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Worin Meister Antifer und seine Genossen einer Predigt des Reverend Tyrcomel beiwohnen, die ihnen ganz und gar nicht gefällt.
»Ja, geliebte Brüder, ja, geliebte Schwestern, der Besitz von Reichthümern führt nothwendig zum Mißbrauch derselben! Er ist der hauptsächlichste, um nicht zu sagen, der einzige Grund aller Nebel, die diese Erde belasten. Der Durst nach Gold muß die bedauerlichsten Seelenverirrungen zur Folge haben! Denkt Euch, in dem Herrn geliebte Zuhörer, eine Gesellschaft, in der es weder Reiche noch Arme gäbe. Wie viel Unglück und Sorge, Trauer und Kummer, wie viel Betrübniß, Enttäuschung, wie viel Jammer und Noth würde dem Geschlechte der Menschen erspart bleiben!«
Der zungenfertige Clergyman hatte sich zum Gipfel der Beredsamkeit emporgeschwungen, als er diesen Haufen von Synonymen, die noch immer kaum ausreichten, alles irdische Elend zu bezeichnen, so schnell aufstapelte. Er hätte noch manche andre auf diesem Redestrom loslassen können, den er von der Höhe der Kanzel über die Köpfe seiner Zuhörer niederrauschen ließ. So konnte man ihm fast dankbar sein, daß er sich eine weise Beschränkung auferlegte.
Es war am Abend des 25. Juni in der Tron Church, von der ein Theil zur Verbreiterung der High street abgebrochen worden war, wo der Reverend Tyrcomel, von der »Freien schottischen Kirche« vor einer durch seine schweren Perioden bedrückten Zuhörerschaft in diesem Tone predigte. Nach Anhörung desselben hätten seine Gläubigen sich eigentlich beeilen müssen, ihre Geldschränke auszuleeren und alle Werthsachen in den Golf des Forth zu werfen, der zwei Meilen von hier das Nordufer von Mid-Lothian benetzte, jene berühmte Grafschaft, deren Hauptstadt zu sein, Edinburg, das Athen des Nordens, sich brüstete.
Bereits eine Stunde lang predigte Reverend Tyrcomel zur großen Erbauung der frommen Heerde des Kirchspiels über dieses Thema. Er schien ebenso wenig müde zu werden, zu sprechen, wie die Kirchenbesucher, ihm zuzuhören. Warum sollte eine Predigt denn überhaupt ein Ende finden? Die jetzige endete, wenigstens in dieser Minute, wirklich noch nicht, sondern der Vortragende fuhr darin fort wie folgt:
»Geliebte Brüder und Schwestern, der Evangelist hat gesagt: Beati pauperes spiritu, ein tiefsinniger Ausspruch, dessen Bedeutung Uebelwollende oder Unkundige mehrfach zu verdrehen gesucht haben. Nein, es handelt sich dabei nicht um die, die »arm an Geist«, die eigentliche Schwachköpfe sind, sondern um die, die sich »arm im Geiste« machen und die elenden Reichthümer, die Quelle so vieler Nebel in der neuzeitlichen Gesellschaft im Herzen verachten. Das Evangelium empfiehlt uns auch, Glück und Vermögen gering zu schätzen, und wenn Ihr unglücklicher Weise mit Gütern dieser Welt überhäuft seid, wenn Ihr im Gelde erstickt, wenn das Gold Euch in breitem Strome zufließt, liebe Schwestern« ...
Hier folgte ein mächtiges Gleichniß, das unter die Umhänge der andächtigen Frauen in der Kirche einen kalten Schauer jagte.
»Wenn Diamanten und Edelsteine Euch am Halse, an den Armen und den Fingern sitzen wie ein krankhafter Ausschlag, wenn Ihr zu denen gehört, die man die Glücklichen der Erde zu nennen pflegt ..., ich, ich sage Euch, daß Ihr die Unglücklichen seid, und versichere Euch, daß Eure Krankheit mit den stärksten Mitteln, mit Eisen und Feuer bekämpft werden muß.«
Man empfand ein Zittern im Zuhörerkreise, als ob schon das Bistouri des Chirurgen in den vom Redner bloßgelegten Wunden wühlte.
Etwas Originelles in der Behandlung, die er den armen, vom Meteorismus des Reichthums gequälten Leuten als bevorstehend ausmalte, war es, daß er ihnen befahl, sich ihrer Schätze materiell zu entledigen – mit andern Worten, sie zu vernichten. Er sagte nicht etwa: »Vertheilt Euer Vermögen unter die Armen! Enteignet Euch Eurer Habe zum Besten derer, die nichts besitzen! Nein, was er predigte, war die thatsächliche Vernichtung dieses Goldes, dieser Diamanten, dieser Besitztitel, dieser commerciellen und industriellen Actien, das war ihr vollständiges Verschwinden, und hätte man alles ins Feuer oder ins Meer werfen sollen.
Um die Unversöhnlichkeit seiner Lehren zu begreifen, muß man wissen, welcher religiösen Secte dieser jähzornige Tyrcomel, Esquire, angehörte.
Das in etwa tausend Kirchspiele zerfallende Schottland hat zur Verwaltung und Ausübung des nationalen Cultus Kirchenversammlungen, Synoden und eine Art Obergericht. Außer dieser recht ansehnlichen Zahl giebt es, da im Vereinigten Königreiche alle Religionen Duldung erfahren, noch etwa fünfzehnhundert Gotteshäuser für Dissidenten, Katholiken, Baptisten, Episcopalen, Methodisten u. s. w. Von diesen fünfzehnhundert Kirchen dient über die Hälfte der »Freien Kirche von Schottland« – » Free Church of Scotland« – die sich vor zwanzig Jahren von der presbyterianischen Kirche Großbritanniens offen trennte, nur weil sie diese nicht genug von calvinistischem Geiste durchtränkt, sagen wir, nicht puritanisch genug fand.
Reverend Tyrcomel predigte im Namen der fanatischsten dieser Secten, die jedes Kompromiß mit allen Sitten und Gebräuchen verwerfen. Er hielt sich für einen Sendboten Gottes, der ihm einen seiner Donnerkeile anvertraut hatte, um die Reichen, oder wenigstens deren Reichthümer, zu zermalmen, und wie wir sahen, ließ er es an dem Versuche nicht fehlen.
Geistig war er eine Art Erleuchteter und gleich streng gegen sich selbst wie gegen andre. Körperlich erschien er als Fünfzigjähriger, groß, hager, mit abgezehrtem, glattem Gesicht, einer Flamme im Blicke, mit der Physiognomie eines Apostels und einer Stimme wie ein Dominicaner. Seine Umgebung erklärte ihn für vom Hauche des Höchsten inspiriert. Doch wenn sich die Beichtkinder des Eiferers nach seinen Predigten drängten und diesen andächtig lauschten, so verlautet doch nichts darüber, daß jener viele Proselyten gemacht hätte, und wenige oder wohl keiner hatte sich bisher entschlossen, durch Verzicht auf alle Güter dieser Erde seine Lehren in die Praxis zu übersetzen.
Reverend Tyrcomel verdoppelte noch seine Anstrengungen und häufte über den Köpfen der Zuhörer mit Elektricität geladene Wolken, aus denen die Blitze seiner Eloquenz niederzuckten.
Die Predigt ging im besten Flusse weiter: Tropen, Metaphern, Antonymien, Epiphoneme – alle durch eine blendende Einbildungskraft gesalzen – tummelten sich darauf mit unvergleichlicher Kühnheit. Doch wenn auch die Köpfe sich senkten, schienen die Taschen gar nicht geneigt, ihren Inhalt in die Gewässer des Forth zu ergießen.
Die das Schiff der Tron Church füllende Menge verlor keine Silbe dieses Besessenen, und wenn sie sich nicht beeilte, seinen Lehren Folge zu geben, so lag dies gewiß nicht daran, daß sie ihn nicht verstanden hätte. Hiervon sind jedoch fünf Zuhörer auszuschließen, die, der englischen Sprache nicht mächtig, nicht gewußt hätten, was der Clergyman sagte, wäre nicht ein Sechster im Stande gewesen, ihnen in gutem Französisch die schrecklichen Wahrheiten zu übersetzen, die in Form einer evangelischen Sturmfluth von der Höhe der Kanzel herabrauschten.
Es ist wohl kaum nöthig zu sagen, daß diese sechs Individuen der Meister Antifer und der Banquier Zambuco, der Notar Ben Omar und Saouk, der Frachtschiffer Gildas Tregomain und der junge Kapitän Juhel waren.
Auf dem Eiland der Ma-Yumbabai hatten wir sie am 28. Mai verlassen, in Edinburg finden wir sie am 25. Juni wieder.
Was in der Zwischenzeit geschehen, war kurz folgendes:
Nach Auffindung des zweiten Documentes blieb nichts andres übrig, als die Affeninsel schleunigst zu räumen und sich der Schaluppe zu bedienen, die, durch die Signale der congolesischen Mannschaft unterrichtet, dem Lager gegenüber ans Land gegangen sein mußte. Meister Antifer und seine Begleiter kehrten also längs des Ufers zurück, aber immer verfolgt von der Schimpansengesellschaft, die ihre feindliche Gesinnung durch Geheul, drohende Haltung und durch Steinwürfe zu erkennen gab.
Das Lager wurde trotzdem ohne Unfall erreicht. Zwei Worte Saouk's an Barroso unterrichteten diesen, daß der Plan gescheitert sei. Man konnte doch einen Schatz nicht Leuten entreißen, die ihn nicht mitbrachten.
Die im Hintergrunde eines kleinen Landeinschnitts vertäute Schaluppe konnte alle Schiffbrüchigen von der »Portalegre« aufnehmen, wenn's dabei auch etwas eng herging. Das hatte aber für eine Fahrt von sechs Meilen nicht viel zu bedeuten. Zwei Stunden später lag die Schaluppe an der Landzunge, worauf der Flecken Ma-Yumba sich ausdehnt. Ohne Unterschied der Nationalität fanden alle in einer französischen Factorei freundliche Aufnahme, und hier bemühte man sich, ihnen Transportmittel nach Loango zu verschaffen. Da sie sich einer nach der Hauptstadt ziehenden Gesellschaft von Europäern anschließen konnten, hatten sie unterwegs weder von Raubthieren noch von Eingebornen etwas zu fürchten. Doch welch verzehrendes Klima, welch unerträgliche Hitze! Bei der Ankunft erklärte der Frachtschiffer, trotz aller Gegenversicherungen Juhels, daß er zum Skelett heruntergekommen sei. Der brave Mann übertrieb natürlich ein wenig.
Durch ein glückliches Zusammentreffen von Umständen – was der Frachtschiffer gar nicht mehr gewöhnt war – brauchte sich die kleine Gesellschaft in Loango nicht lange aufzuhalten. Ein spanischer Dampfer auf der Fahrt von San Paolo de Laonda nach Marseille lief hier schon nach zwei Tagen ein, um einen leichten Maschinendefect auszubessern. Mit dem aus dem Schiffbruche glücklich geretteten Gelde wurden auf diesem Plätze belegt. Kurz, am 15. Juni verließen Meister Antifer und seine Gefährten Westafrika, wo sie neben zwei Diamanten ein neues Document gefunden und eine neue Täuschung erfahren hatten. Den Kapitän Barroso wollte Saouk später schadlos halten, wenn er die Hand erst auf die Millionen des Paschas gelegt hätte, und der Portugiese mußte sich wohl oder übel mit diesem Versprechen begnügen.
Juhel versuchte gar nicht, seinen Onkel von seinen Ideen abzubringen, obgleich er allen Grund hatte zu glauben, daß die ganze Sache auf eine ungeheure Mystification hinauslaufen werde. Die Ansicht des Frachtschiffers schlug indeß etwas um; die beiden in den Kästchen gefundenen Diamanten im Werthe von hunderttausend Francs gaben ihm doch zu denken.
»Da uns der Pascha, so sagte er für sich, diese beiden kostbaren Steine zum Geschenk gemacht hat, warum sollten sich die übrigen auf dem Eilande Nummer drei nicht vorfinden?«
Und wenn er sich in dieser Weise gegen Juhel, der dazu die Achseln zuckte, äußerte, so wiederholte er nur:
»Wir werden ja sehen – werden ja sehen!«
Das war auch die Meinung Pierre-Servan-Malos. Da der dritte Erbe, der Besitzer der Breite des dritten Eilandes, in Edinburg wohnte, so wollte er eben nach Edinburg gehen und wohl darauf achten, daß ihm weder Zambuco noch Ben Omar zuvorkamen, da ja auch sie die Länge fünfzehn Grad elf Secunden kannten, die jenem Herrn Tyrcomel, Esquire, überbracht werden sollte. Man wollte sich also nicht trennen und die Hauptstadt Schottland auf schnellstem Wege aufsuchen, wo genannter Tyrcomel den Besuch der ganzen Gesellschaft auf einmal bekommen sollte. Dieser Beschluß paßte Saouk freilich sehr wenig. Im Besitz des Geheimnisses, hätte er sich am liebsten allein an die im Document bezeichnte Persönlichkeit herangemacht, von dieser die Lage des neuen Eilands erfahren, sich dahin begeben und hätte er die Schätze Kamylk-Paschas selbst ausgegraben. Dazu hätte er aber auch allein abreisen müssen, ohne Verdacht zu erregen, und er fühlte doch, daß Juhel ihn beobachtete. Die Fahrt nach Marseille hätte übrigens doch gemeinschaftlich erfolgen müssen. Da Meister Antifer nun Edinburg auf schnellstem Wege und in kürzester Zeit zu erreichen suchen wollte, indem er die Schienenwege Frankreichs und Englands benützte, konnte Saouk schwerlich darauf rechnen, ihm zuvorzukommen. War die Sache mit dem Herrn Tyrcomel einmal ins reine gebracht, so gelang der Streich, der in Mascat und Loango mißglückte, dafür vielleicht in Edinburg.
Die Ueberfahrt ging rasch von Statten, da der portugiesische Dampfer keinen Hafen anlief. Natürlich wurde Ben Omar – ein Mann, der seinen Gewohnheiten nicht so leicht entsagte – wieder auf's schlimmste seekrank und in Marseille im Zustand eines bewußtlosen Gepäckstückes ans Land befördert.
Juhel hatte einen langen Brief an Enogate geschrieben, worin er sie über alle Vorkommnisse in Loango unterrichtete. Er sagte ihr, zu welch' neuem Zuge die Starrsinnigkeit ihres Oheims sie verführe, und wer wisse, ob die Schrullen des Paschas sie nicht überhaupt nur an der Nase herumführten. Dann fügte er hinzu, Meister Antifer sei seiner Meinung nach in einem Gemüthszustande, in dem er gleich dem ewigen Juden die ganze Welt durchirren könnte, und das werde nicht eher ein Ende finden, als bis er als Geisteskranker gefesselt werden müßte – das werde aber nicht ausbleiben, so sehr habe seine Erregtheit durch die letzte Enttäuschung zugenommen ...
Alles das war ja recht traurig. Ihre Hochzeit war damit auch auf's unbestimmte verschoben ... und ihr Glück ... ihre Liebe ...
Juhel fand gerade noch Zeit, diesen traurigen Brief der Post zu überliefern. Dann sprang man in den Schnellzug von Marseille nach Paris, von hier in den Blitzzug von Paris nach Calais, ins Schiff zur Ueberfahrt nach England, dann in den Eilzug von Dover nach London und hierauf in den Fliegenden Schottländer nach Edinburg – alle Sechs, als wären sie an eine Kette gebunden gewesen. So hatten sie sich am Abend des 25. Juni, gleich nachdem ihre Zimmer in Gibb's Royal Hotel belegt waren, zur Aufsuchung des Herrn Tyrcomel aufgemacht. Großes Erstaunen! Der Herr Tyrcomel war nichts anderes als ein Clergyman, so kam es, daß sie, nachdem sie sich in seiner Wohnung, 17 North Bridge-street, eingefunden, – die Adresse des allbekannten Mannes hatten sie leicht erhalten – sich nach der Tron Church begeben hatten, wo jener eben von der Höhe der Kanzel herabdonnerte.
Sie beabsichtigten, ihn gleich nach der Predigt anzusprechen, ihn nach Hause zu begleiten und von ihrem Anliegen, von ihm die letzte Angabe zu erbitten, zu unterrichten. Was, ein Mann, dem man eine ansehnliche Zahl von Millionen darbringt, hatte sich ja nicht zu beklagen, wenn er auch einmal zu ungewöhnlicher Zeit gestört wurde.
Immerhin hatte die Sache ihre eigenthümlichen Seiten.
Welche Beziehungen mochten wohl zwischen Kamylk-Pascha und dem schottischen Clergyman bestanden haben? Der Vater des Meister Antifer hatte dem Aegypter das Leben gerettet ... gut. Der Banquier Zambuco hatte ihm geholfen, seine Schätze zu retten ... auch gut. Das erklärte ja seine Dankbarkeit gegen die Beiden – doch ob der Reverend Tyrcomel dieselben Ansprüche auf seine Erkenntlichkeit besaß? ... Ohne Zweifel. In welch unerklärlicher Weise hatte sich ein Geistlicher aber Kamylk-Pascha ebenso verpflichtet? Es mußte doch wohl der Fall sein, wenn dieser Clergyman der Inhaber der dritten Länge war, die man zur Auffindung des dritten Eilands brauchte ...
»Des guten Eilands ... dieses Mal!« sagte Meister Antifer immer wieder, so daß Gildas Tregomain seine Hoffnungen und ... vielleicht seine Illusionen zu theilen anfing.
Als unsre Schatzsucher auf der Kanzel aber einen Mann von höchstens fünfzig Jahren erblickten, mußten sie sich eine andre Erklärung zurechtlegen. Der Reverend Tyrcomel konnte in der That kaum fünfundzwanzig Jahre alt gewesen sein, als Kamylk-Pascha auf Befehl Mehemet Ali's in Kairo gefangen gesetzt wurde, und es schien doch schwerlich annehmbar, daß er diesem schon vor dieser Zeit irgend einen so wichtigen Dienst geleistet haben könnte. Sollte es ein Vater, ein Großvater, ein Onkel Tyrcomel's gewesen sein, gegen den der Aegypter Verpflichtungen hatte?
Doch darauf kam ja wenig an. Die Hauptsache blieb immer, daß der Clergyman im Besitz der kostbaren Breite war, wie das Document aus der Bai von Ma-Yumba angab, und der Tag sollte nicht vergehen, ehe darüber Klarheit gewonnen wäre.
Jetzt saßen sie also in der Tron-Curch, der Kanzel gegenüber. Meister Antifer, Zambuco und Saouk verschlangen den leidenschaftlichen Prediger fast mit den Blicken, obgleich sie von seiner Rede nicht ein Sterbenswörtchen verstanden, und Juhel wieder konnte bei dem, was er hörte, gar nicht seinen Ohren trauen.
Die Predigt ging weiter. Immer dasselbe Thema mit der gleichen wüthenden Beredtsamkeit. Sie empfahl den Königen, ihre Civilliste ins Meer zu werfen, den Königinnen, ihre Brillanten aus ihrem Schmucke in Rauch aufgehen zu lassen, den Reichen, ihre Schätze zu vernichten. Man wird zugestehen, daß es unmöglich war, größere Dummheiten mit noch unversöhnlicherem Proselytismus auszusprechen.
Ganz verblüfft murmelte Juhel:
»Da giebts ja noch eine neue Schwierigkeit! Mein Onkel hat wirklich kein besonderes Glück! Wie, an einen solchen Eiferer verweist uns Kamylk-Pascha? ... Diesem besessenen Clergyman sollen wir das Mittel, unsern Schatz zu heben, abverlangen? Einem Manne, der gewiß nichts eiligeres zu thun wüßte, als diesen sofort zu zerstören, wenn er ihm in die Hände fiele! ... Das ist freilich ein unerwartetes Hinderniß ... und auch ein unüberwindliches, das unserm ganzen Zuge ein Ende setzen dürfte. Hier werden wir jedenfalls nur eine unbedingte Weigerung erfahren, eine Weigerung, die dem Reverend Tyrcomel eine ungeheure Popularität sichert! Das giebt meinem Onkel den Rest, dem vermag sein Verstand nicht mehr zu widerstehen ... Zambuco und er, vielleicht auch Nazim, werden gewiß versuchen, dem Reverend sein Geheimniß zu entreißen. Sie sind im Stande, ihm die Tortur angedeihen zu lassen. Nun, wir werden ja sehen; ich für meinen Theil halte mich beiseite. Ja, ich möchte, der Mann behielte sein Geheimniß. Ich weiß nicht, wie er behauptet, daß Millionen auch kein Glück sichern, ich weiß aber, daß das Nachlaufen nach denen des Aegypters mein Glück auf jeden Fall verzögert. Da nun Tyrcomel niemals zustimmen wird, seine Breite mit der Länge zu kreuzen, die wir uns mit so viel Mühe beschafft haben, so werden wir ruhig nach Frankreich zurückkehren können und ...
»Wo Gott befiehlt, muß man gehorchen, sagte der Prediger in diesem Augenblicke.
– Das ist meine Ansicht auch, dachte Juhel, mein Onkel muß sich eben fügen.«
Die Predigt wollte kein Ende nehmen, und es ließ sich nicht absehen, ob sie nicht etwa in alle Ewigkeit dauerte. Meister Antifer und der Banquier Zambuco ließen unzweifelhafte Zeichen der Ungeduld wahrnehmen. Saouk kaute an seinem Schnurrbarte.
Der Notar bekümmerte sich, wenn er nur nicht auf dem Deck eines Schiffes war, um gar nichts. Mit offenem Munde und gespitzten Ohren dasitzend, bemühte sich Gildas Tregomain, dann und wann ein Wort aufzufangen und es sich zu übersetzen. Gelegentlich aber richteten alle den Blick auf den jungen Kapitän, als ob sie fragen wollten:
»Was kann dieser Teufel von Mann doch nur in seinem Eifer alles sagen?«
Und wenn man schon glaubte, daß es zu Ende sei, da quoll der Redestrom von neuem hervor.
»Was, zum Kuckuck, wovon spricht er denn nur, Juhel? rief Meister Antifer mit einer Stimme, die die ganze Aufmerksamkeit aller Anwesenden erregte.
– Das werde ich Ihnen nachher sagen, lieber Onkel.
– Wenn er etwas von den Neuigkeiten ahnte, die ich ihm bringe, so könnte er seine Kanzel nur bald verlassen, um meinen Besuch zu empfangen.
– He! He!« rief Juhel in so eigenthümlichem Tone, daß sich die Stirn des Meister Antifer in verderbendrohender Weise runzelte.
Doch in der Welt findet ja alles sein Ende, selbst die Predigt eines Clergyman der »Freien Kirche von Schottland«. Man empfand, wie der Reverend Tyrcomel zum Schlusse seines Wortschwalls gelangte. Er keuchte nur noch, seine Bewegungen wurden mehr ungeordnet, seine Metaphern kühner, seine Beschwörungen bedrohlicher. Es folgte noch ein letzter Keulenschlag auf die Inhaber von irdischen Gütern, die Besitzer des elenden Metalls, mit dem Befehl, sie in den Hochofen dieser Welt zu werfen, wenn sie selbst dem der andern Welt entgehen wollten. Und zuletzt machte er eine letzte oratorische Anstrengung, worin er auf den Namen der Kirche anspielte, die von seinen donnernden Perioden widerhallte:
»Und da an dieser Stelle früher eine öffentliche Wage stand, rief er, an die man die Ohren ungetreuer Advocaten und andrer Uebelthäter nagelte, so werdet Ihr auch auf der Wage des Jüngsten Gerichts ohne Gnade gewogen werden, und unter der Last Eures Goldes wird sich die Schale hinabsenken bis zur Hölle!«
Mit einem ergreifenderen Bilde konnte einer gar nicht schließen.
Der Reverend Tyrcomel machte zum Abschied eine Bewegung, die in einer katholischen Kirche als Segensspruch aufgefaßt worden wäre. Dann verschwand er plötzlich.
Meister Antifer, Zambuco und Saouk wollten ihn an der Kirchenthür erwarten, ihn im Fluge haschen, ihn gleich hic et nunc interviewen. Bis zum nächsten Morgen konnten sie gar nicht warten, konnten ihre Frage nicht um sieben bis acht Stunden aufschieben. Wie hätten sie denn diese Nacht vor Aufregung hinbringen sollen! Nein, sie stürmten also nach der Mittelpforte und rannten an die Gläubigen, die sich eine solche, noch nie dagewesene Rohheit verbaten.
Gildas Tregomain, Juhel und der Notar folgten ihnen, doch in anständiger Weise. Leider sollten sich alle vergeblich bemüht haben. Um sich jeder ihm zugedachten Ovation zu entziehen – übrigens der einzigen Folge, die seine Predigt haben sollte – hatte Reverend Tyrcomel die Kirche durch eine Seitenthür verlassen.
Vergeblich erwarteten ihn Pierre-Servan-Malo und seine Gefährten auf den Stufen des Säulenvorbaues, suchten nach ihm in der Menge der Andächtigen, fragten den Einen und den Andern ... der Clergyman hatte auf seinem Wege durch die Menge nicht mehr Spuren hinterlassen wie der Fisch im Wasser oder der Vogel in der Luft.
Da starrten sich alle wüthend an, so als habe ihnen ein Uebelthäter eine gewisse Beute entrissen.
»Nun also, nach 17. North-Bridge-street! rief Meister Antifer.
– Aber, lieber Onkel ...
– Und ehe er sich niederlegt, setzte der Banquier hinzu, entreißen wir ihm noch ...
– Aber, Herr Zambuco ...
– Keine Einrede, Juhel!
– Doch ... nur eine Bemerkung, lieber Onkel.
– Und die beträfe? fragte Meister Antifer, den schon der Zorn übermannte.
– Das, worüber jener Tyrcomel eben predigte ...
– Hat das etwas mit uns zu thun?
– Sehr viel, bester Onkel.
– Du treibst wohl Deinen Spott mit uns, Juhel?
– Nein, mir ist's völlig ernst, und für Sie ist es geradezu ein Unglück!
– Für mich?
– Ja. Hören Sie nur!«
Juhel schilderte nun in wenigen Worten die Anschauungen des Reverend Tyrcomel, welches Thema er in seinen endlosen Reden behandelt hätte, und wie seiner Ansicht nach alle Millionen in die Tiefe des Oceans versenkt werden sollten.
Der Banquier schien verstimmt – Saouk ebenfalls, obwohl er sich stellte, als ob er nichts verstände. Gildas Tregomain machte ein enttäuschtes Gesicht. Offenbar fiel allen aus großer Höhe ein Dachziegel auf den Kopf!
Meister Antifer antwortete seinem Neffen doch keineswegs so, als ob er betroffen wäre, sondern sagte ironisch:
»Schwachkopf! ... Schwachkopf! ... Schwachkopf! ... Solche Sachen predigt man doch nur, wenn man keinen Sou in der Tasche hat! Laß nur die dreißig Millionen vorfahren, die ihm zukommen sollen, und Du wirst sehen, daß Dein Tyrcomel sofort bereit sein wird, sie uns aus dem Wasser zu angeln!«
Diese Antwort zeigt unbedingt eine tiefe Kenntniß des menschlichen Herzens. Jedenfalls verzichtete man aber für heute Abend darauf, den Reverend in seiner Wohnung in der North-Bridge-street aufzusuchen, und unsere kleine Gesellschaft begab sich nach Gibb's Royal-Hotel zurück.