Jules Verne
Die Kinder des Kapitän Grant.Zweiter Band
Jules Verne

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Capitel.
Von Melbourne nach Sandhurst.

Der Major sah nicht ohne Besorgniß Ayrton die Lagerstätte am Wimerra verlassen, um einen Schmied auf der Station Black-Point aufzusuchen. Aber er ließ kein Wort von persönlichem Mißtrauen laut werden, und beschränkte sich darauf, die Umgebung des Flusses zu überwachen. Die Ruhe dieser friedlichen Fluren wurde nicht im Mindesten getrübt, und nach einigen Stunden der Nacht erschien die Sonne wieder am Horizont.

Seinerseits fürchtete Glenarvan nur, Ayrton möge allein zurückkommen. Aus Mangel an Werkleuten konnte dann der Wagen nicht weiter fahren. Es gab dann vielleicht einen Aufenthalt von einigen Tagen, und Glenarvan, voll ungeduldiger Begierde, seinen Zweck zu erreichen, wollte durchaus keine Verzögerung.

Ayrton hatte glücklicher Weise weder Zeit, noch Wege verloren. Am andern Morgen erschien er schon ganz frühzeitig. Ihn begleitete ein Mann, der sich für den Hufschmied der Black-Point-Station ausgab. Es war ein starker, hochgewachsener Kerl, aber von niedrigem, thierischem Aussehen, das keineswegs für ihn einnahm. Verstand er nur sein Handwerk, so machte das hier ja Nichts aus. Jedenfalls sprach er nur wenig, und sein Mund machte keine unnützen Worte.

»Ist's denn ein brauchbarer Handwerker?« fragte John Mangles den Quartiermeister.

»Ich kenne ihn nicht mehr, als Sie, Kapitän,« antwortete Ayrton. »Wir werden es ja sehen.«

Der Schmied ging an's Werk. Es war ein Mann von Fach, man sah es an der Art und Weise, wie er den Vordertheil des Wagens reparirte. Er arbeitete geschickt und mit ungewöhnlicher Kraft. Der Major machte die Beobachtung, daß sich an seinen aufgeriebenen Handgelenken ein schwärzlicher Ring von ausgetretenem Blute zeigte, der ein Beweis einer neuerlichen Verwundung war und von den Aermeln eines schlechten wollenen Hemdes nur unvollkommen verdeckt wurde. Mac Nabbs fragte den Hufschmied nach der Ursache dieser Hautwunden, welche doch sehr schmerzhaft sein müßten. Der aber antwortete nicht, sondern setzte seine Arbeit fort. Zwei Stunden nachher waren die Beschädigungen des Wagens wieder hergestellt. Glenarvan's Pferd war schnell besorgt. Der Schmied hatte vollkommen vorbereitete Hufeisen mitgebracht, welche eine Eigenthümlichkeit darboten, die dem Major nicht entgehen konnte. Diese bestand in einem roh abgehauenen Kleeblatt in deren vorderem Theile. Mac Nabbs zeigte es Ayrton.

»Es ist das Zeichen von Black-Point,« erwiderte der Quartiermeister. »Es gestattet, die Spur der Pferde zu verfolgen, welche sich von der Station entfernen, und diese nicht mit der von anderen zu verwechseln.«

Bald waren die Eisen an den Hufen des Pferdes befestigt. Dann verlangte der Schmied seine Bezahlung und ging weg, ohne vier Worte gesprochen zu haben.

Eine halbe Stunde später waren die Reisenden wieder unterwegs. Jenseit der Mimosengebüsche erstreckte sich ein weiter, unbewachsener Raum, der seinen Namen open plain mit Recht verdiente. Einige Trümmer von Quarz und eisenhaltigem Gestein lagen da und dort zwischen dem Gebüsch, dem hohen Grase und den Umzäunungen, in denen sich zahlreiche Heerden aufhielten. Einige Meilen weiter sanken die Räder des Wagens tief im sumpfigen Boden ein, über dem ungleichmäßig fließende Bäche murmelten, welche halb hinter riesigem Röhricht verdeckt waren. Dann zog man an ausgedehnten Salzlagunen, die im vollen Verdunsten waren, vorbei. Die Reise ging ohne Mühe und wie hinzuzufügen ist, ohne Langeweile vorwärts.

Lady Helena lud die Herren ein, sie nach einander zu besuchen, denn ihr Salon war ausnehmend klein. Jeder erholte sich so von der Anstrengung des Reitens und vergnügte sich an der Unterhaltung mit dieser liebenswürdigen Frau. Lady Helena machte, unterstützt von Miß Grant, in ihrem wandernden Salon mit aller Anmuth die Honneurs.

John Mangles wurde bei diesen täglichen Einladungen natürlich nicht vergessen, und seine etwas ernsthafte Unterhaltung mißfiel keineswegs; im Gegentheil.

So kreuzte man diagonal die Poststraße von Crowland nach Horsham, einen sehr staubigen, von Fußgängern wenig benutzten Weg. Dann streifte man am Ende der Grafschaft Talbot eine Gruppe niedriger Hügel, und am Abend kam die Gesellschaft drei Meilen oberhalb Maryborough an. Ein feiner Regen, der in jedem andern Lande den Boden durchweicht hätte, fiel nieder; hier verzehrte die Luft so vollkommen und schnell alle Feuchtigkeit, daß das Nachtlager nicht belästigt wurde.

Am andern Tage, den 29. December, wurde die Reise durch eine Reihe kleiner Berge, welche eine Miniatur-Schweiz bildeten, etwas verzögert. Immer ging es hinauf und herab und gab es sehr unangenehme Stöße. Die Reisenden machten deshalb einen Theil des Weges zu Fuße.

Um elf Uhr kam man in Carlsbrook, einer ziemlich beträchtlichen Stadt, an. Ayrton war der Ansicht, um die Stadt herumzufahren, ohne selbst hineinzugelangen, um Zeit zu gewinnen, wie er sagte. Glenarvan stimmte ihm bei, Paganel aber, der auf alles Neue begierig war, wünschte Carlsbrook zu besuchen. Man ließ ihn gewähren, und der Wagen fuhr langsam weiter.

Paganel nahm, wie er immer zu thun pflegte, Robert mit sich. Sein Besuch der Stadt war nur kurz, doch genügte er, ihm eine genaue Vorstellung von den australischen Städten zu geben. Es befand sich dort eine Bank, ein Justizpalast, ein Markt, eine Schule, eine Kirche und etwa hundert ganz gleichmäßige Steingebäude. Alles das war in einem regelmäßigen Viereck untergebracht, welches von parallel laufenden Straßen, ganz nach englischer Weise, durchschnitten wurde. Es giebt nichts Einfacheres, aber auch nichts Trostloseres. Vermehrt sich die Stadt, so verlängert man die Straßen, wie die Höschen eines Kindes, wenn es wächst, und so wird die anfängliche Symmetrie in keiner Weise gestört.

In Carlsbrook herrschte eine rege Thätigkeit, das bemerkenswerthe Kennzeichen aller dieser Städte von gestern. Die Städte scheinen in Australien, wie die Bäume, unter der Sonnenhitze aufzuschießen. Beschäftigte Leute durcheilten die Straßen; Goldversender drängten sich an den Landungsbureaux; das kostbare Metall, das von eingeborenen Polizisten begleitet wurde, kam von Bentigo und vom Berg Alexander.

Alle diese von eigenem Interesse gereizten Leute hatten nur ihre Angelegenheiten im Kopfe, und die Fremden gingen ganz unbeachtet mitten durch diese geschäftige Bevölkerung.

Nach einstündigem Aufenthalt in Carlsbrook schlossen sich die Besucher ihren Genossen auf einem sorgfältig cultivirten Felde wieder an. Darauf folgten lange Prairien, welche unter dem Namen »Low lewel plains« bekannt sind, mit unzähligen Schafherden und Schäferhütten. Dann kam wieder Wüstenei, ohne allen Uebergang, in einer der australischen Natur eigenthümlichen Schroffheit. Die Simpson-Hügel und der Tarrangower-Berg bezeichneten die Spitze, in welche der District Loddo im Süden auf dem hundertvierundvierzigsten Längengrade ausläuft.

Bis dahin hatte man noch keine im Zustande der Wildniß lebende Eingeborene angetroffen. Glenarvan legte sich die Frage vor, ob die Australier in Australien wohl ebenso fehlen möchten, wie die Indianer in den argentinischen Pampas. Paganel belehrte ihn jedoch, daß die Wilden unter dieser Breite die Ebenen des Murray, welche hundert Meilen weiter östlich liegen, bevölkern.

»Wir nähern uns dem Goldlande,« sagte er. »Noch vor Verlauf zweier Tage werden wir durch die reiche Gegend am Berg Alexander kommen, wohin sich im Jahre 1852 der Schwarm der Goldgräber wendete. Die Ureinwohner mußten in die Wüsten des Innern entweichen. Wir befinden uns, ohne daß es den Anschein hat, in civilisirtem Lande, und unser Weg muß noch heute die Eisenbahn schneiden, welche den Murray und das Meer verbindet. Nun, meine Freunde, braucht man es noch auszusprechen, eine Eisenbahn in Australien, das ist doch ein erstaunlich Ding!«

»Und warum, Paganel«, fragte Glenarvan.

»Warum?! Weil das nicht zusammenpaßt! O, ich weiß recht wohl, daß Ihr Anderen, gewohnt, entlegene Besitzungen zu colonisiren, die Ihr elektrische Telegraphen und allgemeine Ausstellungen in Neu-Seeland habt, das sehr einfach finden werdet! Das stört aber den Geist eines Franzosen, wie ich es bin, und verwirrt alle seine Anschauungen über Australien.«

»Weil Ihr Blick auf die Vergangenheit, und nicht auf die Gegenwart gerichtet ist«, sagte John Mangles.

»Zugestanden!« antwortete Paganel; »aber Locomotiven, welche durch die Wüste keuchen und Dampfwolken, die sich in den Zweigen der Mimosen, Eucalypten, Echidneen und Ornythorhynchen verlieren, Kasuare, die vor einem Eilzuge fliehen, und Wilde, die den Expreßzug drei Uhr dreißig Minuten benutzen, um von Melbourne nach Kyneton, Castlemaine. Sandhurst oder Echuca zu fahren, das setzt jeden Andern, als einen Engländer oder Amerikaner, in Erstaunen. Mit dem Dampfwagen entflieht die Poesie der Wüste.«

»Immerzu, wenn der Fortschritt dafür einzieht!« antwortete der Major.

Da unterbrach ein greller Pfiff die Unterhaltung. Die Reisenden waren kaum noch eine Meile von dem Schienenwege entfernt. Eine von Süden kommende und nur mäßig schnell fahrende Locomotive hielt genau an dem Kreuzungspunkte des Schienenstranges und des von dem Wagen verfolgten Weges.

Diese Eisenbahn verband, wie Paganel gesagt hatte, die Hauptstadt Victoria mit dem Murraystrome, dem größten Flusse Australiens. Dieser großartige, im Jahre 1828 von Stuart entdeckte Wasserlauf, der von den australischen Alpen entspringt, und sich durch Aufnahme des Lachlan und des Darling vergrößert, benetzt die ganze Nordgrenze der Provinz Victoria und ergießt sich bei Adelaide in die Encounter-Bay. Er durchströmt reiches und fruchtbares Land, und immer nimmt, Dank der bequemen Eisenbahnverbindung mit Melbourne, die Anzahl der Stationen von Squattern längs seines Laufes zu.

Diese Eisenbahn war damals in einer Länge von hundertfünf Meilen, zwischen Melbourne und Sandhurst, mit Kyneton und Castlemaine dazwischen, im Betriebe. Die im Bau befindliche Strecke reichte noch siebenzig Meilen weiter bis Echuca, der Hauptstadt der Colonie Riverine, welche in eben diesem Jahre am Murray gegründet worden war.

Der siebenunddreißigste Breitengrad durchschnitt den Schienenweg einige Meilen oberhalb Castlemaine, genau an der über den Lutton, einen der zahlreichen Nebenflüsse des Murray, führenden Brücke.

Nach diesem Punkte führte Ayrton den Wagen, im Gefolge der Reiter, welche bis zur Camden-Brücke im Galop liefen. Dorthin trieb sie übrigens auch die Neugierde.

Nach eben dieser Stelle der Eisenbahn drängte sich nämlich eine beträchtliche Menschenmenge. Die Bewohner der benachbarten Stationen verließen ihre Häuser, die Schäfer ihre Heerden und füllten die Zugänge des Weges. Wiederholt war der Ruf: »Zur Bahn! Zur Bahn!« zu hören.

Es mußte irgend ein wichtiges Ereigniß vorliegen, das diese Bewegung veranlaßte. Vielleicht ein großes Unglück.

Glenarvan spornte sein Pferd und sprengte, gefolgt von seinen Begleitern, in wenigen Minuten zur Camden-Brücke. Dort wurde ihm die Ursache dieser Ansammlung klar.

Es hatte ein schreckliches Unglück stattgefunden, zwar kein Zusammenstoß von Zügen, aber eine Entgleisung und ein Sturz, der an die schwersten Katastrophen auf amerikanischen Eisenbahnen erinnerte. Der unter der Bahn hinlaufende Fluß war mit Wagen- und Locomotivtrümmern angefüllt. Mochte nun die Brücke unter der Last des Zuges nachgegeben haben, oder dieser aus den Schienen gesprungen sein, kurz, von sechs Wagen waren fünf der Locomotive nach in den Lutton gestürzt. Der letzte Wagen nur war durch Reißen der Verbindungsketten wie durch ein Wunder erhalten geblieben und stand, eine halbe Klafter vor dem Abgrunde, noch auf den Schienen. Unten war nur eine traurige Anhäufung von geschwärzten und verbogenen Achsen, eingedrückten Wagen, verdrehten Schienen und halbverbrannten Schwellen zu sehen. Der Dampfkessel, der bei dem Stoße gesprungen war, hatte Stücke seiner Platten auf ungeheure Entfernungen geschleudert. Aus diesem ganzen Wirrwarr formloser Massen züngelten da und dort Flammen, und kleine Dampfstrahlen stiegen neben schwarzem Rauche daraus auf. Nach dem entsetzlichen Sturz die noch schrecklichere Feuersbrunst! Breite Blutspuren, abgerissene Gliedmaßen und verkohlte Rumpfe sahen hier und und da hervor, und Niemand wagte die Zahl der unter diesen Trümmern begrabenen Opfer zu schätzen.

Glenarvan, Paganel, der Major und Mangles, die mitten unter der Menge waren, hörten die Ansichten, welche darüber von Einem zu dem Andern gingen. Jeder suchte eine Erklärung für die Katastrophe, während man an dem Rettungswerke arbeitete.

»Die Brücke ist zerbrochen,« sagte der Eine.

»Zerbrochen!« erwiderten Andere, »sie ist so wenig zerbrochen, daß sie noch völlig ganz daneben steht. Es ist vergessen worden, sie für den Uebergang des Zuges zu schließen. Das ist Alles!«

Es war nämlich hier eine Drehbrücke, welche zum Zwecke der Schifffahrt geöffnet wurde. Hatte sie der Wächter durch unverzeihliche Nachlässigkeit zu schließen vergessen, und war der in voller Fahrt begriffene Zug, dessen Weg plötzlich abgeschnitten war, in das Bett des Lutton hinabgestürzt? Diese Annahme hatte viel für sich, denn wenn eine Hälfte der Brücke unter den Wagentrümmern lag, so hing doch die andere, nach dem entgegengesetzten Ufer zu gedreht, ganz unversehrt an ihren Ketten. Es war also kein Zweifel mehr! Eine Nachlässigkeit des Bahnwärters hatte diese Katastrophe herbeigeführt.

Das Unglück war in der Nacht dem von Melbourne um elf Uhr fünfundvierzig Minuten abgelassenen Expreßzug Nr. 37 begegnet. Es mochte drei und ein Viertel Uhr Morgens sein, etwa fünfundzwanzig Minuten nach der Abfahrt von der Station Castlemaine, als der Zug bei der Camden-Brücke anlangte und dort seinen Untergang fand. Sofort suchten die Reisenden und Beamten des letzten Waggons nach Hilfe, der Telegraph aber, dessen Stangen auf der Erde lagen, funktionirte nicht. Drei Stunden brauchten die Behörden von Castlemaine, um an der Stelle des Unheils zu erscheinen. Es war also gegen sechs Uhr Morgens, als das Rettungswerk unter Leitung des Herrn Mitchell, Generalaufsehers der Colonie, organisirt und von einer Abtheilung durch einen ihrer Officiere commandirter Polizisten in Angriff genommen wurde. Die Squatters und deren Leute unterstützten Jene, und waren zunächst beschäftigt, die Feuersbrunst zu löschen, welche die Trümmer mit unerhörter Gier verzehrte. Einige unkenntliche Leichname wurden an der Böschung des Bahndammes niedergelegt. Darauf aber, ein lebendes Wesen aus diesem Schmelzofen zu retten, war von Anfang an zu verzichten. Das Feuer hatte das Werk der Zerstörung schnell beendet. Von den Reisenden des Zuges, deren Zahl man nicht kannte, lebten nur noch zehn, die in dem letzten Waggon sich befanden. Die Bahnverwaltung hatte eben eine Hilfslocomotive gesendet, um sie nach Castlemaine zurück zu führen.

Inzwischen sprach Lord Glenarvan, der sich dem Surveyor-General zu erkennen gegeben hatte, mit diesem und dem Polizeiofficier. Der Letztere war ein großer und magerer Mann von unerregbar kaltem Blute, der, wenn er überhaupt ein Gefühl im Herzen hatte, dasselbe wenigstens in seinen rührunglosen Zügen nicht sichtbar werden ließ. Er stand vor diesem Unglück wie der Mathematiker vor einem Problem: er suchte es zu lösen und die unbekannte Größe darin zu finden. Auf Glenarvan's Worte: »Das ist ein furchtbares Unglück!« erwiderte er ruhig:

»Nicht so schlimm, Mylord.«

»Nicht so schlimm?« rief Glenarvan, betroffen von dieser Redensart, aus, »und ist ein solches Unglück nicht etwas sehr Schlimmes?«

»Schlimmer wäre ein Verbrechen!« antwortete gelassen der Polizeiofficier.

Glenarvan hielt sich nicht länger bei dem Unpassenden dieser Worte auf und wandte sich mit fragendem Blicke an Mr. Mitchell.

»Ja wohl, Mylord,« entgegnete der Surveyor-General, »unsere Berathung hat die Gewißheit ergeben, daß diese Katastrophe die Folge eines Verbrechens ist. Der letzte Packwagen ist beraubt, die überlebenden Reisenden sind von einer Rotte von fünf bis sechs Verbrechern angefallen worden. Die Brücke hat man absichtlich offen gelassen und nicht aus Nachlässigkeit; wenn man dazu diese Thatsache mit dem Verschwinden des Bahnwärters zusammen hält, so muß man zu dem Schlusse kommen, daß dieser Elende der Mitschuldige jener Uebelthäter ist.«

Der Polizeiofficier schüttelte zu dieser Schlußfolgerung des Beamten etwas den Kopf.

»Sie theilen meine Ansicht nicht?« fragte ihn Mr. Mitchell.

»Nein; mindestens nicht bezüglich der Mitschuld des Wärters.«

»Diese Mitschuld,« fuhr der Surveyor-General fort, »gestattet es indessen, das Verbrechen den in den Murrayländern umherschweifenden Wilden zuzuschreiben. Ohne den Wächter konnten die Eingeborenen die Drehbrücke, deren Mechanismus ihnen unbekannt war, nicht öffnen.«

»Richtig«, sagte der Polizeiofficier.

»Ferner«, fuhr Mr. Mitchell fort, »ist durch die Aussage eines Schiffers, dessen Fahrzeug die Camden-Brücke um zehn Uhr vierzig Minuten Abends passirte, constatirt, daß dieselbe hinter ihm wieder regelrecht geschlossen worden ist.«

»Vollkommen.«

»Demnach scheint mir die Mitschuld des Bahnwärters unwiderleglich bewiesen.«

Fortwährend schüttelte der Polizeiofficier den Kopf.

In diesem Augenblicke entstand etwa eine halbe Meile stromaufwärts ein gewaltiges Lärmen. Es bildete sich ein Menschenhaufen, der zusehends anwuchs. Bald kam er bei der Station an. In der Mitte der Menschenmasse trugen zwei Männer einen Leichnam. Es war der schon erkaltete Körper des Bahnwärters. Ein Dolchstoß hatte ihn in's Herz getroffen. Die Mörder wollten offenbar dadurch, daß sie den Körper weit von der Camden-Brücke wegschleppten, den Verdacht der Polizei bei den ersten Nachsuchungen ablenken.

Diese Entdeckung bestätigte vollkommen den Verdacht des Polizeiofficiers. Die Wilden waren an diesem Verbrechen unbetheiligt.

»Die diesen Stoß geführt haben«, sagte er, »sind Leute, welche mit dem Gebrauche dieses kleinen Instrumentes schon vertraut waren.«

So sprechend zeigte er ein Paar Handschellen, die aus einem doppelten mit einem Schlosse versehenen Eisenring bestehen.

»In kurzer Zeit«, fuhr er fort, »werde ich das Vergnügen haben, jenen dieses Armband als Neujahrsgeschenk anzubieten.«

»Nun, so haben Sie Verdacht . . .?«

»Auf Leute, welche auf Schiffen Ihrer Majestät unentgeltlich gefahren sind«.

»Wie? Deportirte?«, rief Paganel, dem diese in den Colonien Australiens beliebte Bezeichnungsweise bekannt war.

»Ich glaubte«, bemerkte Glenarvan, »die Devortirten hätten nicht das Recht, sich in der Provinz Victoria aufzuhalten?«

»Pah!« erwiderte der Polizeiofficier, »wenn sie es nicht haben, so nehmen sie sich es eben! Das kommt so manchmal vor, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn die Deportirten, um die es sich hier handelt, nicht gerades Wegs von Perth kämen. Nun wohl, sie werden auch dahin zurückkehren, glauben Sie mir.«

Mr. Mitchell bestätigte durch eine Handbewegung die Worte des Polizeiofficiers. Jetzt kam auch der Wagen an der Stelle an, wo man auf gleichem Niveau der Eisenbahn über dieselbe kommen kann. Glenarvan wollte den Frauen den schrecklichen Anblick der Camden-Brücke ersparen. Er grüßte den Surveyor-General, verabschiedete sich von ihm, und winkte seinen Freunden, ihm zu folgen.

»Das ist doch wohl kein Grund, unsere Reise zu unterbrechen?« sagte er.

Beim Wagen angekommen, sprach er Lady Helena gegenüber nur von einem Eisenbahnunglücke, ohne des Antheils zu erwähnen, den das Verbrechen an dieser Katastrophe hatte; ebenso wenig that er der Anwesenheit einer Bande Deportirter in der Gegend Erwähnung, und behielt sich nur vor, Ayrton speciell zu instruiren. Dann fuhr die kleine Gesellschaft einige hundert Klafter oberhalb der Brücke über die Bahn und nahm ihren gewohnten Weg nach Osten.

 


 << zurück weiter >>