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Alt Heidelberg, du feine

Es gibt kein schöner Leben als Studentenleben,
Wie es Bacchus und Gambrinus schuf,«

hatte Hilde schon vor Jahren mit Bruder Max um die Wette in die Welt geschmettert. Jetzt aber, wo sie selbst als junge Studentin zur Universität zog, merkte sie herzlich wenig von dem freien, ungebundenen Leben der Alma mater.

Hilde war enttäuscht.

Als sie mit Daisy das erstemal herzklopfend den Vorgarten der Universität betrat, schienen Wilhelm und Alexander von Humboldt, die steinernen Bildwerke, spöttisch lächelnd auf sie herabzublicken, daß sie, das kleine dumme Mädel, es wagte, dreist in den Tempel der Wissenschaft einzudringen. Die vielen Treppen, die langen Korridore mit den hohen Türen, alles machte solchen würdigen, strengen Eindruck. Hildes fröhliches leichtlebiges Gemüt empfand den wuchtigen Ernst, der aus jedem Eckchen schaute, beklemmend. Aber als sie dann neben Daisy, der es ähnlich erging wie ihr selbst, unter den vielen bartlosen Jünglingen im Hörsaal saß, ließ sie die kecken braunen Augen neugierig umherschweifen. Hilde glaubte sich den gleichaltrigen Studenten gegenüber, welche die hübschen Mädchen verstohlen betrachteten, weit überlegen, sie fühlte sich um Jahre reifer, mitleidig lächelnd ließ sie die heimlich bewundernden Blicke der »Jungs« an sich abprallen. Es hörten noch mehrere Damen dasselbe Kolleg, und die Huldigungen der jungen Füchse gaben sich bald, als sie sahen, wie wenig empfänglich die Studentinnen dafür waren, wie ernst es ihnen mit ihrer Arbeit war.

Für Hilde mit ihrer flatterhaften Zerstreutheit war es freilich anfangs eine wahre Pein, den sachlich wissenschaftlichen Vorträgen, von denen sie im ersten Semester kaum die Hälfte begriff, angestrengt zu folgen. Daisy verstand es viel besser, ihre Gedanken zu konzentrieren, während Hilde sich von jeder Eigenheit des Vortragenden ablenken ließ. Zuerst hatte sie tüchtig mitgeschrieben, jedes Wort, Wichtiges und Unwichtiges bunt durcheinander, und wenn es zu schnell ging, dann hatte sie eben einfach ein paar Sätze ausgelassen. So drangen in der Hast und Eile des Mitschreibens die Worte nur als leerer Schall an Hildes Ohr, ihr Bewußtsein nahm sie nicht auf. Und zu Hause zeigte es sich, daß Daisy, die sich nur gelegentlich ein paar Notizen machte, den Gedankengang des Kollegs viel mehr im Kopf hatte als die zerfahrene Hilde. Sie folgte nun Daisys Beispiel, und später wurden die Vorträge dann gemeinsam ausgearbeitet.

Aber beim praktischen Arbeiten war Hilde der Freundin weit überlegen. Als Daisy zum ersten Male die Anatomie betrat, wurde sie ohnmächtig. Sie glaubte, niemals den Ekel und Abscheu überwinden zu können.

In Hildes Adern dagegen kreiste Doktorblut. Die schreckte vor nichts zurück, und ihr tapferes Vorbild ermutigte die zarter besaitete Daisy, den Kampf gegen ihre schwächeren Nerven immer wieder aufzunehmen.

Und noch eins veranlaßte Daisy, die Flinte nicht ins Korn zu werfen. Nicht die Furcht vor den empörten Verwandten, nicht der Spott der Bekannten und Freunde hielt sie davon ab, das medizinische Studium an den Nagel zu hängen. Nur der Triumph, der aus grauen Augen blitzen würde, war die Triebfeder, die sie alle Willenskraft anspannen und das zage, weichherzige Zurückbeben überwinden hieß. Hatte Günter Berndt es nicht gleich gesagt, sie sei nicht robust genug für das medizinische Studium? Nein, er sollte, er durfte nicht recht behalten.

Und sie blieb Siegerin. Langsam, ganz allmählich gewöhnte sie sich an die Schrecknisse des Seziersaals, ihr Blick wurde ruhiger, ihre Hand sicherer, das Grauen hatte sich verloren.

Die Zeit der jungen Studentinnen war vollauf in Anspruch genommen, Hilde wußte am Abend nicht, wo der Tag geblieben war. Sie mußten beide trotz ihrer entgegengesetzten Interessen in den Morgenstunden noch fleißig im Haushalt tätig sein, und die freie Zeit, die ihnen blieb, war durch Stundengeben ausgefüllt. Hilde wollte der Mutter die Last der Studienjahre etwas erleichtern und hatte Doktor Werner gebeten, ihr lateinische Schülerinnen zum Nachhilfeunterricht nachzuweisen. Er hatte sie vielfach empfohlen. Mit Ernst und Eifer kam Hilde den Anforderungen, die das neue Amt an sie stellte, nach, und ihre frische, lustige Art machte den Unterricht für die jungen Gymnasiastinnen fesselnd.

Auch Daisy gab Mathematikunterricht, die Studiengelder standen ihr zwar zu Gebote, aber sie setzte ihren Stolz darein, nun auch ihre Garderobe aus eigener Tasche zu bestreiten. Sobald als möglich beabsichtigte sie, Berlin den Rücken zu kehren.

In dem Klinikenviertel tauchte gar oft, wenn sie aus der Anatomie kam, unter den Vorübergehenden eine schlanke Männergestalt auf, ein länglich blasses Gesicht mit grauen Augen. Zuvorkommend grüßte Günter Berndt stets, blieb wohl auch mal mit einem spöttischen »na, Fräulein Kollega, das Seziermesser tapfer geschwungen?« stehen. »Fräulein Kollega« war sie ihm nur, er sah sie jetzt nur noch als Student in der Anatomie. Was sie einst aneinander gebunden hatte, das Zarte, Unausgesprochene, war zerrissen. Daisy hatte dann den ganzen Tag in sich ein Gefühl der Enttäuschung und solche Unlust zur Arbeit, daß sie den vergeblichen Kämpfen ein jähes Ende machen mußte. Flucht, nur Flucht aus der alten gewohnten Umgebung, vor den spöttischen grauen Augen konnte dieses immer neue Aufwühlen dessen, was vergessen sein mußte, zum Schweigen bringen. Das zweite Semester neigte sich seinem Ende zu. Goldener Sonnenglanz lockte verheißungsvoll in die Ferne – Daisy rüstete zum Studiumjahr in Heidelberg.

Die Tante war zwar wenig erbaut davon, denn Daisy war eine nicht zu unterschätzende Kraft im Haushalt, und Fränze mußte geschont werden. Trotz der knallroten Backen fand die Tante, daß das arme Ding die schwere Enttäuschung noch immer nicht verwunden hatte.

Umso entsetzter war Frau von Staven, als Fränze eines Tages seelenruhig vor sie hin trat und ihr die Mitteilung machte, daß sie nun von den vornehmen Verlobungen genug habe und sich in der letzten Violinstunde mit Herrn Lämmerhirt versprochen hätte, den sie schon immer lieb gehabt.

Das war ein harter Stoß für die vornehme Frau von Staven; der traf sie noch mehr als die Schmach mit Herrn von Hülsen.

Ein Geigenlehrer, der noch dazu den lächerlichen Namen »Lämmerhirt« trug, sollte ihr Schwiegersohn werden, nein – nie und nimmer gab sie dazu ihren Segen.

Diesmal aber legte sich Onkel Wilhelm mit ungeahnter Energie ins Mittel. Das Glück seines Kindes sollte durch Vorurteile nicht zum zweiten Male Schiffbruch leiden. An einem der nächsten Tage konnte man den stolzen Namen »Franziska von Staven« mit »Otto Lämmerhirt« zusammen fettgedruckt in den Zeitungen lesen.

Die Tante hatte sich ergeben müssen, aber es war jetzt nicht gut Kirschen essen mit ihr. Daisy machte, wo sie nur konnte, einen großen Bogen um ihre vornehme Gestalt.

Der schüchterne Geigenlehrer aber mußte doch wohl Fränze gegenüber den richtigen Ton anzuschlagen wissen. Es war erstaunlich, welchen wohltätigen Einfluß er auf ihr häßlich abstoßendes Wesen ausübte. Daisy stand jetzt bedeutend besser mit ihr, allerdings kam die alte Fränze noch oft genug wieder zum Vorschein.

Nur zu gern packte Daisy ihre Siebensachen für die heitere Neckarstadt. Der Aufenthalt im Haus der Verwandten war jetzt unerfreulicher als je, denn die Tante ließ allen Ärger über die nicht standesgemäße Verlobung an der unschuldigen Daisy aus. Eins jedoch hemmte die Flugkraft von Daisys leichtbeschwingten Gedanken, die ihr ungeduldig voraus in das neue Leben eilten – das war Hilde.

Mit stillen Augen sah Hilde den Vorbereitungen der Freundin zu. Zum ersten Male sollte sie sich von ihr trennen. Sie mußte sie allein nach dem schönen Heidelberg ziehen lassen, sie konnte und durfte der Mutter nicht noch größere Entbehrungen auferlegen. Neidlos half sie Daisy beim Überlegen und Einkaufen, Mißgunst lag ihrem reinen Charakter vollständig fern.

Daisy sollte es nicht einmal ahnen, wie schwer ihr die Trennung wurde.

Aber Daisy kannte ihre Hilde, sie ließ sich kein X für ein U machen. Oft zog sie auf dem Heimweg von der Universität den Arm Hildes fester an sich und meinte betrübt: » Darling, um deinetwillen möchte ich am liebsten all meine Reisepläne aufgeben.«

Durch das Lachen, mit dem Hilde der Freundin versicherte, daß sie froh sei, sie endlich einmal los zu werden, klangen verhaltene Tränen.

Die Mutter ahnte nichts von Hildes Kummer. Sie glaubte ihren Versicherungen, daß sie ein viel zu verhätscheltes Mutterkind wäre, um allein in die Welt hinauszufliegen und überhaupt nur den Wunsch zu hegen, anderswo zu studieren.

Nur draußen in dem anmutigen Vororthäuschen, zu dem sie jetzt durch ihre stete Beschäftigung immer seltener kam, ließ Hilde ihren Gefühlen freien Lauf. Den gütigen, verständnisvollen Augen der alten Dame entschleierte sie ihr Innerstes. Frau Werner sah, wie Hilde unter der bevorstehenden Trennung litt, und wie es sie gleich Daisy zu selbständigem Aufsichangewiesensein nach der schönen Musenstadt zog. Sie sprach mit ihrem Sohne, und dieser stimmte ihr bei, es konnte Hilde nur förderlich sein, wenn sie sich für einige Zeit von Mutters Schürzenband löste und als selbständiger Mensch sich daran gewöhnte, für ihr Tun und Lassen die eigene Verantwortung zu tragen. Und noch aus einem andern Grunde wünschte Gerhard Werner für Hilde einen längeren Aufenthalt in der Fremde. Er wollte ihre Gefühle für ihn prüfen, ob sie stark genug wären, Zeit und Entfernung zu überbrücken.

Neulich, als er die Universitätstreppen hinabgeschritten, da war eine leichte Mädchengestalt plötzlich spornstreichs hinter ihm her gejagt und hatte zum Gaudium der umstehenden Studenten glückselig und ganz ungeniert seine herabhängende Rechte ergriffen. Die freudige Überraschung, mit ihm das erstemal in der Universität zusammenzutreffen, hatte dieses auffallende Benehmen verursacht. Noch im Weitergehen hatte Doktor Werner gehört, wie Daisy der Freundin Vorwürfe machte wegen ihrer unbesonnenen Handlungsweise; ihm aber war seit Wochen nicht so froh zumute gewesen.

Und trotzdem riet er zu dem Heidelberger Aufenthalt, trotzdem wollte er sie missen.

So sah man eines Tages, während Hilde ahnungslos ein histologisches Kolleg hörte, Frau Werners schlanke vornehme Gestalt die Glocke zu der Dahlenschen Gartenwohnung ziehen, wo sie von Hildes Mutter aufs freudigste begrüßt wurde. Es gab ein langes eingehendes Gespräch zwischen den miteinander sympathisierenden Damen; mit fein empfundenem Takt berichtete Frau Werner von dem, was Hilde vor ihrer Mutter verborgen hielt, ohne dem Mutterherzen zu nahe zu treten.

Frau Doktor Dahlen sah still vor sich hin.

»Daß ich mein eigenes Kind so wenig verstanden habe, daß ich erst von andern hören muß, wie es um meine Hilde steht!« sagte sie leise. »Mein Schmerz hat mich wohl egoistisch gemacht, ich lebe zu sehr in der Vergangenheit, dadurch entschlüpft mir die Gegenwart. Aber es ist ja noch Zeit, wieder gutzumachen. Hilde soll unbedingt mit Daisy nach Heidelberg. Eine verständige Mutter sorgt dafür, daß für unvorhergesehene Fälle stets ein Spargroschen bereit liegt. Haben Sie Dank, liebste Frau Werner, daß Sie mich sehend gemacht haben. Mein Kind soll nicht versauern, das soll seine goldenen Jugendtage in vollen Zügen auskosten.«

Als Hilde gegen Mittag heimkehrte, sie hatte noch Koffer und Handtasche mit Daisy besorgt, fand sie die Mutter umgeben von Kleidungsstücken, die sie eifrig auf ihre Verwendbarkeit hin prüfte.

»Aber Muttchen, du bist ja schon bei meinen Sommersachen, und draußen ist eine Hundekälte,« wunderte sich Hilde.

Die Mutter besichtigte angelegentlich eine fadenscheinige Mullbluse.

»Sag' mal, Kind,« begann sie mit unmotiviert weicher Stimme, »würde es dich eine große Überwindung kosten, wenn ich dich bitten würde, Daisy nach Heidelberg zu begleiten?« Sie machte eine Pause.

Hilde riß die Augen auf.

»Aber Mama – Muttchen – wie kommst du denn nur darauf, ich bleibe doch selbstverständlich bei dir – es wird mir auch durchaus nicht schwer – durchaus nicht,« wiederholte sie noch einmal, aber vor dem beredten Blick der Mutter verstummte sie.

»Komm her, Hilde – so, setz' dich mal zu mir, Kind. Ich denke doch, die treuste Freundin eines jungen Mädchens ist seine Mutter – willst du nicht aufrichtig sein, Hilde? Sieh her, in dieser Schatulle ist mehr Geld, als du zu deinem Aufenthalt in Heidelberg brauchst. An dich nur habe ich gedacht, als ich es zusammensparte; nun mag es seinen Zweck erfüllen. In acht Tagen ist Semesterschluß, dann fährt Daisy. Das ist Zeit genug, um auch dich reisefertig zu machen. Nun, Hildchen, findest du denn gar kein Wort?«

Hilde stand wie angewurzelt.

Das Bild, das die Mutter ihr soeben eröffnet, war so schön, so märchenhaft schön, daß es aller Willenskraft bedurfte, um es von sich zu weisen.

Sie stand und kämpfte.

»Nein, Mutterchen,« brachte sie nach einer Weile mit zuckenden Lippen hervor, »ein solches Opfer nehme ich nicht von dir an. Ich lasse dich nicht allein, wo Richard beständig außerhalb ist, und auch Max nur Sonntags zu uns kommen kann.«

Die Mutter war auf diese Einwendung vorbereitet.

»Auch dafür ist gesorgt, Hilde. Frau Werner, die heute vormittag bei mir war, hat in ihrem Hause oben zwei Zimmer und eine Küche freistehen. Ich kann ihr keinen größeren Gefallen tun, als zu ihr überzusiedeln. In lieberer, anregenderer Gesellschaft kannst du mich nicht zurücklassen.«

Da waren Hildes kindliche Gefühle beruhigt, und sie gab sich nun mit der ganzen Ursprünglichkeit ihres Temperaments der ungebundensten Freude hin. –

Daisy war im siebenten Himmel, und zehn Tage später saßen die beiden jungen Studentinnen im Zuge, der sie rasselnd der alten Universitätsstadt zutrug.

War es denn wirklich so herrlich in der weiten Welt, oder lag das nur in den jungen, lachenden Augen, daß die vorüberfliegenden violettbraunen Erdschollen, das kalte Geäst der Birken und die in der Ferne blauenden Waldungen so zauberhaft schön erschienen?

Und dann gegen Abend lag das ersehnte Ziel, das heitere Heidelberg, in Sonnenglanz gebadet, vor ihren Blicken, warm umbuscht von dunklen Tannen und schlanken Fichten. Trutzig streckte der Otto-Heinrich-Bau seine massigen Mauern gegen den lichten Abendhimmel, in hügelige Wellenlinien schmiegte sich das ehrwürdige, sagenumflatterte Heidelberger Schloß.

Hilde empfand ein Gefühl frommer Andacht, als sie zum ersten Male den herrlichen Schloßhof des halbzerfallenen Bauwerks betrat. Und als sie drunten im Keller am großen Faß gestanden, das der Zwerg Perkeo getreulich bewacht, da fühlte auch sie in sich den ungestümen Jugenddrang, den frischen Studentenmut, den hier so viele vor ihr empfunden.

Die Wohnungsfrage erledigte sich zur Zufriedenheit. »Die Bude«, wie Hilde ihr neues Heim nach Vorbild der Musensöhne benannte, war tadellos und die freundliche behäbige Wirtin ein Juwel.

Nach acht Tagen waren sie vollständig eingerichtet, hatten die einschlägigen Kollegien belegt, herausgetüftelt, wo man am besten und dabei am billigsten speiste, und mit ihrem kleinen Spirituskocher, auf dem Kaffee und Abendbrot selbst hergerichtet wurde, bereits die erste Kommodendecke ihrer gutmütigen Wirtin verbrannt.

Gibt es etwas Schöneres, als im grünen Neckartal den Einzug des Lenzes zu beobachten? Mit blanken Augen und freiem Herzen wanderten Hilde und Daisy Abend für Abend zur Molkenkur hinauf und schauten von ihrem hohen Lieblingssitz in das schimmernde Meer von schneeigen Obstblüten herab, das die finstere Tannenpracht heiter ablöste. In hellgrünen Wogen schäumte der übermütige Neckar durch das fruchtbare Gelände, weit öffnete sich das liebliche Tal, und aus dem Städtchen klang durch den Frieden des Abends wehmütig und getragen die Weise:

»Alt Heidelberg, du feine,
Du Stadt an Ehren reich.« –

Ein lustiger Kreis weiblicher und männlicher Studenten bildete sich allmählich um die beiden. Da wurde fleißig Biologie, Bakteriologie, Histologie und Anatomie gepaukt. Aber auch auf dem Fechtboden verschmähte Hilde nicht mitzupauken. Sie galt bald als eine geachtete Fechterin, während Daisy diesem Sport ganz und gar keine Freude abgewinnen konnte. Für sie gab es nur Tennis. Darin glänzte sie, manchen Preis trug sie beim Turnier davon. Nach getaner Arbeit wanderte das fidele Studentenvölkchen allabendlich neckarwärts. Dort wurde geschwommen, gerudert oder auch nur gelagert und bei niedergehender Sonne lustige Studentenlieder in den Maiabend geschmettert.

Hilde schrieb begeisterte Briefe an die Mutter daheim, die wurden dann abends in der kleinen Geißblattlaube, in der man nach dem Abendessen zusammenkam, Frau Werner und ihrem sich merkwürdigerweise stets dazu einfindenden Sohne vorgelesen. Ordentlich jung fühlten sich die beiden älteren Damen, wenn sie diese frischen, ungekünstelten Berichte lasen, aus denen Arbeitsfreude, überschäumender Frohsinn und Lebenstüchtigkeit sprachen. Auch Doktor Werners Erinnerungen an fröhliche Studententage erwachten durch Hildes Schilderungen, und die Sehnsucht nach jenem lieblichen Fleckchen Erde, an dem er frohe Tage verlebt, wurde laut.

Galt sein Sehnen wirklich nur dem sonnigen Landstrich und dem fröhlichen Neckarvölkchen, von dem Hilde schrieb, oder war es nicht viel mehr die anmutige Schreiberin selber, die seine Gedanken so oft in blaue Fernen schweifen ließ?

Einmal hatte sie an ihn geschrieben, einen lieben, warmempfundenen Brief. Das war damals, als ihre Mutter ihr mitgeteilt, daß Gerhard Werner einen Professorenstuhl an der Berliner Universität erlangt habe, und daß man große Hoffnungen auf ihn setze; da hatte sie dem neugebackenen Herrn Professor voller Freude Glück gewünscht. –

»Weißt du, Daisy, eigentlich können wir stolz darauf sein, daß wir solch berühmten Mathematiklehrer gehabt haben,« meinte Hilde. Es war ein Jubeln und Singen in ihr, galt das dem fremden Manne?

Daisy blieb kühl.

»Ja, Werner ist sicher ein tüchtiger Mensch,« sagte sie so nebenbei, das Scheffeldenkmal betrachtend.

Die impulsive Hilde hätte sie für ihre tranige Gleichgültigkeit prügeln können.

»Tüchtiger Mensch,« echote sie, »die gibt's viele, aber Doktor Werner ist mehr, er ist bedeutend.«

»Seit wann bist du denn so von ihm eingenommen?« staunte Daisy. »Solange du bei ihm Unterricht gehabt hast, hattest du doch, soviel ich weiß, recht wenig für ihn übrig.«

»Deshalb lasse ich ihm doch Gerechtigkeit widerfahren,« sagte Hilde schnell und wandte sich verlegen den mit hellgrünem Maiwuchs grüßenden Tannen zu.

Sonderbar – so innig und vertraut die beiden Freundinnen miteinander waren, ihre geheimsten Gedanken, das innerste Fühlen, das sie durchzitterte, verbargen sie scheu voreinander, keine kannte das Herzensgeheimnis der andern. –

Es war Sommer geworden, die überfüllten Züge brachten täglich neue Fremde auf der Durchreise in das traute Städtchen, manch bekanntes Gesicht hatten die jungen Studentinnen schon erblickt.

Heute stiegen sie gegen Abend zu den waldumkränzten Höhen empor, mit klangvoller Stimme schmetterte Daisy »Studio auf einer Reis'« in den Bergwald hinein.

»Jum heidi – heidi – heida –
Schnaps ist gut für die Cholera,«

fiel Hildes weniger melodische als frische Stimme lachend ein.

Da – ein Echo – noch einmal – jetzt kam es näher – eine dunkle Männerstimme – Daisy fuhr zusammen. Etwas seltsam Bekanntes in der schönen Stimme machte ihren Atem stocken.

Ein heller Hut flatterte grüßend aus den Haselnußstauden unter ihnen in die Luft, und vertraute Laute schlugen an das Ohr der erstaunt aufblickenden Mädchen: »Aber laufen Sie doch nicht so, Hilde – warten Sie doch, Fräulein Kollega, ein armer Reisender bittet um ein Almosen,« da tauchte das erhitzte Gesicht Günter Bernds aus der grünen Blattumrahmung auf, lachend schwang er sich zu dem erhöhten Standpunkt der Freundinnen.

Bis in die Lippen erbleichte Daisy. Ihre Knie zitterten. Hilde aber rief lustig: »Nun schlag einer aber lang hin und steh kurz wieder auf – Günter Berndt, wie kommen denn Sie hier plötzlich aus der Versenkung?«

»Ich ziehe als fahrender Sänger des Wegs,« ging Günter Berndt heiter auf ihren Ton ein, »und da ich Heidelberg auf meiner Tour nach dem Vierwaldstätter See berühre, mußte ich der Frau Mama versprechen, mich nach ihrem ausgesetzten Küken umzusehen. Ihre prächtige Wirtin dort unten hat mich gleich des richtigen Weges gewiesen. Miß Greehams Stimme diente mir als Wegweiser.«

Zum ersten Male nach der Begrüßung wandte er sich an Daisy.

Diese hatte inzwischen ihre Fassung mühsam wieder errungen.

Günter Berndt war in rosiger Reisestimmung. Er schien die Entfremdung, die zwischen ihm und Daisy in Berlin geschwebt hatte, vergessen zu haben, und Daisy war klug genug, auf seinen harmlosen Ton einzugehen. Wie jüngere Kolleginnen behandelte er die beiden Mädchen; er uzte sie, daß sie keiner farbentragenden Verbindung angehörten, wunderte sich, daß sie noch keinen Schmiß davongetragen hatten und teilte ihnen seinen unabänderlichen Entschluß mit, die ganze Nacht mit ihnen durchzukneipen.

Das war was für Hilde, erst der lustige Weinkommers zu dreien auf der Molkenkur, dann an dem vom Silberregen des Mondes überrieselten, gigantischen Heidelberger Schloß vorüber zum eleganten Konzert drunten im Stadtgarten. Die bunten Studentenmützen flogen allenthalben in die Luft, wo Günter Berndt mit seinen anmutigen Begleiterinnen auftauchte, man verehrte die beiden hübschen Medizinerinnen allgemein. Daisy schien froh und ausgelassen, aber durch ihre Heiterkeit klang ein Unterton mit von weher Entsagung.

Am andern Tage setzte Günter Berndt seine Reise fort. Hilde schwärmte noch lange von dem fidelen Abend. Daisy aber streifte wie aufgescheucht durch den bergigen Forst.

»Warum – warum bloß mußte er aufs neue meinen Weg kreuzen und die so mühsam errungene Ruhe meines Herzens stören?« fragte sie sich wieder und wieder. Und die bemoosten Tannen und graubärtigen Fichten neigten sich leise wispernd zueinander, ein trostverheißendes Raunen und Rauschen ging durch die wehenden Wipfel.


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