in den ihrigen. Es war ja ein Begleiter ihres Vaters, dieser Matrose, einer der Seeleute von der Britannia! Er hatte neben Harry Grant gelebt, mit ihm die Meere durchschifft, denselben Gefahren getrotzt! Mary vermochte ihre Augen gar nicht von dem rauhen Antlitz abzuwenden, und weinte vor Glück.
Bis dahin war es Niemand eingefallen, in die Wahrheitsliebe und Identität des Quartiermeisters einen Zweifel zu setzen. Nur der Major, und vielleicht John Mangles, die sich nicht so schnell ergaben, fragten sich, ob denn die Worte Ayrton's wirklich unbedingtes Vertrauen verdienten. Sein unvorhergesehenes Zusammentreffen konnte wohl einige Zweifel, wenn nicht einigen Verdacht, erregen. Gewiß hatte Ayrton Thatsachen und Zeitpunkte mit schlagender Genauigkeit angegeben. Aber Einzelheiten, so zutreffend sie sind, bilden noch keine Gewißheit, und gewöhnlich sucht sich, wie Jeder beobachtet hat, die Lüge durch die Genauigkeit der Einzelheiten zu stützen. Mac Nabbs bewahrte seine Ansicht, sprach sie aber nicht aus.
Was John Mangles betrifft, so wichen seine Zweifel bald der Rede des Matrosen, und er hielt ihn wirklich für einen Begleiter des Kapitän Grant, als er ihn gegen das junge Mädchen von deren Vater sprechen hörte. Ayrton kannte Mary und Robert vollkommen. Er hatte sie in Glasgow noch bei der Abfahrt der Britannia gesehen. Er erinnerte sie an das Frühstück, welches den Freunden des Kapitäns zum Abschiede noch an Bord gegeben wurde. Der Sheriff Mac Intyre war mit dabei. Man hatte Robert, – der damals gegen zehn Jahre alt war – der Fürsorge des Rüstmeisters Dick Turner anvertraut, aber er entwischte diesem und kletterte in den Bramstengen herum.
»Das ist wahr, das ist wahr!« rief Robert Grant.
So erinnerte Ayrton an tausend geringfügige Umstände, ohne ihnen ein so besonderes Gewicht, wie es John Mangles that, beizulegen.
Als er schwieg, bat ihn Mary mit sanfter Stimme:
»Erzählen Sie doch noch mehr von unserem Vater, Herr Ayrton!«
Der Quartiermeister befriedigte, so gut er konnte, die Wünsche des Mädchens. Glenarvan wollte ihn nicht unterbrechen, und doch drängten sich zwanzig nützlichere Fragen in seinem Geiste; doch hielt Lady Helena, die ihn auf Mary's freudige Rührung aufmerksam machte, seine Worte zurück.
Bei dieser Gelegenheit erzählte Ayrton auch die Geschichte der Britannia und ihre Reise über den Stillen Ocean. Mary Grant kannte schon einen großen Theil derselben, da die Schiffsnotizen bis zum Mai 1862 reichten. Während jenes Zeitraums eines Jahres lief Harry Grant alle Hauptländer Oceaniens an. Er berührte die Hebriden, Neu-Guinea, Neu-Seeland, war entrüstet über die oft wenig gerechtfertigten Besitzergreifungen, und litt von dem bösen Willen der britischen Behörden, denn sein Fahrzeug war in den englischen Colonien vorher angemeldet. Indeß hatte er einen wichtigen Punkt auf der Westseite von Papuasien gefunden; dort erschien ihm die Gründung einer schottischen Kolonie nicht schwierig, und ihr Gedeihen gesichert; wirklich mußte ja wohl ein guter Hafen auf dem Wege nach den Molukken und den Philippinen Schiffe herbeiziehen, vorzüglich wenn die Durchstechung der Landenge von Suez den Weg um das Kap der Guten Hoffnung unnötig machte. Harry Grant gehörte zu denen, welche in England das Unternehmen des Herrn von Lesseps lobend würdigten und nicht politische Eifersüchteleien mit einem großen internationalen Interesse vermengten.
Nach dieser Erforschung des Papualandes segelte die Britannia, um frischen Proviant einzunehmen, nach Callao, und verließ diesen Hafen wieder am 30. Mai 1862, um durch den Indischen Ozean und um das Kap herum nach Europa zurückzukehren. Drei Wochen nach seiner Abfahrt wurde das Schiff von einem furchtbaren Sturm verschlagen. Die Masten mußten gekappt werden. Da zeigte sich auch ein Leck, das man nicht zu stopfen vermochte. Die Besatzung war bald erschöpft und am Ende ihrer Kräfte. Man vermochte das Wasser nicht völlig auszupumpen. Acht Tage lang war die Britannia ein Spiel des Orkanes. Sie hatte sechs Fuß Wasser im Raume und sank allmälig. Die Boote waren ihr durch den Sturm entrissen worden. Alles hätte an Bord umkommen müssen, als in der Nacht des 27. Juni, wie es Paganel ganz richtig verstanden hatte, die Ostküste Australiens in Sicht kam. Bald scheiterte nun das Schiff mit einem furchtbaren Stoße. In diesem Augenblicke wurde Ayrton durch eine Woge weggerissen und mitten in die Brandung geschleudert, wo er das Bewußtsein verlor. Als er wieder zu sich kam, befand er sich unter den Händen von Eingeborenen, die ihn in das Innere des Landes hineinschleppten. Seitdem hatte er nichts wieder von der Britannia gehört, und nahm nicht ohne Ursache an, daß dieselbe an den gefährlichen Riffen der Twofold-Bai mit Mann und Maus zu Grunde gegangen sei.
Hier endete der Bericht, soweit er Kapitän Grant betraf. Mehr als einmal veranlaßte er schmerzliche Ausrufe. Nur ungerechter Weise hätte der Major an der Echtheit desselben zweifeln können. Nach der Geschichte der Britannia aber mußte die besondere Geschichte Ayrton's ein noch lebhafteres Interesse erwecken.
Gewiß hatte Grant, daran zweifelte man wegen des Vorhandenseins des Documentes nicht, mit zwei seiner Matrosen, ebenso wie Ayrton, den Schiffbruch überlebt. Von dem Schicksal des Einen ließ sich voraussichtlich auf das des Andern schließen.
Ayrton wurde also veranlaßt, seine Abenteuer zu erzählen. Sein Bericht war sehr einfach und kurz.
Der schiffbrüchige Matrose wurde als Gefangener eines eingeborenen Stammes nach den Gegenden, durch welche der Darling fließt, in das Innere, vierhundert Meilen nördlich vom siebenunddreißigsten Breitengrade, abgeführt. Dort lebte er zwar im Elend, da der Stamm selbst elend war, aber doch nicht mißhandelt. Es waren zwei lange Jahre einer peinlichen Sklaverei, doch hielt ihn die Hoffnung, seine Freiheit wiederzuerlangen, aufrecht. Er spähte die geringste Gelegenheit zur Flucht aus, und sollte sie ihn auch mitten in unzählige Gefahren stürzen.
In einer Octobernacht des Jahres 1864 täuschte er die Wachsamkeit der Wilden und verschwand in der Tiefe ungeheurer Wälder. Während eines Monats lebte er dort von Wurzeln, eßbaren Farrnkräutern und Mimosengummi, irrte mitten durch die ungeheure Einöde und nahm am Tage die Sonne, in der Nacht die Sterne zum Führer, oft niedergeschlagen von der Verzweiflung. So streifte er über Moräste, Ströme, Berge, kurz jenen ganzen Theil des menschenleeren Continents, welchen nur selten Reisende auf ihren kühnen Zügen berührt haben. Endlich gelangte er, halbtodt vor Erschöpfung, in der gastlichen Wohnung Paddy O'Moore's an, wo er durch seiner Hände Arbeit eine glückliche Existenz fand.
»Und wenn Ayrton mich lobt,« sagte der irländische Colonist nach Beendigung dieses Berichts, »so kann ich meinerseits nur ihn beloben. Er ist ein intelligenter, braver Mann, ein guter Arbeiter, und wenn es ihm recht ist, kann Paddy O'Moore's Haus noch lange das seinige sein.«
Ayrton dankte mit einer Handbewegung dem Irländer und wartete, daß weitere Fragen an ihn gerichtet würden. Er sagte sich, daß die berechtigte Neugierde seiner Zuhörer befriedigt werden müsse. Auf was hätte er hinfort nicht geantwortet, das nicht hundertmal gesagt worden wäre? Glenarvan wollte eben, unter Benutzung des Zusammentreffens mit Ayrton und der Nachrichten, welche dieser gab, einen neu aufzustellenden Plan zur Sprache bringen, als der Major an den Matrosen die Frage richtete:
»Sie waren also Quartiermeister an Bord der Britannia?
»Ja«, erwiderte Ayrton ohne Zögern.
Da er aber herausfühlte, daß dem Major eine Art von Mißtrauen, von vielleicht ganz leisem Zweifel diese Frage eingegeben hatte, setzte er hinzu:
»Ich habe übrigens auch meinen Schiffervertrag aus dem Schiffbruche gerettet.«
Sofort verließ er den Saal, um diese offiziellen Papiere zu holen. Nur eine Minute war er abwesend, aber diese genügte Paddy O'Moore, zu sagen:
»Mylord, ich empfehle Ihnen Ayrton als rechtschaffenen Mann. In den zwei Monaten, die er in meinen Diensten stand, hatte ich keinerlei Klage über ihn zu führen. Ich kannte die Geschichte seines Schiffbruchs und seiner Gefangenschaft. Es ist ein ergebener Mensch, der Ihres ganzen Vertrauens wert ist.«
Glenarvan wollte eben antworten, daß er nie an Ayrton's Wahrhaftigkeit gezweifelt habe, als dieser wieder eintrat und sein ganz regelrechtes Engagement vorlegte. Es war ein von den Reedern der Britannia und dem Kapitän Grant, dessen Handschrift Mary sogleich wiedererkannte, unterzeichnetes Papier. Es bestätigte, daß »Tom Ayrton, Matrose erster Klasse, als Quartiermeister an Bord des Dreimasters Britannia, von Glasgow, angenommen worden war«. Ueber die Identität Ayrton's konnte also kein Zweifel mehr bestehen, denn es war schwer anzunehmen, daß dieser Vertrag in seinen Händen wäre, ohne ihm wirklich zu gehören.
»Jetzt,« sagte Glenarvan, »spreche ich den Beirat Aller an, und möchte sogleich darüber verhandelt haben, was nun zu thun angemessen ist. Ihre Ansichten, Ayrton, sind für uns von besonderem Werthe, und ich würde Ihnen sehr verbunden sein, wenn Sie uns dieselben mittheilen.«
Nach einigen Augenblicken Ueberlegung erwiderte Ayrton:
»Ich danke Ihnen sehr, Mylord, für das Zutrauen, welches Sie mir schenken, und hoffe mich dessen würdig zu zeigen. Ich habe einige Kenntniß von dem Lande, von den Sitten der Eingeborenen, und wenn ich Ihnen nützlich sein kann . . .«
»Ganz gewiß,« unterbrach ihn Glenarvan.
»Ich glaube so wie Sie,« nahm Ayrton wieder das Wort, »daß sich der Kapitän Grant mit seinen zwei Matrosen aus dem Schiffbruche gerettet hat; da sie aber die englischen Besitzungen nicht erreicht haben und nicht wieder aufgetaucht sind, so bezweifle ich nicht, daß auch sie mein Loos ereilt hat und sie die Gefangenen eines Stammes wilder Ureinwohner sind.«
»Sie wiederholen da, Ayrton,« sagte Glenarvan, »dieselben Gründe, welche ich schon erwogen habe. Offenbar sind die Schiffbrüchigen Gefangene von Eingeborenen, so wie sie es auch befürchteten. Ist man aber zu der Annahme berechtigt, daß Jene auch, wie Sie, nordwärts vom siebenunddreißigsten Breitengrade weggeschleppt worden sind?«
»Das ist anzunehmen, mein Herr,« antwortete Ayrton; »die feindlichen Stämme wohnen nicht in der Nachbarschaft der unter englischer Herrschaft stehenden Districte.«
»Das würde unsere Nachforschungen freilich sehr erschweren,« sagte Glenarvan ganz betroffen. »Wie soll man die Spuren der Gefangenen im Innern eines so großen Landes wiederfinden?«
Ein längeres Schweigen folgte dieser Betrachtung. Lady Helena fragte mit den Augen Einen ihrer Gefährten nach dem Andern, ohne eine Antwort zu erlangen. Selbst Paganel blieb ganz gegen seine Gewohnheit stumm. Sein gewöhnlicher Scharfsinn ließ ihn im Stiche. John Mangles durchmaß mit großen Schritten den Saal, als ob er auf dem Verdeck seines Schiffes irgendwie in Verlegenheit gewesen wäre.«
»Und Sie, Herr Ayrton,« sagte endlich Lady Helena zu dem Matrosen, »was würden Sie thun?«
»Madame,« erwiderte lebhaft der Gefragte, »ich würde mich wieder an Bord des Duncan einschiffen und direct nach dem Orte des Schiffbruchs begeben. Dort würde ich nach den Umständen handeln und vielleicht nach den Fingerzeigen, die der Zufall darbietet.«
»Gut,« sagte Glenarvan, »aber wir werden warten müssen, bis der Duncan reparirt ist.«
»Ah, Sie haben Havarie erlitten?« fragte Ayrton.
»Ja,« erwiderte John Mangles.
»Schwere?«
»Nein, die Schäden machen aber Werkzeuge nöthig, welche wir nicht an Bord haben. Einer der Schraubenflügel hat sich verbogen, und das kann nur in Melbourne wieder ausgebessert werden.«
»Können Sie dahin nicht segeln?« fragte der Quartiermeister.
»Ja wohl; aber wenn wir nur ein wenig widrigen Wind hätten, würden wir bis zur Twofold-Bai sehr lange Zeit brauchen; jedenfalls muß es wieder nach Melbourne.«
»Nun gut,« rief da Paganel, »so gehe das Schiff nach Melbourne, wir gehen ohne dasselbe zur Twofold-Bai.«
»Und wie?« fragte John Mangles.
»Wir reisen durch Australien, wie wir zuvor durch Amerika gezogen sind, immer längs dem siebenunddreißigsten Breitengrade.«
»Aber der Duncan?« warf Ayrton ein, der dabei ganz eigentümlich beharrte.
»Der Duncan wird uns wiedertreffen, oder wir den Duncan, je nach den Umständen. Wird der Kapitän Grant auf unserm Wege aufgefunden, so kehren wir zusammen nach Melbourne zurück. Haben wir dagegen unsere Nachforschungen bis zur Küste fortzusetzen, so wird uns der Duncan dort treffen. Wer hat Etwas an diesem Plane auszusetzen? Vielleicht der Major?«
»Nein,« erwiderte Mac Nabbs, »wenn die Reise durch Australien ausführbar ist.«
»Sie ist so leicht ausführbar, daß ich Lady Helena und Miß Grant einlade, uns zu begleiten.«
»Sprechen Sie im Ernste, Paganel?« fragte Glenarvan.
»Ganz im Ernste, mein bester Lord. Es ist das eine Reise von dreihundertundfünfzig (englischen) Meilen, nicht mehr! Bei zwölf Meilen täglich dauert sie kaum einen Monat, d. h. gerade so lange, als für die Reparaturen des Duncan Zeit nöthig ist. Ja, wenn es sich darum handelte, das australische Festland unter niedrigerer Breite zu durchmessen, wenn man da, wo es seine größte Breite hat, durch kürzere Wege zu strecken, jene ungeheuren wasserarmen Wüsten mit ihrer fürchterlichen Hitze passiren, und überhaupt das unternehmen müßte, was die kühnsten Reisenden noch nicht versucht haben, das wäre etwas ganz Anderes. Der siebenunddreißigste Breitengrad aber durchschneidet die Provinz Victoria, ein durchweg englisches Land, mit gebahnten Wegen und Eisenbahnen, und in unserer Richtung zum großen Teil gut bevölkert. Das ist eine Reise, die man nach Belieben in der Kutsche, oder noch besser mit dem Karrenwagen macht. Es ist eine Spazierfahrt von London nach Edinburgh, nichts weiter.«
»Aber die wilden Thiere?« sagte Glenarvan, der alle etwa möglichen Hindernisse zu erwähnen suchte.
»In Australien gibt es keine wilden Thiere.«
»Aber die wilden Menschen?«
»Unter dieser Breite gibt es keine Wilden, und in jedem Falle sind sie nicht so grausam als in Neu-Seeland.«
»Aber die freien Verbrecher?«
»In den südlichen Provinzen Australiens gibt es deren nicht, nur im Osten. Die Provinz Victoria hat diese nicht nur zurückgewiesen, sondern sogar ein Gesetz erlassen, um freigelassene Verurteilte aus anderen Provinzen auszuschließen. Die Regierung zu Victoria hat in diesem Jahre sogar der Peninsular-Compagnie angedroht, ihr ihre Unterstützungsgelder zu entziehen, wenn die Schiffe Jener fortfahren würden, in den Häfen des Westens, wo die Verurtheilten zugelassen sind, Kohlen einzunehmen. Und das wissen Sie nicht, Sie, ein Engländer?«
»Ich bin für's Erste kein Engländer,« erwiderte Glenarvan.
»Was Herr Paganel sagte, ist vollkommen richtig,« bestätigte Paddy O'Moore. »Nicht allein die Provinz Victoria, sondern das ganze südliche Australien, Queensland, selbst Tasmania, sind übereingekommen, die Deportirten von ihren Territorien fern zu halten. Seit ich diese Farm bewohne, habe ich noch von keinem Einzigen reden hören.«
»Und ich meinestheils bin noch Keinem begegnet,« sagte Ayrton.
»Sie sehen also, meine Freunde,« fuhr Paganel fort, »sehr wenig Wilde, keine Raubthiere, keine Verbrecher! Es wird wenig Gegenden in Europa geben, von denen man dasselbe sagen könnte. Nun, sind wir einig darüber?«
»Was denkst Du darüber, Helena?« fragte Glenarvan.
»Was wir Alle darüber denken, mein lieber Edward«, antwortete Lady Helena, und wandte sich mit einem »Vorwärts! Vorwärts!« zu ihren Gesellschaftern.