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Natürlich – die Familie stand kopf! Sämtliche alten Tanten der Familie schüttelten das Haupt. Unglaublich – gar nicht zu verstehen – die Eltern waren doch sonst so vernünftige Leute, warum gaben sie die Tochter nicht lieber in eine Haushaltungsschule – na, sie würden es ja sehen, wohin es führte, was sie sich für einen Blaustrumpf damit erzogen! Hilde, das unweibliche, wilde Ding, hatte es doch gewiß nötig, mädchenhafter und häuslicher zu werden!
Hilde aber kümmerte sich nicht um alle rückständigen Tanten der Welt, sie strahlte, nichts war imstande, ihre gute Laune zu trüben. Selbst die ständigen Neckereien der Brüder ertrug sie mit ungewöhnlicher Sanftmut. Sie lehnte höflich die Zigarren ab, die sie ihr jeden Mittag nach dem Essen anboten, fuhr nicht wütend los, als sie in ihrem zierlichen Mädchenzimmer an der Wand eines Tages eine lange Pfeife und ein Rapier entdeckte, und stopfte die blauen Strümpfe Richards, die dieser extra für sie heraussuchte, mit wahrer Todesverachtung.
Max redete nur noch Lateinisch oder in Hexametern zu ihr, sandte ihr mit der Post Einladungen zu seinen Studentenkneipen und zum Katerfrühstück und lehrte sie mit Stöcken kunstgerecht fechten und seinen Hieben parieren. Aber als die erste Fensterscheibe daran glauben mußte, machte die Mutter ein für allemal diesen Mensuren ein Ende. –
So kam der Tag der Aufnahmeprüfung heran.
Hilde hatte Mühe, ihr zuversichtliches Wesen den düsteren Prophezeiungen der Brüder gegenüber, daß sie niemals die Prüfung bestehen würde, aufrecht zu erhalten, denn sie war ihrer Sache selbst mehr als unsicher.
»Du sollst sehen, Daisy,« sagte sie zur Freundin, die ebenfalls sehr erregt war, als sie beim Eintritt in die fremden Klassenräume, in denen die Prüfung stattfand, sich all den neugierig musternden Augen der Konkurrentinnen ausgesetzt fühlte, »paß bloß auf, Mathematik bricht mir den Hals!«
Direktor Richter, ein liebenswürdiger Herr, ermutigte die Schüchternen. Hilde fand ihre Unverfrorenheit wieder.
Kinderleicht war es ja – die schriftlichen Arbeiten in Deutsch, Französisch und Englisch glücklich vorüber, in Mathematik allerdings hatte sie trotz eifrigen Schielens auf Daisys Heft die letzte Ausrechnung nicht genau entziffern können – warum schrieb Daisy auch so undeutlich!
Nun nahm der Direktor sie natürlich noch extra scharf beim Mündlichen heran, eklig zwiebelte er sie, aber Hildes frische, dreiste Art machte ihm augenscheinlich Spaß.
Und als sie in Literatur, ihrem Lieblingsfach, einige treffende Antworten über die schlesische Dichterschule gegeben, ließ Direktor Richter ein vernehmliches »Gut« hören.
Hilde hatte bestanden.
Daisys Aufnahme war ja über jeden Zweifel erhaben gewesen, selbst deutscher Aufsatz, die Achillesferse der jungen Ausländerin, war zur Zufriedenheit ausgefallen.
»Mächtiges Schwein hab' ich gehabt,« berichtete Hilde frohlockend daheim ihrem Intimus Max, während Mama über die derb burschikose Ausdrucksweise ihres Töchterchens erschrocken den Kopf schüttelte.
»Natürlich hab' ich gleich Schillerlocken aus Dankbarkeit spendiert, da, Max, hast du noch ein paar. Ach, Daisy war auch ganz glücklich.«
Ja – Daisy war fast noch glückseliger über Hildes Aufnahme als die Freundin selbst. Das elternlose Mädchen, das im Hause der reichen Verwandten ihrer Mutter nur ungern Aufnahme gefunden und dort ein trauriges, freudloses Leben führte, hatte sich mit ihrem liebebedürftigen Herzen fest an die impulsive, warmherzige Hilde angeschlossen. Das Elternhaus der Freundin war ihr eine zweite Heimat geworden, und Frau Doktor Dahlen nahm sich Daisys wie eine Mutter an. Hilde, mit ihrem flattrigen, übermütigen Wesen, konnte durch den innigen Verkehr mit der um ein Jahr älteren und bedeutend reiferen Freundin nur gewinnen.
Sie saßen beide auf dem niedlichen hellen Sofa, ihrem Lieblingsplatz in Hildes Zimmer.
Heute hatte das große Ereignis stattgefunden, die Pforten des Lyzeums hatten sich für immer hinter ihnen geschlossen.
»Sag' mal, Daisy, warum hast du denn bloß wie ein Schloßhund geheult, als dir der Direks die feine Prämie mit den anerkennenden Worten überreichte, totgefreut hätte ich mich an deiner Stelle!«
»Ach, red' nur nicht, Hilde,« verteidigte sich Daisy, »wer hat denn ein Tränchen nach dem andern im Auge zerdrückt, als der Chor das Abschiedslied ›Ihr lieben Schulgenossen‹ anstimmte? Ich denke, du freust dich so, daß du die Schulzeit hinter dir hast?«
»Tu' ich auch,« Hildes Augen strahlten, »gottlob, daß ich aus dem langweiligen ledernen Bildungsstall heraus bin, nun sind wir doch keine Schulmädel mehr – Gymnasium – ja, das ist doch etwas ganz anderes!«
»I don't think so,« meinte Daisy, sinnend vor sich hinblickend, »Schule bleibt Schule, die Hauptsache ist, daß man etwas Ordentliches lernt und bald sein Ziel erreicht. Aber wir werden schon tüchtig miteinander arbeiten, nicht, darling?«, sie schlang den Arm zärtlich um Hildes zierliches Figürchen. »Ich bin ja so froh, daß ich mit dir gemeinsam studieren darf.«
»Natürlich werden wir büffeln – Ehrensache im Gymnasium. Will doch mal sehen, ob der dumme Günter Berndt jetzt nicht ›Fräulein‹ zu mir sagt.«
Daisy schwieg, herzklopfend dachte sie an ihre letzte Begegnung mit Richards Freund; war es treulos von ihr, daß sie Hilde Günters Zweifel an ihrer Eignung für das Studium verheimlichte? Aber es war ihr nicht möglich, davon zu sprechen.
»Daisy, willst du ein Stückchen Torte essen?« Hilde zog zu Daisys Erstaunen ein arg zerquetschtes, in ein französisches Extemporalblatt gewickeltes Paket aus ihrer Kleidertasche. Es sah nicht sehr vertrauenerweckend aus.
»Woher hast du es?« erkundigte sich Daisy vorsichtig.
»Ach, Daisy, das war ja gestern zum Brüllen, es ist ja mein zweites Stück von unserer Abschiedstorte. Und gerade, als ich unter den Tisch gekrochen war, um heimlich abzubeißen, gab mir Ehlert mein französisches Extemporale zurück. Ich glaubte, ich müßte an dem großen Happen ersticken, kein Wort konnte ich herausbringen, während er mir noch zu guter Letzt eine Standpauke hielt wegen der vielen Flüchtigkeitsfehler. Da hab' ich den Rest der Torte dann lieber gleich in das Extemporale hineingewickelt ...« Sie begann eifrig zu schmausen und Daisy half ihr.
»Was haben sie denn zu Hause zu deiner Prämie und dem glänzenden Abgangszeugnis gesagt, Daisy?« fragte Hilde mit vollem Munde.
Ein Schatten huschte über das holde Gesicht der jungen Amerikanerin.
Sie schwieg.
»Was, waren sie heute etwa wieder eklig zu dir, deine liebe Tante und Fränze, das hochnäsige Ding?« fuhr Hilde auf.
Daisy nickte traurig.
»Kein freundliches Wort haben sie für mich gefunden,« klagte sie leise, »Tante Malwine sagte bloß: ›Na, da haben wir das viele Geld doch wenigstens nicht umsonst für dich ausgegeben‹ und Fränze meinte: ›Gott, solche Prämie ist doch gar nichts Besonderes!‹«
»Möchte wissen, ob der Affenschwanz jemals eine bekommen hat. Das ist doch sicher wieder der pure Neid von ihr; sei doch bloß nicht immer so schafmäßig sanft, Daisy, wenn sie so gemein gegen dich ist; zeig' ihr doch die Zähne – na, ich sollte mal in deiner Haut stecken, ich wäre schon längst aus dem Hause geflogen.«
»Yes indeed,« lachte Daisy, »das glaube ich selbst,« und fügte dann gleich wieder ernst werdend hinzu: »Ja, siehst du, Herzchen, wenn man abhängig ist, lernt man den Mund schon halten; kannst mir's glauben, schwer genug wird's mir manchmal. Aber was soll ich anfangen, wenn sie die Hand von mir ziehen? Onkel Wilhelm tut, was seine Frau will. Ich glaube, das einzige Mal, daß er sich gegen ihren Willen aufgelehnt, war vor fünf Jahren, als er mich trotz ihres Widerspruchs in sein Haus nahm. Na, und oft genug hat sie's ihm seitdem anzuhören gegeben. Onkel Wilhelm ist gut, der würde mir gewiß gern manches im Hause erleichtern, aber er darf nicht. Als ich ihm heute mein Abgangszeugnis gab und er freundlich sagte: ›Schade, Kind, daß deine Mutter, meine gute Schwester, das nicht erlebt hat,‹ hielt sich die Tante gleich beide Ohren zu und rief: ›Um Himmels willen, werdet bloß nicht gefühlvoll, sentimentale Menschen passen nicht in die Welt. Daisy hat doch wohl allen Grund, energisch und tatkräftig zu sein und sich möglichst bald auf eigene Füße zu stellen.‹ – Siehst du, Hilde, deshalb will ich arbeiten, und arbeiten und wenn ich die Nächte zu Hilfe nehmen muß; ich werde den Tag segnen, an dem ich nicht mehr das Gnadenbrot dort im Hause zu essen brauche.«
Hilde ballte ihre Hände.
»Ach – ich möchte – könnte ich doch der geizigen, eingebildeten Gesellschaft, die auf nichts weiter pocht, als auf ihren Geldbeutel, mal ordentlich eins auswischen. Ins Gesicht möcht' ich's ihnen mal sagen, wie lieblos und häßlich sie sich zu dir benehmen; ich wünsche keinem Menschen was Schlechtes, aber ...«
»Schscht,« machte Daisy und legte Hilde die Hand auf den vorschnellen Mund, »nichts sagen, was einem nachher leid tut. Tante Malwine kann es eben meiner armen Mutter selbst im Tode noch nicht verzeihen, daß sie damals ihren reichen Vetter ausschlug und meinem verstorbenen Vater, einem armen Künstler, in die weite Ferne folgte. Trotzdem sie mich doch möglichst bald los sein möchte, hätte sie es doch nie zugegeben, daß ich Lehrerin, Erzieherin oder Tippfräulein geworden wäre, ›plebejisch‹ nennt sie das. Aber studieren, ja, das ist etwas anderes; da braucht sie sich doch vor ihren vornehmen Bekannten meiner nicht zu schämen.«
»Ja, und nebenbei hat es noch den Vorteil, daß sie dich doch noch ein paar Jahre in die Schulstube steckt, da stichst du wenigstens ihre häßliche Fränze auf den Gesellschaften nicht aus,« lachte Hilde boshaft.
»Pfui, Hildchen, sei nicht so mokant!«
»Na, findest du sie vielleicht hübsch mit ihrer plumpen kleinen Gestalt und dem breiten bäuerischen Gesicht? Ich gönne es der gnädigen Frau von Staven, daß ihre Tochter so wenig aristokratisch aussieht.«
»Hilde, ans Telephon, du wirst verlangt,« rief die Mutter zur Tür hinein.
Daisy blieb allein.
Sie sah sich in dem behaglichen Raum, den Mutterliebe so traulich wie möglich gestaltet hatte, um – wie gut hatte es doch die Hilde!
Und so selbstverständlich nahm sie all die Liebe der Ihrigen hin – Daisy seufzte – ja, man weiß immer erst zu schätzen, was man nicht mehr besitzt.
Aus dem Nebenzimmer, der Stube der Brüder, klangen Stimmen herüber, Daisy wollte nicht lauschen. Sie schlug ein Buch auf, das auf dem Tische lag, und begann zu lesen.
»Nein, Richard, du hast nicht recht,« hörte sie jetzt eine deutliche Stimme – Daisy fuhr empor – war das nicht ... Das Buch entsank ihren bebenden Fingern.
»Warum soll deine Schwester nicht noch etwas Tüchtiges lernen,« hörte sie Günter Berndt weiter sprechen, »besser, als wenn sie die Zeit totschlägt und herumflaniert. Das Frauenstudium hat durchaus seine Berechtigung – ach Unsinn, Mensch, rede doch nicht von den paar Gramm Gehirn, die der Frau fehlen, sie haben ohne dasselbe doch schon genug geleistet. Ich habe alle Achtung vor diesen tüchtigen Frauen, ich verehre sie – aber lieben – nie könnte ich ein studiertes Mädel lieben oder sie gar begehren. Ein Mädchen mit dem Seziermesser in der Hand ist mir immer nur Studiengenosse; es geht ihr in meinen Augen jeder weibliche Reiz dabei verloren.«
Daisy zuckte zusammen – sie hätte aufschreien mögen vor Weh – aber sie war es gewöhnt, sich zu beherrschen. Fest preßte sie die Hand gegen das wild schlagende Herz, mit Gewalt schluckte sie die Tränen hinunter, und als gleich darauf Hilde zurückkam, konnte sie schon wieder mühsam lächeln.
»Daisy – was ist dir, du siehst ja so blaß aus?« sie sah die Freundin besorgt an.
»Ach – nichts – darling– es ist schon vorüber, mir war nur im Augenblick nicht ganz wohl – ich glaube, das beste ist, ich gehe nach Hause.«
»Nein, auf keinen Fall,« protestierte Hilde lebhaft, »du hast mir doch versprochen, zum Abend zu bleiben – Papa ist leider noch nicht zu Hause, aber halt – drin ist ja Günter Berndt, der ist doch auch Mediziner, der kann dir helfen – zu etwas wird er doch gut sein!« spornstreichs lief sie aus dem Zimmer.
»Hilde – Hilde!« rief Daisy beschwörend hinter ihr her, aber es war schon zu spät, sie hörte Hilde bereits im Nebenzimmer verhandeln.
»Nimm dich zusammen – nimm dich bloß zusammen,« Daisy grub fest die kleinen weißen Zähne in die Unterlippe und preßte die Fingernägel ins Fleisch, daß es sie schmerzte. »Er darf es nicht merken, daß ich etwas gehört habe, er soll es nie – nie erfahren!« sie flog wie im Fieber.
Es kamen Schritte.
Mit fast übermenschlicher Willenskraft zwang Daisy ihr Gesicht zum Lachen.
»Hilde,« rief sie der Eintretenden entgegen, »du bist ja nicht klug, holst den Doktor, und die Patientin ist bereits ganz gesund.« Sie legte ihre Hand flüchtig in Günter Berndts Rechte. Er blickte sie durch seine Hornbrille prüfend an.
»Schade, Daisy,« lachte Richard, der ebenfalls mit hereingekommen war, »ich glaubte, Sie könnten mich vielleicht auch gebrauchen; ich stelle mich Ihnen zum Testamentaufsetzen untertänigst zur Verfügung.«
Daisy lächelte gezwungen. Das Lächeln tat ihr weh.
»Na, wollen Sie nicht mal nach meiner Freundin sehen oder verstehen Sie noch nichts vor dem Doktorexamen?« fragte Hilde Günter Berndt schnippisch.
»Frechdachs!« sagte Richard und packte die jüngere Schwester an den Ohren.
Eine dunkle Blutwelle war in Günters schmales, bleiches Gesicht gestiegen; schnellen Schritts trat er auf Daisy zu.
Mit einem kurzen »Sie erlauben« ergriff er trotz ihres Protestes das Handgelenk des jungen Mädchens.
»Es ist wirklich nichts, Herr Berndt, bemühen Sie sich doch nicht,« stieß Daisy mit zuckenden Lippen hervor – daß er nur nicht merkte, wie sie zitterte!
»Ihre Hände sind eiskalt, und Ihr Puls fliegt,« sagte er nach einigen Sekunden ruhig. »Ich würde Ihnen raten, sich ein wenig auf das Ruhebett zu legen, gnädiges Fräulein.«
»Gnädiges Fräulein –« neulich hatte er sie anders genannt. Bald lag Daisy warm verpackt auf dem Ruhebett. Frau Doktor Dahlen hatte sie mütterlich in Decken gehüllt und brachte ihr dampfenden Tee, während Hilde zärtlich die Hände der Freundin streichelte.
Nach und nach wurde Daisy ruhiger. Ein wohltuendes Gefühl des Geborgenseins und Behütetwerdens, das sie schon längst nicht mehr kannte, durchrieselte sie – ach, wie lange hatte sich keiner so um sie gesorgt und gekümmert!
Mit einem tiefen Seufzer der Befriedigung schloß Daisy die brennenden Augen. Hilde schlich leise auf den Fußspitzen aus dem Zimmer.
»Nie könnte ich ein studiertes Mädel lieben. Ich sehe nur den Studiengenossen in ihr.« – Mit schneidender Deutlichkeit hört Daisy wieder Günter Berndts unbarmherzige Worte, sie sieht seine schlanke Gestalt wieder vor sich, den Blick so ruhig, so gleichgültig ärztlich prüfend – all ihr Mädchenstolz bäumt sich plötzlich empor. Nein – nein – er verdiente es ja gar nicht, daß sie sich seine grausamen Worte so zu Herzen nahm. Er hatte nie etwas für sie empfunden. Mußte man denn beim Arbeiten und Streben, Lernen und Studieren an weiblichem Reiz einbüßen? Mußte ein Mädchen einem Mann nicht doppelt liebenswert erscheinen, wenn sie mit äußerer Anmut auch Tüchtigkeit und Schärfe des Geistes vereinte? Sollte ein Mädchen denn nicht seine Persönlichkeit voll für einen Beruf einsetzen?
Hin und her gingen Daisys Gedanken, sie kam zu keinem Resultat. Nur eins wurde ihr klar, sie mußte mit der Sache fertig werden, sie durfte ihre Gedanken nicht in fruchtlosen Träumereien zersplittern, sie mußte all ihre Kräfte einsetzen und geraden Wegs auf ihr Ziel zustreben. Arbeit, Studium, das war ihr Weg. Beweisen, daß sie stark genug war, durchzusetzen, was sie sich vorgenommen hatte. Sie war zu schade dazu, ihr Sinnen und Hoffen an einen zu verschwenden, dem sie gleichgültig war. Ja, sie wollte das törichte Gefühl bezwingen, gleich heute – sie war fertig damit – ganz fertig! Ein leiser Seufzer entrang sich Daisys Lippen, wie durch eine geheime Macht schlug sie plötzlich die Augen auf, der, dem ihr Denken und Ringen eben gegolten, stand vor ihr.
Sie hatte seinen Blick gefühlt.
Warm hing sein Auge an ihrem Antlitz.
Sie wollte aufspringen, aber mit sanfter Gewalt drückte er sie in die Kissen zurück.
»Ist Ihnen jetzt besser?« Seine Stimme klang teilnehmend.
Daisy nickte beklommen – die Kehle war ihr wie zugeschnürt.
Sie schwiegen beide.
Unterlag sie schon wieder dem Zauber seines Blickes? – Nein, es durfte nicht sein, welche Vorsätze hatte sie noch eben gefaßt!
»Sie können mit dem ersten Resultat Ihrer Praxis zufrieden sein, Herr Berndt,« unterbrach sie die sekundenlange Stille scherzhaft mit nicht ganz natürlich klingender Stimme. »Ich bin wieder vollständig genesen, hoffentlich wird die Rechnung nicht zu hoch.«
»Ich werde Ihnen meine Forderung eines Tages schon vorlegen, Miß Daisy.« Sie mußte aufs neue die Wimpern vor diesem seltsamen Blick senken.
»Ein studiertes Mädel begehrt man nicht, das sieht man nur als Studiengenossen an,« klang es Daisy plötzlich schrill im Ohr wider.
Mit Gewalt schüttelte sie den Bann, den sein Auge auf sie ausübte, ab.
»Unter Kollegen nimmt man es doch nicht so genau, Herr Berndt, ich denke, Sie werden an die Kollegin in spe nicht eine zu hohe Forderung stellen.«
Sie hatte ihren Zweck erreicht.
Ein Schatten flog über sein kluges, offenes Gesicht.
Das warme Leuchten in seinem Blick erlosch – richtig, sie wollte ja auch ein studiertes Mädel werden, eine von denen, mit denen er täglich in Hörsaal und Klinik zusammen, arbeitete und die ihm so wenig begehrenswert erschienen. Nervös fuhr er sich mit der Hand über die Augen, während Daisy mechanisch das Tapetenmuster zu zählen begann. Da trat Hilde ins Zimmer.
Gottlob – sie atmeten beide auf – ihr harmloses, frisches Geplauder scheuchte allmählich den beklemmenden Druck, der über den zweien lag.
Günter Berndt machte Miene, sich zu verabschieden.
»I wo, Günter, daraus wird nichts,« meinte die eintretende Frau Doktor, die den jungen Mann von klein auf kannte. »Sie gehen doch heute abend mit Richard zum Kegeln; da essen Sie natürlich vorher mit uns ein Butterbrot. – Schnell, Hildchen, deck' den Tisch! Es ist die höchste Zeit, Papa wird gleich hier sein.« Hilde zog ein Gesicht – es war doch nicht zum Blasen – heute, wo sie Besuch hatte, konnte Mine doch mal decken! Aber nein, Mama zog die Zügel jetzt noch viel straffer an als früher. Solche Haustochter hatte es doch wirklich schwer, seufzend machte sich Hilde ans Werk.
»Doch das Salz vermiss' ich, den Bringer der Lust,
Das mir schmackhaft würze die Rinderbrust!«
deklamierte Max beim Essen, sich suchend auf dem Tisch umsehend.
Hilde wurde rot und sprang auf.
»Mädel,« rief lachend der Vater, »kurze Haar und kurze Gedanken, gut, daß der Kopf festgewachsen ist!«
»Hilde kümmert sich jetzt doch nur noch um attisches Salz,« neckte Günter Berndt.
»Ich kann Ihnen gut etwas davon abgeben, Herr Doktor,« war die prompte Antwort. »Sie werden es zur Doktorarbeit gebrauchen können.«
»Scht – Kinder, Frieden gehalten, mach' lieber den Tee, Hilde,« mischte sich die Mutter begütigend ein.
Hilde entzündete das Spiritusflämmchen. Sie frohlockte – sie hatte es dem arroganten Günter Berndt doch eben ordentlich gegeben, vor Daisy. Ganz erschreckt ob solcher Kühnheit hatte die Freundin sie heimlich am Kleide gezupft. Gedankenvoll begann Hilde den Tee einzugießen.
»Du, Hilde, der ist zu stark, wir werden umfallen,« lachte da plötzlich Richard los, aller Blicke richteten sich auf das Teetischchen. Da standen unschuldig und harmlos drei Gläser mit klarem kochenden Wasser – Hilde hatte vergessen, den Tee einzuschütten.
Nun wurde Mama aber wirklich ärgerlich: »Nimm doch deine Gedanken zusammen, Mädchen, du hast doch an nichts weiter zu denken!«
Hilde wurde puterrot – wie boshaft der dumme Günter lächelte, und Daisy sah sie voll Mitleid an.
»Hilde ist Antialkoholikerin,« versuchte die Freundin sie scherzend in Schutz zu nehmen und versetzte ihr unter dem Tisch einen kleinen Aufmunterungspuff.
»Wasser ist das gesündeste Getränk für Kinder,« damit stellte Richard ein Glas der farblosen Flüssigkeit vor Hildes Platz.
»Laß unsern kleinen Gymnasiasten in Ruhe,« nahm sich Max des jüngeren Schwesterleins, mit dem er stets ein Herz und eine Seele gewesen, an, »als ich solch hoffnungsvoller Pennäler war, wußt' ich auch noch nicht, daß man zum Teebereiten Tee braucht.« Alle lachten, und der Stein des Anstoßes war beseitigt.
»Daisy, wollen wir morgen Tennis spielen?« fragte Hilde, ihre gute Laune schnell wieder findend.
Daisy zögerte.
»Ich wollte dir eigentlich vorschlagen, jeden Tag in den Ferien ein paar Stunden zusammen Geometrie und Mathematik zu treiben.«
Hilde schüttelte sich.
»Brr – Mathematik – und noch dazu in den Ferien, wo ich grundsätzlich nicht arbeite, Daisy, das kann dein Ernst nicht sein! Schauderhaft diese Zahlen und Formeln, eine tötende Langeweile beschleicht mich, wenn ich nur an einen Mathematiklehrer denke, das verkörperte Einschläferungsmittel ist diese Gattung von Menschen!«
»Hilde, Sie sollten Mathematik studieren und nicht Medizin. Sie bringen den nötigen Enthusiasmus für dies Fach mit,« sagte Günter Berndt.
»Und so was will überhaupt studieren, so ein Faulpelz,« lachte Papa, »garantiere, nicht ein halbes Jahr bleibt die Hilde auf dem Gymnasium!«
Daisy erhob sich.
»Es ist schon spät – und – und ich habe immer noch ein wenig Kopfschmerzen – ich möchte mich verabschieden.«
»Kopfschmerzen – so 'n Kiekindiewelt – na, Daisy, als ich in Ihrem Alter war, kannte ich noch nicht einmal das Wort,« sagte Doktor Dahlen, Daisy die Hand reichend.
»Ja, die heutige Generation ist ein schwaches Geschlecht trotz allem Sport, zu unserer Zeit war das ganz anders!« meinte Hilde mit drolligem Ernst.
»Wir begleiten Sie selbstverständlich, Daisy – ach wo, wir machen garkeinen Umweg, nicht wahr, Günter?« Richard half Daisy verbindlich beim Anziehen.
»Bleiben Sie doch noch, Daisy,« stimmte Max in Hildes Bitten ein, »ich bringe Sie nachher nach Hause, wirklich, es ist mir ein Vergnügen.«
» O no – I thank you – das Vergnügen, mit dem ältere Brüder die Freundinnen jüngerer Schwestern nach Hause begleiten, ist mir bekannt. Ich will mir nicht Ihre ewige Feindschaft zuziehen.« Max beteuerte zwar das Gegenteil, aber im Grunde hatte Daisy den Nagel auf den Kopf getroffen.
Die beiden Mädchen nahmen zärtlichen Abschied voneinander, als ob sie sich für Jahre trennten, und dann schritt Daisy in lebhaftem Gespräch mit Richard dem Hause ihres Onkels zu.
Günter ging ziemlich einsilbig daneben.
Unbefangen und gleichgültig klang Daisys »Gute Nacht«, als sie Günter die Hand reichte. Oben aber in dem kleinen Mädchenstübchen, das sie mit Cousine Fränze teilte, drückte Daisy den schmerzenden Blondkopf in heißem Weh in die Kissen. Fest preßte sie das Deckbett gegen den Mund, daß Fränze von ihrem stoßweißen Schluchzen nicht etwa aufwachte.
Zu gleicher Zeit streckte sich auch Hilde auf ihr Lager, und energisch die kleinen Hände ballend, murmelte sie vor sich hin: »Ich werde es ihnen schon beweisen, daß ich auf dem Gymnasium aushalte!«
Ein trotziges Lächeln um die frischen Lippen schlief sie ein.