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Erster Schmerz

Eiliges Hin- und Herlaufen auf dem Korridor, gedämpfte, angstvolle Stimmen weckten Hilde nach kaum einer Stunde aus erstem Schlaf. Mit jähem Ruck setzte sie sich auf.

Sie strich sich die wirren Haare aus der Stirn und blickte verschlafen um sich. Eben hatte sie noch bunte Masken gesehen, lachende Tanzmusik war ihr in das Traumland hineingefolgt, wo war sie, und was gab's denn da draußen ...

»Nächsten Arzt – heiße Essigumschläge – Wärmeflasche!« War das nicht der Mutter erregte angstdurchzitterte Stimme?

Mit einem Satz war Hilde ungeachtet der bleiernen Müdigkeit an der Tür.

»Max, ums Himmels willen, was ist denn los, Max?« fragte sie gepreßt durch die Türspalte.

»Papa – Papa ist sehr unwohl geworden, Richard ist schon zum Arzt. Schnell, Hilde, zieh dich an, daß du der Mutter zur Hand gehen kannst.«

Mit fliegenden Fingern warf Hilde die Kleider über.

»Mein Gott, mein Gott, es wird doch nichts auf sich haben,« stöhnte sie gequält vor sich hin und starrte dabei auf das lichte Maskenkleid und die Atlaslarve, die ihr jetzt in der fahlen Morgendämmerung fratzenhaft entgegengrinste.

Auf leisen Schuhen schlich sie sich zum Schlafzimmer. Sie wagte die Tür nicht zu öffnen.

Zitternd und fröstelnd lehnte sie sich an den Türpfosten und lauschte angestrengt. Kein Laut – ein Stöhnen jetzt – noch einmal – das war die Mutter, dieser aus tiefster Seelennot hervorgestoßene Ton. Da gab's kein Zaudern mehr für Hilde. Geräuschlos öffnete sie die Tür und eilte an die Seite der am Lager des Vaters kauernden Frauengestalt, welche die kalten Hände des Erkrankten in den ihren wärmte, die heißen Umschläge auf den Füßen erneuerte und die Schläfen des Bewußtlosen mit Kölnischem Wasser netzte.

»Ist der Arzt noch nicht da?« Wie ein Hauch schwebte die bange Frage durch das Zimmer.

Hilde schüttelte den Kopf und hielt sich mit Gewalt am Fußende des Bettes aufrecht.

Ein scheuer Blick streifte das Gesicht des geliebten Vaters – da lag er besinnungslos mit geschlossenen Augen in den Kissen. Das Halbdunkel ließ seine Züge noch bleicher, die Nase noch schärfer und spitzer erscheinen und den Mund noch verzerrter. Den Arm um die wankende Gestalt der Mutter geschlungen, lehnte Hilde in angstvollem Warten neben dem Lager; ihre Pulse flogen, ein heißes Stoßgebet rang sich von ihren stummen Lippen zum Himmel empor.

Wie leblos der Vater dalag. Jetzt lief ein leises Zucken über seine hingestreckte Gestalt, und nun setzte der Atem lauter ein, schwer und keuchend, aber die Augenlider blieben fest geschlossen.

Endlich, eine Ewigkeit deuchte es die Mutter und Hilde, kam der Arzt. Stumm harrte Hilde im Nebenzimmer mit den Brüdern seinem Ausspruch. Welche Diagnose würde er stellen? Es durfte, es konnte ja keine Gefahr haben, ihr geliebter Vater mußte ja wieder gesunden. Qualvoll forschte ihr Auge in den Zügen der leise miteinander flüsternden Brüder.

Der Arzt war gegangen. Er hatte höhere Kopflage, Eisblase auf die Stirn und vor allem ungestörte Ruhe verordnet. Der Mutter schlimmste Ahnung hatte sich bestätigt, ein schwerer Schlaganfall gefährdete das so teure Leben.

Angesichts der drohenden Gefahr hatte die Mutter ihre Fassung vollständig zurückgewonnen. Mit umsichtiger Ruhe kam sie den Anordnungen des Arztes nach, nur von Zeit zu Zeit bewegten sich ihre Lippen mechanisch.

»Erhalte ihn mir, lieber Gott, erhalte ihn mir!« zitterte es an das Ohr der mit allen Fibern den unregelmäßigen Atemzügen des Vaters lauschenden Hilde.

Die Zeit verrann. Waren es Minuten, Stunden oder Tage, sie wußten es nicht. Es wurde Tag und Nacht, dunkel und hell; gleichmäßig rauschte die Zeit durch das stille Krankenzimmer, man konnte ihren Flügelschlag vernehmen. Zwei stumme Frauengestalten mit überwachten Mienen und versorgten Augen glitten geräuschlos vom Lager des Kranken zum Behälter mit Eis, um die Umschläge regelmäßig zu erneuern; zwei kalte Mädchenhände umspannten in bangem Weh die fieberheißen Hände des Vaters, und eine tränenverhaltene Stimme flüsterte dann und wann: »Vaterchen, liebes Vaterchen!«

Aber der Vater sah und hörte nichts von alledem. Tiefe Nacht hielt seine Sinne umfangen. Die starre Bewußtlosigkeit wollte und wollte nicht weichen, und der Arzt zuckte ernst und bedeutungsvoll die Achsel – er hatte keine Hoffnung mehr.

Von allen Seiten kamen Nachfragen nach dem Befinden des allgemein beliebten Mannes. Verwandte, Freunde und Patienten erkundigten sich täglich, auch die Kollegen stellten sich ein, um der Gattin Mut zuzusprechen.

Hilde mochte niemand sehen. Ihr war alles so gleichgültig, so schal und nichtig dem einen, Furchtbaren gegenüber, das unaufhaltsam seine Kreise enger und enger um das wehrlose Opfer zog. Nur Daisy hatte sie gesprochen. Laut weinend war sie der Freundin um den Hals gesunken. Und als diese ihr, um sie abzulenken, von dem Gymnasium erzählen wollte, hatte Hilde teilnahmlos ins Blaue gestarrt. Die Außenwelt hatte augenblicklich jedes Interesse für sie verloren.

Und dann kam eine Nacht, düster und stürmisch, da Hilde allein die Nachtwache beim Vater übernommen hatte. Um drei Uhr wollte Richard sie ablösen. Die Mutter hatte das vereinte Bitten ihrer Kinder bewogen, sich endlich einmal wieder für einige Stunden auf das Bett zu legen.

So saß Hilde nun, ohne sich zu regen, am Bett des in den Kissen Ruhenden und betrachtete mit ausdruckslosen Augen die lieben Züge, welche die Krankheit so grausam verheert hatte. Eine tiefe Zärtlichkeit quoll plötzlich in Hilde empor, sie neigte sich über die abgezehrte Hand des Vaters und preßte ihre zuckenden Lippen darauf.

»Vaterchen – mein Vaterchen, geh nicht von mir!«

Die Einsamkeit und Stille der Nacht wirkten einschläfernd auf die erschöpften Nerven des jungen Mädchens. Sie hörte nicht mehr die im Sturm klirrenden Eisenstangen des Wetterrouleaus, fühlte nicht, daß die Rechte des Kranken, die ihre lebenswarme Hand umklammert hielt, kälter und kälter wurde. Das junge übermüdete Haupt sank herab, der schmerzende Rücken lehnte sich zurück, ein gütiger Gott hüllte Hildes Bewußtsein minutenlang in Traumschleier.

Aber auch nur für Augenblicke.

Dann schreckte sie wild empor. Pfeifend und gurgelnd ging plötzlich der Atem des Vaters; keuchend hob sich die Brust; und als die graue Morgendämmerung ihre gespensterhaften Schatten ins Zimmer gleiten ließ, da war der finstere, unerbittliche Zerstörer an das Lager des Vaters getreten. Unbekümmert um die Verzweiflung der Mutter, um das erstickte Schluchzen Hildes und die stillen Tränen der Brüder hatte er mitleidlos der bleichen Stirn sein majestätisches Siegel aufgedrückt.

Hilde war vaterlos.

In stumpfem Schmerz vergingen die ersten Tage. Das Entsetzliche, das Unfaßbare war Wahrheit! Hilde griff sich immer wieder an die schlagende Stirn – es war ja unmöglich – ganz undenkbar!

Wenn sie nur Tränen gefunden hätte wie ihre arme Mutter. Aber ihre starre Verzweiflung löste kein erleichternder Tränenstrom.

Selbst bei der Bestattung konnte Hilde nicht weinen. Wie durch einen Schleier sah sie die bekannten Gestalten auf sich zukommen und ihr die Hand drücken: Daisys tränenüberströmtes Gesicht, die fest und tröstend den Arm um sie geschlungen hielt, Fräulein Geßner, die sie so herzlich küßte und sie voll Mitleid an ihre Brust zog.

Und dann hörten die Tage der Unruhe und des fortwährenden Besuches auf. Gleichmäßige Stille trat wieder ein, die nach der aufregenden Zeit besonders schwer und niederdrückend auf dem Dahlenschen Hause lastete und die Lücke doppelt fühlbar machte.

Die Vermögensverhältnisse der Familie blieben durchaus keine glänzenden. Doktor Dahlen war ein tüchtiger, beschäftigter Arzt gewesen, aber er hatte es nie verstanden, Kapital aus seinen Patienten zu schlagen und oftmals bei Unbemittelten die Forderung gestrichen.

Hilde hatte die traurige Zeit merkwürdig gereift. Mit frühzeitigem Ernst begriff sie, daß sie nun, falls sie ihre Studien fortsetzen dürfte, mit ganz anderem Eifer daran gehen müsse, daß sie die Verpflichtung hatte, sich gleich Daisy möglichst bald auf eigene Füße zu stellen.

Aber vorläufig fehlte ihr noch jede Spannkraft, sie dämmerte dahin, und die Mutter sah trotz eigenen Schmerzes voll Sorge auf ihr so verändertes Kind.

Hilde mußte in ihre Tätigkeit zurück, sie mußte auf andre Gedanken kommen.

Als sie das erstemal an Daisys Seite die Klasse wieder betrat, wo jedes Ding sie unverändert ansah, meinte sie, die böse Zeit müsse ein wüstes Traumbild gewesen sein. Die Lehrer und Lehrerinnen waren freundlich und teilnahmvoll. Doktor Werners Blick aber ruhte voll tiefem, innigem Mitgefühl auf dem blassen, stillen Mädchen in den düsteren Trauerkleidern.

Das war Hilde Dahlen, das wilde, trotzige Ding?

Die einst so übermütigen Augen leer und tief umschattet, die weichen Mundwinkel in herbem Weh herabgezogen, und ihr Lächeln, das sonnige, schelmische Lächeln, war einem Zuge stumpfer Verzweiflung gewichen.

Was wollte die in dem jungen Mädchenantlitz?

Wie ein vom Sturm geknicktes Bäumchen lehnte sie kraftlos und schlaff in der Bank. Da bedurfte es einer liebevollen und festen Stütze, an welcher der junge Baum sich aufrichten konnte und erstarken, bis er wieder in eigener voller Lebenskraft seinen Wipfel der Sonne entgegenhob.

»Fräulein Dahlen, ich bitte noch einen Augenblick.« Doktor Werners Stimme hielt Hilde, die langsam neben Daisy die Klasse verlassen wollte, zurück.

Müde stützte sie sich auf die vorderste Bank, den Blick gesenkt. Nun würde er ihr kondolieren wie all die übrigen. Wie gleichgültig das alles war!

Aber Gerhard Werner sprach nicht. Schweigend streckte er Hilde seine beiden Hände entgegen.

Da sah sie zum ersten Male wieder zu ihm auf, und ein Blick so weher Trostlosigkeit traf ihn, daß er sich erschüttert abwandte.

»Armes Kind,« sagte er dann leise, »armes Kind – ich weiß, Sie haben Ihren Vater sehr lieb gehabt.«

Hilde nickte stumm.

»Wissen Sie auch, wie Sie ihm Ihre Liebe noch über das Grab hinaus beweisen können?« fragte er ernst. »Wissen Sie es – Hilde?«

Das junge Mädchen war bei Nennung ihres Vornamens zusammengezuckt. Jetzt schüttelte sie wieder apathisch das Haupt.

»Ich will es Ihnen sagen, Hilde,« fuhr Doktor Werner langsam fort, »denken Sie, Ihr Vater stände jetzt an meiner Stelle. Ich weiß es, wie er zu Ihnen sprechen würde: ›Kopf hoch, mein Mädel, das sind die Schwachen und Wertlosen, die sich von einem ersten Schmerz zu Boden drücken lassen. Ich aber kenne meinen Liebling besser. Meine Hilde ist stark und voll Lebensmut, die rafft sich auf, die lebt so weiter, wie es im Sinne ihres Vaters ist.‹ – So würde Ihr Vater zu Ihnen reden – glauben Sie, daß er sich über dieses schlaffe, energielose Hindämmern freuen würde?«

Hilde hielt die Augen geschlossen. Das Bild des Vaters aus gesunden Tagen hatten die Worte des Lehrers in ihr heraufbeschworen.

Ja, so würde er sie ansehen, so ihr übers Haar streichen und – »Vaterchen!« schluchzte sie auf, und ein ungestümer Tränenstrom brach endlich, endlich den starren Schmerz.

Gerhard Werner ließ sie sich ruhig ausweinen. Tränen waschen den schweren Druck vom Herzen und bringen Befreiung.

Aber als das wilde Weinen leiser und ruhiger geworden war, strich er ihr kaum merklich mit der Hand über das braune Haar. »Sie haben nicht nur Rechte in Ihrem Schmerz, sondern auch Pflichten,« sagte er in warmem Ton. »Haben Sie wohl schon einmal in diesen Tagen an Ihre Mutter gedacht, die Ihres frischen Jugendmutes jetzt bedarf, um daran wieder zu gesunden? Das ist ein unedler Schmerz, der voll Egoismus nur an sich selbst denkt und seine Umgebung darüber vergißt.«

Doktor Werner schwieg. Hilde aber stieg langsam die Schamröte in das blasse Gesicht.

Was hatte Daisy ihr doch heute erst gesagt?

»Sieh mich an, Hilde, ich stehe ganz allein in der Welt und lasse doch den Kopf nicht hängen. Dir hat Gott noch viel gelassen, du hast eine gute Mutter, die dich lieb hat, sei nicht undankbar.« Zum zweiten Male wies man ihr heute ihre Pflicht.

Mit einem energischen Ruck wie früher hob Hilde das verweinte Gesicht.

Dann streckte sie Doktor Werner die Hand hin. Das Ausdruckslose in ihrem Auge war gewichen.

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor,« sagte sie leise, »ich will an Ihre Worte denken.« –

Die treue Daisy war trotz des langen Wartens nicht ungeduldig geworden. Zärtlich zog sie Hildes Arm durch den ihren.

»Du siehst lange nicht mehr so matt aus, darling,« sagte sie liebevoll. –

»Wie gut unsrer Hilde die Arbeit tut,« meinte nach einiger Zeit auch die Mutter zu Richard, »sie ist ordentlich eine andre geworden. Vater würde sich über sein tapferes Mädel freuen.«

»Ja, sie ist sanft und weich geworden durch die Trauer,« sagte Richard sinnend. »Aber trotzdem, die eigenwillige, starrköpfige Hilde war mir lieber. Sie hat ihr helles Lachen ganz verlernt.«

»Es kommt wieder – das kommt wieder –« die Mutter blickte trübe vor sich hin, »du lieber Himmel, mit knapp achtzehn Jahren. Sie wird nicht vergessen, aber überwinden lernen.«

»Mama, ich lasse euch sehr unruhig zurück. Gerade jetzt eine so lange Vertretung außerhalb. Und doch ist's richtig, daß ich sie angenommen habe; das Geld wird mir zum Assessorexamen willkommen sein.«

»Du hast ganz recht gehandelt, mein Sohn. Freilich still wird's bei uns werden, noch stiller als es schon ist. Aber der Umzug wird uns ablenken, und in den neuen Räumen werde auch ich vielleicht ruhiger sein.« Sie blickte mit schwimmenden Augen auf das vor ihr stehende Bild des Gatten. –

Ostern brachte große Veränderungen mit sich. Dahlens siedelten in eine kleinere, freundliche Gartenwohnung über. Hilde und Daisy wurden Primanerinnen.

Nach der letzten Mathematikstunde vor dem Schulschluß trat Hilde zu Doktor Werner ans Katheder. Es war seit dem Tode ihres Vaters das erstemal, daß sie unaufgefordert das Wort an ihn richtete. Er konnte mit ihrem eifrigen Streben und ernsten Wollen jetzt zufrieden sein. Aber die rechte Schaffensfreude fehlte der Arbeit noch.

»Herr Doktor,« begann sie zögernd, »ich habe in den letzten Wochen eingesehen, wieviel Lücken meine Mathematikkenntnisse noch aufweisen. Ich bin recht niedergedrückt dadurch, denn ich möchte mit den andern gern Schritt halten. Das beste ist, denke ich, wenn ich noch eine Nachhilfestunde wöchentlich nehme; und da wollte ich Sie um Ihren Rat bitten. Sie können mir gewiß einen Lehrer nennen, aber – er darf auch nicht zu teuer sein,« zaghaft gingen ihr die letzten Worte über die Lippen.

»Hm –« Doktor Werner dachte nach, »einen Lehrer wüßte ich schon, der Sie ganz gern bei Ihrer Arbeit unterstützen würde, Fräulein Hilde. Auch mit dem Preise ließe er wohl mit sich reden. Aber die Hauptsache – kann ich Sie denn mit gutem Gewissen dem Herrn empfehlen, ist es Ihnen denn ernst mit Ihrer Arbeit?«

»Sie haben ein Recht, diese Frage an mich zu stellen, Herr Doktor,« sagte Hilde leise, »ich habe mich Ihnen gegenüber oft genug kindisch und unreif gezeigt, aber – ich bin eine andre geworden – Sie dürfen mir Glauben schenken.« Sie blickte ihm frei ins Gesicht.

»Ich weiß es, Hilde Dahlen,« Doktor Werner reichte ihr ernst die Hand, »und darum wollen wir es miteinander probieren. Ich selbst will der Lehrer sein, der versuchen wird, Ihnen die unverständliche, trockene Mathematik schmackhafter und verdaulicher zu machen. Ich will Ihnen gern meinen freien Sonntagvormittag opfern. Nur müssen Sie sich zu mir herausbemühen. Der Sonntag gehört meiner Mutter, die mich die ganze Woche entbehren muß. Sie wird sich übrigens freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Ein Lächeln verschönte zum ersten Male seit vielen Tagen wieder Hildes schmal gewordenes Gesicht.

»Vielen, vielen Dank, Herr Doktor, Sie sollen Ihre Güte nicht bereuen.« Noch lange klang Gerhard Werner dieser warme Ton im Ohre nach. –

Herzklopfend saß Hilde in der Stadtbahn, die sie an einem der nächsten Sonntage nach dem ruhigen, von friedlichen Gärten umkränzten Vorort heraustrug, wo das stark pulsierende Leben der Großstadt so wohltätig, verstummt.

Zerrissene Wolken jagten wild am grauen Aprilhimmel, doch da – ein winziges Stückchen Himmelsblau, Hildes Augen hingen mit abergläubischem Bangen an diesem Eckchen. Würde auch ihrem Leben einmal wieder blauer Himmel lachen? – ach, nur solch winziges Stück, sie war ja bescheiden geworden. Nur ein wenig Sonnenschein – ja, war nicht schon heute ein goldener Strahl durch die dicken, düsteren Wolken, die an ihrem Lebenshorizont hingen, geblitzt, war nicht eine Empfindung der Freude in ihr erwacht, daß sie sich zur Stunde zu Doktor Werner begab?

Langsam schritt sie die stille Straße hinunter, die vom Bahnhof zum Vorort führte. Sie hielt den Blick nicht mehr krampfhaft zu Boden gesenkt wie die Tage zuvor. Zum ersten Male sah sie, daß es wieder zu treiben und zu keimen begann in der Natur, gelblichgrüne Spitzchen sprengten schon die starre braune Winterhülle – es wurde wieder Frühling.

»Alles erwacht wieder, alles lebt wieder auf, nur er –« murmelte Hilde bitter vor sich hin. Ihr tränenverschleierter Blick schaute den kleinen efeubestandenen Erdhügel im Garten des Todes, unter dem der Vater schlief.

Sie sah nicht, daß zwei alte Augen aus dem weinumsponnenen Erker, an dem sie gedankenlos vorüberschritt, ihr Näherkommen und das wechselnde Mienenspiel in ihrem Gesicht beobachtet hatten. Suchend blieb sie plötzlich stehen.

Da hatte sie doch tatsächlich die Hausnummer vergessen. Welches der sich so gleichenden Häuschen war es nun? – Sie war doch im vorigen Jahre schon heimlich daran vorbeispaziert! Unsicher flog ihr Blick in die Runde. Da öffnete sich die Gartentür vor ihr, eine schlanke Frauengestalt trat heraus. Schneeweißes Haar umrahmte ein kluges Gesicht, und die Augen blickten so klar, so leuchtend blau – solche Augen konnte nur seine Mutter haben.

Die alte Dame kam Hildes Frage zuvor.

»Sie sind gewiß Fräulein Hilde Dahlen,« sagte sie mit gewinnendem Lächeln, »ich sah Sie an unserem Heim vorübergehen. Da wollte ich Ihnen das Suchen ein wenig erleichtern.« Freundlich streckte sie Hilde die feingeäderte Hand entgegen.

Wie vornehm seine Mutter aussah und dabei wie lieb! Bewundernd folgte ihr Hildes Blick, als sie dem jungen Mädchen voran ins Haus schritt.

»Ein wenig müssen Sie noch mit mir fürliebnehmen, liebes Kind,« sagte Frau Werner, Hilde in den mit altmodischer Behaglichkeit ausgestatteten Erker führend. »Mein Sohn hat noch Besuch von einem Kollegen. Und ich bin egoistisch genug, mich darüber zu freuen. Ich alte Frau plaudere auch gern einmal mit einem jungen Menschenkinde.«

Ihre einfache, freundliche Art verscheuchte bald die leise Befangenheit, die über dem jungen Besuch lag; in kluger, unabsichtlicher Weise leitete sie das Gespräch auf Hildes Interessen und veranlaßte sie zum Erzählen. Hildes anfänglich so gedrücktes Wesen wurde frischer und lebhafter. Die forschenden gütigen Augen ihr gegenüber schienen ihr bis ins Herz zu leuchten und Licht und Schatten in ihrem Innern zu durchdringen.

Sagte Hilde denn kein unbewußtes Ahnen, wie angstvoll und besorgt eine Mutter hier im Herzen derjenigen zu lesen versuchte, deren Bild ihr kluger, feinfühlender Sinn schon eher in der Brust des Sohnes entdeckt hatte, als es ihm selbst klar geworden war?

Und immer freundlicher wurde die Miene der alten Frau und immer leichter ihr Herz. Klar und rein wie ein See lag Hildes Sein und Fühlen vor ihr. Es war Edelmetall, kein blendendes Talmi, die Kleine war es wert, daß Gerhard sich ihr zuwandte.

Als Doktor Werner nach geraumer Zeit eiligst in das Zimmer der Mutter trat und der Verspätung wegen vielmals um Entschuldigung bat, meinte Hilde ehrlich: »Eigentlich tut es mir leid, daß Sie schon kommen, Herr Doktor. Ich fand es viel netter, mit Ihrer Frau Mutter zu plaudern, als Mathematikstunde zu haben.«

Und die Mutter setzte mit liebevollem Blick auf ihren Sohn hinzu: »Wir sind schon gute Freunde geworden in der kurzen Zeit, und nächsten Sonntag kommt Fräulein Hilde ein bißchen früher und schenkt mir wieder ein Plauderstündchen, nicht wahr?«

Da ging es wie ein Freudenschein über das Gesicht des Sohnes.

Und dann begann der Ernst der Stunde.

Hilde versuchte es redlich, all ihre Gedanken auf den Gegenstand zu konzentrieren, sich durch nichts ablenken zu lassen. Aber nach einer halben Stunde schon fühlte sie, daß sie begann, abzuspannen. Wenn sie nur nicht wieder den schrecklichen Gähnkrampf kriegte; wie mußte das Doktor Werner, der ihr in so liebenswürdiger Weise seine Zeit opferte, verletzen.

Hilflos irrte ihr Blick umher. Aber je fester sie die Lippen zusammenkniff, umso mehr verlor sie die Herrschaft über sich.

»Huuh« – Doktor Werner schien es zu übersehen, er sprach ruhig weiter.

Jetzt war sie verloren – »huuh« – das konnte doch nicht so fortgehen.

Ihre kleine Hand preßte sich gegen den rebellischen Mund – »huuh« – sie mußte ihn bitten, eine Pause zu machen.

»Herr Doktor, ach, seien Sie nicht böse – huuh – ich bin wirklich nicht unaufmerksam, nur –« Da lachte Doktor Werner plötzlich sein von Herzen kommendes Lachen.

»Aber Kind, quälen Sie sich doch nicht so. Abgespannt sind Sie und noch immer angegriffen. Ich bin ein recht rücksichtsloser Mentor, was? Gähnen Sie nur, ich sehe mir inzwischen das Sprießen unserer Syringenbüsche an.«

Aber auf halbem Wege zum Fenster machte er sich besinnend halt und schritt zu einem kleinen Wandschrank. Dort füllte er ein Spitzgläschen mit goldgelbem Wein und reichte es der errötenden Hilde.

»Trinken Sie,« sagte er sorglich, »Sie werden davon frischer werden.«

Hilde nippte gehorsam das feurige Naß, noch nie hatte ihr Wein so gut gemundet – und vor allem, es half.

Sie fühlte den ermattenden Bann, dem sie unterlegen, schwinden, klarer blickte ihr Auge.

In Doktor Werners Studierzimmer wanderte es langsam umher: über die einfachen, guterhaltenen Möbel, die Riesenregale mit gelehrten Büchern und den schriftenbelasteten Schreibtisch; daran saß er wohl meist in emsigem Schaffen. Stille Harmonie lag über dem Studierzimmer und seinem Besitzer.

»Sehen Sie, Fräulein Hilde,« sagte er, ihr den Rücken wendend, »wie draußen in der Natur nach langer Todesnacht das Leben wieder in seine Rechte tritt – so geschieht es auch dem so leicht verzagten Menschenherzen.«

Keine Antwort – da schritt er zu ihr zum Tisch zurück.

»Auch Ihrem Herzen wird es wieder heller Frühling werden – glauben Sie es, Fräulein Hilde?«

Sie schüttelte unmerklich den Kopf.

»Nein, Sie glauben es nicht – sehen Sie mich, bitte, an, so – glauben Sie es nun – Hilde?«

Da wußte Hilde es: ein Frühling würde eines Tages auch ihrem Leben kommen! –

Die Sonntagvormittage draußen in dem friedlichen Gelehrtenheim und das stets dem Unterricht vorangehende gemütliche Plauderstündchen mit der ebenso klugen als gütigen Frau Werner begann bald den Hauptinhalt in Hildes Leben auszumachen. Der mühselige Wochentag, all das angestrengte Arbeiten und Lernen, das Sparen und Einrichten im Hause wurde ihr leicht, folgte doch stets ein entschädigender Sonntag als Belohnung.

Da draußen unter den duftenden Fliederbüschen lernte Hilde wieder lachen, frei und froh, wie es ihren Jahren entsprach.

Frau Werner und Hildes Mutter hatten einander kennen und schätzen gelernt; und die alte Frau Werner, die ihren Gatten schon so früh verloren, wußte mit weicher Hand das wunde Herz Frau Doktor Dahlens langsam zu heilen.

Mathematische Formeln wechselten mit dem Tacitus; französischer Konjunktiv mit Anglezismen. Hildes Eifer erlahmte nicht. In zielbewußter Arbeit fand sie ihre Jugendfrische wieder. Bäume blühten, trugen Frucht, vergingen.

Draußen auf einem stillen Rasenfleckchen, über das man oft zwei schwarzgekleidete Frauengestalten sich neigen sah, waren Veilchen und Primeln längst verblüht. Der Goldregen hatte seine gleißende Pracht auf den braunen Hügel gestreut, das weiße Rosenbäumchen ihn weich mit lichten Blättchen gedeckt, und die letzten Astern waren entblättert.

Jetzt begann die kühle, glitzernde Schneedecke, die das stille Grab seit Wochen umfing, unter linden Lüften langsam zu schmelzen – ein Jahr war vergangen, seitdem man Hildes Vater zur Ruhe gebettet.


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