Jules Verne
Die Kinder des Kapitän Grant.Zweiter Band
Jules Verne

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Viertes Capitel.
Die Wetten Jacques Paganel's und des Major Mac Nabbs.

Am 7. December brummten auf dem Duncan die Oefen schon um drei Uhr Morgens, an den Winden wurde auch schon gearbeitet; der Anker kam in senkrechte Stellung, verließ den sandigen Boden des kleinen Hafens, die Schraube setzte sich in Bewegung, und die Yacht lief in die hohe See. Als die Passagiere um acht Uhr auf das Verdeck kamen, verschwand die Insel Amsterdam in den Nebeln des Horizonts. Sie bildete die letzte Haltestelle auf der Linie des 37. Breitengrades, und es waren nur noch dreitausend Meilen von da bis zur australischen Küste. Der Westwind brauchte nur zwölf Tage anzudauern und das Meer sich weiter günstig zu zeigen, so hatte der Duncan das Ziel seiner Reise erreicht.

Mary Grant und Robert konnten nicht ohne tiefe Rührung die Wogen betrachten, welche die Britannia ohne Zweifel einige Tage vor ihrem Schiffbruch durchschnitt. Hier vielleicht hatte Kapitän Grant, nachdem sein Schiff rhedelos und seine Bemannung zusammengeschmolzen war, gegen die fürchterlichen Stürme des Indischen Meeres zu kämpfen gehabt und sich dann durch eine unwiderstehliche Gewalt nach der Küste treiben lassen müssen, John Mangles zeigte dem jungen Mädchen die auf der Karte angegebenen Küstenströmungen, und erklärte ihr die stets gleiche Richtung derselben. Eine derselben durchschneidet geradezu in der Richtung von Westen nach Osten den Indischen Ocean, treibt nach dem australischen Festland, und man fühlt ihre Wirkung ebenso im Stillen wie im Atlantischen Ocean. Und so hatte auch die Britannia, nachdem ihr das Mastwerk zerbrochen und das Steuer geraubt war, also schutzlos gegenüber der anstürmenden Gewalt des Meeres und Himmels, auf die Küste treiben und dort zerschellen müssen.

Indessen hier stieß man auf ein Bedenken. Die letzten Nachrichten über den Kapitän Grant datirten der Handels- und Schiffer-Zeitung nach vom 30. Mai 1862 aus Callao. Wie konnte sich die Britannia am 7. Juni, acht Tage nachdem sie die Küste von Peru verlassen hatte, im Indischen Meere befinden? Paganel, über diesen Gegenstand zu Rathe gezogen, gab eine sehr einleuchtende Antwort, von der sich selbst die Bedenklichsten zufriedengestellt zeigten.

Eines Abends, es war am 12. December, und sechs Tage nach der Abreise von der Insel Amsterdam, saßen Lord und Lady Glenarvan, Robert und Mary Grant, der Kapitän John, Mac Nabbs und Paganel auf dem Hinterverdeck und plauderten. Wie gewöhnlich sprach man über die Britannia, denn sie war der einzige Gedanke an Bord. Nun aber, genauer gesagt, dieses obgedachte Bedenken war beiläufig entstanden und hatte zum unmittelbaren Erfolg, die Herzen bezüglich dieser Reise mit neuer Hoffnung zu erfüllen.

Paganel hatte bei jener von Glenarvan gemachten unerwarteten Bemerkung lebhaft den Kopf gehoben und war dann, ohne ein Wort zu antworten, fortgegangen, um das Document zu holen. Als er wieder kam, zuckte er nur die Achseln, wie ein Mensch, der sich schämt, nur einen Augenblick an einem »Elend der Art« Anstand genommen zu haben.

»Nun, mein lieber Freund,« sagte Glenarvan, »geben Sie uns wenigstens eine Antwort.«

»Nein,« antwortete Paganel, »ich werde nur eine Frage erheben und sie an den Kapitän John richten.«

»Reden Sie, Herr Paganel,« sagte darauf John Mangles.

»Nun denn, kann ein gutsegelndes Schiff in einem Monat den ganzen Theil des Stillen Oceans zwischen Amerika und Australien durchschneiden?«

»Ja, wenn es zweihundert Meilen in vierundzwanzig Stunden macht.«

»Ist das etwas Außergewöhnliches?«

»Durchaus nicht. Die englischen Segelschiffe bringen es oft zu einer noch größeren Schnelligkeit.«

»Nun wohl,« entgegnete Paganel, »statt im Document 7. Juni zu lesen, nehmen Sie an, das Meer habe eine Ziffer dieses Datums getilgt, und wenn Sie dann lesen 17. Juni oder 27. Juni, so erklärt sich Alles.«

»In der That,« meinte Lady Helena, »vom 31. Mai bis zum 27. Juni . . .«

»Konnte der Kapitän Grant den Stillen Ocean durchschneiden und sich im Indischen Meere befinden«, ergänzte Paganel.

Diese Folgerung Paganel's befriedigte lebhaft.

»Wieder ein Punkt aufgeklärt!« sagte Lord Glenarvan an.

»Dank unserm Freunde. Es bleibt uns also Nichts übrig, als nach Australien zu kommen, um an seiner Westküste nach den Spuren der Britannia zu suchen.«

»Oder an seiner Ostküste,« entgegnete John Mangles.

»In der That, Sie haben Recht, John. Nichts in dem Documente weist darauf hin, daß das Unglück vielmehr an der West- als an der Ostküste stattgefunden haben könne. Unsere Nachforschungen müssen sich deshalb auf die zwei Punkte richten, wo Australien vom siebenunddreißigsten Parallelkreis durchschnitten wird.«

»Also, Mylord,« sagte das junge Mädchen, »herrschen doch hier Zweifel.«

»O nein, Miß,« erwiderte John Mangles hastig, um diese Befürchtung des Mädchens zu zerstreuen. »Seine Herrlichkeit wolle in Betracht nehmen, daß, wenn Kapitän Grant an die Küste von Australien verschlagen worden wäre, er fast überall alsbald Hilfe und Beistand gefunden haben würde. Diese ganze Küste ist sozusagen englisch und von Kolonisten bewohnt. Die Bemannung der Britannia hätte nicht zehn Meilen zu machen brauchen, um Landsleute zu treffen.«

»Gewiß, Kapitän John,« entgegnete Paganel. »Ich ordne mich Ihrer Ansicht vollständig unter. An der Ostküste würde Grant in der Bai Twofold, oder in der Stadt Eden nicht nur ein Asyl in einer englischen Colonie gefunden, es würden ihm sogar die Transportmittel nicht gefehlt haben, um nach Europa zurückzukehren.«

»Also,« fragte Lady Helena, »haben diese Hilfsmittel die Schiffbrüchigen in dem Theile von Australien, nach dem uns jetzt der Duncan bringt, nicht finden können?«

»Nein, meine Dame,« antwortete Paganel, »die Küste ist da öde. Kein Verkehrsweg verbindet sie mit Melbourne oder Adelaide. Und wenn die Britannia an den Klippen, die sie umgeben, scheiterte, so hat derselben ebenso jede Hilfe gefehlt, als wenn sie an die unwirthlichen Gestade von Afrika verschlagen worden wäre.«

»Aber was ist dann,« fragte Mary Grant, »seit den zwei Jahren aus meinem Vater geworden?«

»Meine liebe Mary,« antwortete ihr Paganel, »nicht wahr, Sie halten daran fest, daß der Kapitän Grant nach seinem Schiffbruche in Australien gelandet ist?«

»Ja, Herr Paganel,« erwiderte das junge Mädchen.

»Also,« meinte Paganel, »wenn er einmal auf diesem Continente war, was ist dann aus Kapitän Grant geworden? Da sind der Möglichkeiten nicht viele. Eigentlich beschränken sie sich auf drei. Entweder hat Harry Grant mit seinen Genossen die englischen Colonien erreicht, oder sie sind den Eingeborenen in die Hände gefallen, oder sie haben sich in den unermeßlichen Einöden Australiens verloren.«

Paganel schwieg jetzt, und suchte in den Augen seiner Zuhörer nach einer Billigung seiner Annahmen.

»Fahren Sie fort,« Paganel, sagte Lord Glenarvan.

»Gut, ich fahre fort,« erwiderte Paganel, »und zunächst verwerfe ich die erste Hypothese. Harry Grant hat zu den englischen Colonien nicht kommen können, denn alsdann wären wir über seine Rettung nicht im Zweifel, er würde in diesem Falle bereits lange bei seinen Kindern sein in der guten Stadt Dundee.

»Aermster Vater!« murmelte Mary Grant, »seit zwei Jahren von uns fort!«

»Laß Herrn Paganel weiter reden, liebe Schwester,« sagte Robert, »er wird uns doch noch Aufschluß geben.«

»Ach nein, mein Junge! Alles, was ich versichern kann, ist das, daß der Kapitän Grant entweder Gefangener der Australier ist, oder . . .«

»Aber diese Eingeborenen,« fragte Lady Glenarvan lebhaft, »sind wohl . . .?«

»Nein, beruhigen Sie sich, meine Dame,« fuhr der Gelehrte, der die Gedanken von Lady Helena zu verstehen glaubte, fort, »diese Eingeborenen sind zwar Wilde und sind dumm und ohne höhere Bildung, aber sie haben doch keine so rohen Sitten und sind nicht blutgierig, wie die Bewohner von Neu-Seeland. Gesetzt, sie hätten die Schiffbrüchigen der Britannia gefangen genommen, so ist, seien Sie dessen versichert, deren Existenz keinen Augenblick bedroht gewesen. Denn alle Reisenden stimmen in dem Punkte miteinander überein, daß die Australier sich geradezu scheuen Blut zu vergießen, und oftmals schon haben jene in ihnen treue Verbündete gefunden, um den Angriff von ganz anders grausamen Räuberbanden zurückzuweisen.«

»So hören Sie jetzt, was Herr Paganel sagt,« bemerkte Lady Helena, indem sie sich zu Mary Grant hinwandte. »Ist Ihr Vater, worauf übrigens das Document fast schließen laßt, den Eingeborenen in die Hände gefallen, so werden wir ihn wiederfinden.«

»Und wenn er sich in diesem unermeßlichen Lande verloren hat?« erwiderte das junge Mädchen, und ihre Blicke richteten sich fragend auf Paganel.

»Ei nun,« rief der Geograph in vertrauensvollem Tone, »so werden wir ihn auch noch zu finden wissen. Habe ich nicht recht, meine Herren?«

»Gewiß,« meinte Glenarvan, welcher der Unterhaltung gern eine etwas weniger traurige Wendung geben wollte. »Ich kann es mir nicht denken, daß man sich so leicht verlieren soll.«

»Ich kann es noch weniger,« entgegnete Paganel.

»Ist denn Australien groß?« fragte Robert.

»Ja, mein Junge, Australien zählt so seine siebenhundertfünfundsiebenzig Millionen Hectaren und ist ungefähr vier Fünftel so groß wie Europa.«

»So groß doch!« sagte der Major.

»Ja, Mac Nabbs, und zwar fast bis auf ein Yard genau. Glauben Sie übrigens, daß ein anderes, gleich großes Land sich die Bezeichnung eines Continents beilegen dürfte, die sich im Documente findet?«

»O gewiß, Paganel.«

»Ich möchte hinzufügen,« bemerkte der Gelehrte, »daß man überhaupt nur wenig Reisende aufführt, die sich in dem großen weiten Lande verloren haben sollen. Ja ich glaube selbst, daß ich über Leichardt, den Einzigen, über dessen Verbleib man im Unklaren gewesen, in der Geographischen Gesellschaft einige Zeit vor meiner Abreise erfahren habe, daß Mac Intyre glauben dürfe seine Spuren wiedergefunden zu haben.«

»Ist denn Australien noch nicht in allen seinen Theilen bereist worden?« fragte Lady Glenarvan.

»Leider nicht, meine verehrte Dame,« antwortete ihr Paganel. »In Wirklichkeit ist dieser Continent nicht viel bekannter, als das Innere von Afrika, doch liegt die Schuld keineswegs daran, daß es an Männern gefehlt hätte, die Reisen dahin zu unternehmen. Von 1606 bis 1862 haben mehr als fünfzig Männer sich sowohl um die Erforschung des Innern wie der Küsten von Australien verdient gemacht.«

»Oho, fünfzig!« äußerte der Major in zweifelndem Tone.

»Jawohl, Mac Nabbs, sicher so viele. Ich verstehe darunter sowohl Seefahrer, welche die Gefahren einer Schifffahrt in unbekannte Gewässer nicht gescheut haben, um die australischen Küsten zu befahren, als auch Reisende, welche sich mitten in den großen weiten Continent begeben haben.«

»Dessenungeachtet fünfzig,« entgegnete der Major, »das will viel heißen.«

»Ja, ich möchte noch weiter gehen, Mac Nabbs,« erwiderte der Geograph, der stets durch Widerspruch etwas gereizt wurde.

»Gehen Sie nur noch weiter, Paganel.«

»Nun, wenn Sie mir nicht glauben wollen, werde ich Ihnen diese fünfzig Namen ohne Zaudern herzählen.«

»Oho!« beschwichtigte der Major, »da sieht man einmal wieder die Gelehrten, sie schrecken vor Nichts zurück.«

»Herr Major,« sagte Paganel, »wollen Sie Ihren Carabiner von Purdey Moore und Dickson gegen mein Fernglas von Secretan wetten?«

»Warum nicht, Paganel, wenn es Ihnen Vergnügen macht?« erwiderte Mac Nabbs.

»Schön, Herr Major,« sagte der Gelehrte, »hier also Ihren Carabiner, mit dem Sie nun keine Gemsen und Füchse mehr schießen werden, außer wenn ich Ihnen denselben leihe, was ich allezeit mit dem größten Vergnügen thun werde.«

Hierauf erwiderte der Major in ernstem Tone:

»Paganel, wenn Sie meines Fernglases benöthigen sollten, so wird es Ihnen jederzeit zur Verfügung stehen.«

»So kann man also anfangen,« bemerkte Paganel. »Sie, meine Damen und Herren, bilden unsern Gerichtshof, und Du Robert, Du merkst Dir jedesmal die Zahl.«

Lord und Lady Glenarvan, Mary und Robert, der Major und John Mangles, die sämmtlich an der Unterhaltung Vergnügen fanden, schickten sich an, dem Geographen zuzuhören. Es handelte sich zudem um Australien, also das Land, zu dem sie der Duncan jetzt hinfuhr; etwas von seiner Geschichte zu hören, konnte also nur willkommen erscheinen.

Und deshalb wurde Paganel aufgefordert, unverzüglich an sein Gedächtnißkunststück zu gehen.

»Mnemosyne,« begann derselbe dann, »Göttin der Gedächtnißkunst, Mutter der keuschen Musen, begeistere Deinen treuen Anbeter. Nun denn, meine lieben Freunde, vor zweihundertachtundfünfzig Jahren kannte man Australien noch gar nicht. Man hatte höchstens eine Vermuthung von einem großen Continente im Süden. Denn zwei auf der Bibliothek Ihres Britischen Museums, mein lieber Glenarvan, aufbewahrte Karten aus dem Jahre 1550 führten ein Land im Süden von Asien auf, das sie portugiesisch Groß-Java nannten. Indessen diese Karten waren nicht authentisch genug. Wir kommen also dann zum siebenzehnten Jahrhundert und zwar war es das Jahr 1606, in welchem ein spanischer Schifffahrer, Namens Quiros, ein Land entdeckte, welches er Australia de Espiritu Santo nannte. Manche Schriftsteller behaupten, es handle sich dabei um die Gruppe der Neu-Hebriden, und nicht um Australien. Ich will diese Frage hier nicht erörtern. Merke diesen Quiros, Robert, und gehen wir dann zu einem anderen über.«

»Also einen,« sagte Robert.

»Im selben Jahre,« fuhr der Gelehrte fort, »unternahm Luiz Vaz de Torres, der Unterbefehlshaber der Flotte Quiros', mehr nach dem Süden hin, die Erforschung neuen Landes. Aber erst dem Holländer Theodorich Hertoge kommt die Ehre der großen Entdeckung zu. Dieser landete unter dem fünfundzwanzigsten Breitengrade an der Westküste von Australien und gab ihr den Namen, den sein Schiff trug, nämlich »Eendracht«. Von jetzt an kamen die Seefahrten mehr in Aufnahme. Im Jahre 1618 entdeckte Zeachen an der Nordküste Arnheim- und Vandiemens-Land. Im Jahre 1619 fuhr Jan Edels an einem Theile der Westküste hin und gab ihr seinen eigenen Namen. Drei Jahre später kam Leuwin bis zu dem ebenfalls nach ihm benannten Cap herunter, und 1627 vervollständigten de Nuitz und de Witt, der eine im Westen, der andere im Süden, die Entdeckungen ihrer Vorgänger, und ihnen folgte dann der Commandant Carpenter, der mit seinen Schiffen in den großen Landeseinschnitt einfuhr, der noch heute nach ihm der Golf von Carpentaria heißt. Endlich – es war im Jahre 1642 – fuhr der berühmte Seefahrer Tasman um die Vandiemens-Insel herum, von der er geglaubt hatte, sie hänge mit dem Festlande zusammen, und gab ihr den Namen des General-Gouverneurs von Batavia – einen Namen, den die gerechtere Nachwelt mit dem Tasmaniens vertauscht hat. Nunmehr war man einmal um den australischen Continent herum, man wußte es, daß der Indische und der Stille Ocean ihn rings umgaben, und im Jahre 1665 legte man dieser großen Insel im Süden den Namen Neu-Holland bei, einen Namen, der nicht lange daran haften sollte, denn gerade zu dieser Zeit hörten die holländischen Seefahrer auf eine Rolle zu spielen. Bis zu welcher Zahl sind wir jetzt?«

»Bis zu zehn,« antwortete Robert.

»Gut,« fuhr Paganel fort, »so mache ich jetzt ein Kreuz und gehe zu den Engländern über. Im Jahre 1686 kam ein Seeräuberhauptmann, ein richtiger Küstenbruder, einer der berühmten Flibustier der Südsee, mit Namen William Dampier nach vielen Abenteuern an die Nordwestküste von Neu-Holland bei 16°50' südlicher Breite. Er verkehrte mit den Eingeborenen und gab dann von ihren Sitten, ihrer Armuth und ihrer Bildungsfähigkeit eine ziemlich vollständige Beschreibung. Im Jahre 1669 erschien er wieder, und zwar in derselben Bai, in welche Hertoge bereits eingefahren war, aber nicht mehr als Flibustier, sondern als Kommandant des Roebuck, eines Schiffes der königlichen Marine. Bis jetzt bot jedoch die Entdeckung Neu-Hollands nur ein rein geographisches Interesse. Man dachte nicht, das Land zu colonisiren, und während dreiviertel Jahrhundert, von 1699 bis 1770, fiel es keinem Schifffahrer ein, dort anzulegen. Dann aber erschien der berühmteste Seefahrer der ganzen Welt, der Kapitän Cook, und der neue Continent ward bald das Ziel europäischer Auswanderer. James Cook kam auf seinen drei berühmten Reisen nach Neu-Holland, und zwar am 31. März 1770 zum ersten Male. Damals, als er auf Otahiti glücklich den »Durchgang der Venus«Dieser Vorübergang des Planeten Venus an der Sonnenscheibe muß im Jahre 1769 stattgefunden haben. Das Phänomen trifft sehr selten ein und bietet ein großes astronomisches Interesse dar; denn es gestattet in der That die Entfernung der Erde von der Sonne auf das Genaueste zu berechnen. beobachtet hatte, fuhr er mit seinem kleinen Schiff Endeavour in den westlichen Theil des Stillen Oceans. Nachdem er Neu-Seeland entdeckt, gelangte er in eine Bai der Westküste von Australien und fand in derselben einen solchen Reichthum von neuen Pflanzen vor, daß er ihr den Namen Botany-Bai gab, welchen dieselbe noch heute führt. Seine halbwilden Eingeborenen boten wenig Interesse. Als er nach Norden weiter gefahren war, lief der Endeavour unter'm sechzehnten Breitengrad, in der Nähe des Caps Tribulation, acht Meilen von der Küste auf eine Korallenbank und gerieth in große Gefahr unterzusinken.

Deshalb wurden die Lebensmittel und Geschütze über Bord geworfen, doch in der nächsten Nacht machte die Fluth das erleichterte Fahrzeug wieder flott; daß es nicht untersank, kam daher, weil ein Korallenstück in die Oeffnung eingedrungen war und das Einströmen des Wassers genügend hemmte. Cook konnte also sein Schiff in eine kleine Bucht bringen, in die sich ein Fluß ergoß, den man sofort Endeavour nannte. Hier versuchten es die Engländer während der Reparatur, die drei Monate in Anspruch nahm, in einen nützlichen Verkehr mit den Eingeborenen zu treten; doch hatten sie wenig Glück darin und gingen dann wieder unter Segel. Der Endeavour setzte seine Reise nach dem Norden fort. Es kam Cook darauf an zu erfahren, ob zwischen Neu-Guinea und Neu-Holland eine Meerenge existire. Nach neuen Gefahren, nachdem er zum zwanzigsten Male sein Schiff geopfert hatte, bemerkte er, daß das Meer sich ganz weit im Südwesten öffnete. Man konnte also durchfahren; das war günstig! Cook landete auf einer kleinen Insel und nahm dann im Namen Englands Besitz von der lang ausgestreckten Küste, die er entdeckt hatte und der er den echt englischen Namen Neu-Süd-Wales gab. Drei Jahre später, als der kühne Seefahrer die Aventure und Resolution befehligte, untersuchte der Kapitän Fourneaux auf der Aventure die Küste von Vandiemens-Land und sprach die Vermuthung aus, daß dasselbe ein Theil von Neu-Holland sei. – Das bestätigte sich indessen nicht, als Cook im Jahre 1777 zur Zeit seiner dritten Reise in der Bai von Vandiemens-Land anlegte. Von da segelte er weiter und starb einige Monate später auf den Sandwichs-Inseln.«

»Es war ein großer Mann,« sagte Glenarvan.

»Jedenfalls der berühmteste Seefahrer, der jemals gelebt. Sein Genosse Banks brachte dann die englische Regierung auf den Gedanken, in der Botany-Bai eine Straf- und Besserungs-Colonie zu gründen. In seinem letzten der in Botany-Bai unter'm Datum des 7. Februar 1787 geschriebenen Briefe spricht der unglückliche Seemann seine Absicht aus, den Busen von Carpentaria und die ganze Küste von Neu-Holland bis zu Vandiemens-Land zu besuchen. Er reiste ab, um nicht wieder zu kommen. Im Jahre darauf gründete der Kapitän Philipp zu Port-Jackson die erste englische Colonie. Im Jahre 1791 nahm Vancouver in bedeutendem Umfang die Südküsten des neuen Continentes auf. 1792 schiffte d'Entrecasteaux auf seiner Expedition, die zum Zweck der Auffindung des La-Pérouse gemacht wurde, in der Richtung nach Westen und Süden um Neu-Holland herum und entdeckte auf seiner Fahrt bis dahin noch nicht bekannte Inseln. Im Jahre 1795 und 1796 setzten zwei junge muthige Leute, Flinders und Baß, in einer acht Fuß langen Barke die Erforschung der Südküsten fort, und ebenfalls im Jahre 1797 fuhr Baß zwischen Vandiemens-Land und Neu-Holland durch die Meerenge, die seinen Namen trägt. In demselben Jahre kam Vlaming, der Entdecker der Insel Amsterdam, an der Ostküste zu dem Schwanenfluß, in dem sich die wunderschönsten schwarzen Schwäne ergötzten. Flinders nahm im Jahre 1801 seine interessante Entdeckungsreise wieder auf, und begegnete unter 138°58' östlicher Länge und 35°40' südlicher Breite in der Encounter-Bai dem »Geographen« und dem »Naturforscher«, zwei französischen Schiffen, welche unter dem Kommando der Kapitäne Baudin und Hamelin standen.«

»Aha, der Kapitän Baudin?« rief der Major aus.

»Ja, weshalb sind Sie so verwundert?« fragte darauf Paganel.

»O, es ist Nichts, fahren Sie nur fort, mein lieber Paganel,« sagte der Major.

»So fahre ich denn fort, und füge den genannten Schifffahrern noch den Namen des Kapitän King zu, der in den Jahren 1817 bis 1822 die Erforschung der zwischen den Wendekreisen gelegenen Küsten von Neu-Holland vollendete.«

»Das wären bis jetzt also vierundzwanzig Namen,« sagte Robert.

»Gut,« meinte Paganel, »so habe ich Ihr Gewehr schon halb, Herr Major. Und jetzt, da wir mit den Schifffahrern fertig sind, kommen wir zu den Reisenden.«

»Vortrefflich, Herr Paganel,« sagte Lady Helena, »das muß man Ihnen lassen, daß Sie ein erstaunliches Gedächtniß haben.«

»Das allerdings eine Seltenheit ist, zumal bei einem Menschen,« meinte Glenarvan, »der so . . .«

»So zerstreut ist,« sagte Paganel schnell. »Ich habe übrigens nur ein Gedächtniß für Zahlen und Thatsachen, nachher hört es aber auf.«

»Vierundzwanzig,« sagte Robert noch einmal.

»Nun ja, Nummer fünfundzwanzig war der Lieutenant Daws im Jahre 1789, ein Jahr also nach der Gründung der Colonie zu Port-Jackson. Man hatte bis dahin bereits den neuen Continent umschifft, aber was er einschloß, vermochte Niemand zu sagen. Eine lange Reihe von Parallelgebirgen an der Ostküste schien jedes Vordringen in das Innere von vornherein zu verbieten. Nach einem Marsch von neun Tagen mußte Lieutenant Daws auf demselben Wege zurückkehren und kam wieder nach Port-Jackson. Noch im Laufe desselben Jahres versuchte es auch der Kapitän Tench, diese hohe Kette zu durchbrechen; aber auch ihm wollte es nicht gelingen. Diese beiden Mißerfolge hielten drei Jahre hindurch die Reisenden ab, die schwierige Aufgabe wieder aufzunehmen. Im Jahre 1792 indessen versuchte es der Oberst Paterson, ein kühner Afrika-Reisender, wieder, doch scheiterte auch er. Erst im folgenden Jahre kam ein kühner Mann, der nur Quartiermeister bei der englischen Marine war, Hawkins, um zwanzig Meilen über die Linie hinaus, über welche seine Vorgänger nicht hatten dringen können. Aus den nächsten achtzehn Jahren kann ich nur zwei Namen anführen, und zwar den berühmten Seefahrer Bass und Bareiller, einen Ingenieur aus der Colonie. Aber beide waren nicht viel glücklicher, als ihre Vorgänger. Ich komme jetzt zu dem Jahre 1813, wo denn endlich ein Engpaß im Westen von Sydney entdeckt wurde. Im Jahre 1815 wagte sich der Gouverneur Macquarie durch denselben, und jenseits der Blauen Berge entstand die Stadt Bathurst. Hiernach kommen dann im Jahre 1819 Throsby, dann Oxley, welcher dreihundert Meilen in's Land hineinging, Howel und Hume, die gerade von der Twofold-Bai ausgingen, wo der siebenunddreißigste Parallelkreis schneidet, und der Kapitän Sturt, der in den Jahren 1829 und 1830 den Lauf des Darling und Murray entdeckte. Alle die Genannten bereicherten die Wissenschaft mit neuen Thatsachen und trugen zur Entwicklung der Colonien bei.«

»Bis jetzt haben wir sechsunddreißig,« sagte Robert.

»Richtig! Ich habe schon einen Vorsprung,« sagte Paganel. »Weiterhin führe ich dann die Reisenden Eyre und Leichardt auf, die in den Jahren 1840 und 1841 einen Theil des Landes besuchten; ferner aus dem Jahre 1845 Sturt; im westlichen Australien reisten im Jahre 1846 die Gebrüder Gregory und Helpmann; Kennedy nur ein Jahr später am Flusse Victoria, und im Jahre 1848 in Nordaustralien. Im Nordwesten des Continents waren im Jahre 1852 Gregory, 1854 Austin, von 1855 bis 1858 die Gebrüder Gregory; Babbage reiste vom Torrent- bis zum Eyre-See. Jetzt aber kommt der kühne Stuart, welcher im Buch der Geschichte Australiens als einer der berühmtesten Namen seine Reisen durch den Continent dreimal wiederholte. Seine erste Expedition in das Innere fand im Jahre 1860 statt. Vielleicht einmal später, wenn es Ihnen recht ist, will ich Ihnen erzählen, wie Australien vier Mal von Süd nach Nord durchforscht wurde. Heute beschränke ich mich darauf, diese lange Aufzählung von Namen zu beschließen, und so reihe ich denn an die Namen der bereits aufgeführten zahlreichen Pioniere der Wissenschaft noch die der Brüder Dempster, außerdem Clarckson und Harper, ferner Burke und Wills, Neilson, Walker, Landsborough, Mackinlay, Howit.«

»Schon sechsundfünfzig,« rief Robert.

»Also Sie sehen, Herr Major,« sagte Paganel, »ich gebe Ihnen volles Maß und habe gleichwohl weder Duperry, noch Bougainville genannt, auch Fitz-Roy, Wickam, Stokes . . .«

»Lassen Sie es genug sein,« sagte der Major, dem die Zahl schon allzugroß war.

»Auch habe ich noch Peron, Quoy,« fuhr Paganel fort, der durch das Wehren des Majors nur in neuen Eifer gerieth, »dann Bennett, Cunningham, Nutchell, Tiers . . .«

»Um Gotteswillen!« unterbrach ihn der Major.

»Ferner Dixon, Strelesky, Reid, Wilkes, Mitchell . . .«

»Halten Sie jetzt ein,« sagte Glenarvan mit herzlichem Lachen, »beugen Sie den armen Max Nabbs nicht zu sehr. Seien Sie edelmüthig, denn er erklärt sich ja besiegt.«

»Und wie steht es mit seinem Carabiner?« fragte der Geograph mit triumphierender Miene.

»Er gehört leider Ihnen, Paganel,« antwortete der Major, »Sie haben allerdings ein Gedächtniß, um sich ein ganzes Zeughaus damit gewinnen zu können.«

»Es ist allerdings nicht denkbar, daß Jemand Australien besser kennen kann,« sagte Lady Helena; »denn auch nicht der unbedeutendste Name, nicht die geringfügigste Tatsache,« fuhr sie fort . . . aber der Major unterbrach sie.

»Oho, auch nicht die geringfügigste Tatsache!« rief er kopfschüttelnd.

»Nun, was meinen Sie denn, Mac Nabbs?« fragte Paganel.

»O, ich meine nur, daß Ihnen vielleicht nicht Alles, was auf die Erforschung Australiens Bezug hat, bekannt ist.«

»Zum Beispiel also?« fragte Paganel mit überlegener, stolzer Miene.

»Ja, wenn ich Ihnen nun etwas angebe, was Sie nicht wissen, wollen Sie mir dann meinen Carabiner zurückgeben?« fragte Mac Nabbs.

»Den Augenblick, Herr Major.«

»Soll das ein Wort sein?«

»Jawohl!«

»Nun wohl, wissen Sie, Paganel, warum Australien nicht zu Frankreich gehört?«

»Ja, ich glaube wohl.«

»Oder doch wenigstens, wie es die Engländer begründen?«

»Nein, Herr Major,« sagte Paganel jetzt mit der Miene eines Geprellten.

»Nun ganz einfach, weil der Kapitän Baudin, der sonst durchaus nicht furchtsam war, sich so sehr vor dem Quaken australischer Frösche fürchtete, daß er die Anker schleunigst lichtete und auf Nimmerwiedersehen abzog.«

»Wie,« rief der Gelehrte aus, »sagt man wirklich so etwas in England? Es ist ja nur ein schlechter Spaß!«

»Es ist allerdings ein sehr schlechter Witz, gestehe ich ein,« antwortete der Major, »aber im Vereinigten Königreiche gilt es als eine historische Thatsache.«

»Das ist eine Beleidigung!« rief der in seinem Patriotismus gekränkte Geograph. »Wie kann man so etwas im Ernst wiedererzählen?«

»Ich bin allerdings mit Ihnen darin einverstanden, lieber Paganel,« sagte Glenarvan, während die ganze Gesellschaft in ein helles Lachen ausbrach. »Aber wußten Sie die Geschichte wirklich nicht?«

»Nein. Und ich erhebe dagegen Protest! Im Uebrigen nennen uns die Engländer ›Froschesser‹. Im Allgemeinen nun hat man keine Furcht vor dem, was man ißt.«

»Das sagt auch Niemand, Paganel«, erwiderte der Major mit lächelnder Miene.

Der berühmte Carabiner von Purdey Moore und Dickson verblieb unter diesen Umständen im Besitze des Majors Mac Nabbs.

 


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