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Ein vornehmer Freier

Fränze war Braut.

Eitel Glück und Sonnenschein herrschte im Stavenschen Hause, denn der Bräutigam war von altem vornehmen Adel, wie die Tante jedem versicherte. Nur Daisy bekam die Schattenseite dieser lichtvollen Zeit zu kosten. Fränze war eingebildeter und hochmütiger als je; und dazu die Unruhe und die vermehrte Arbeit des Verlobungstrubels. Daisy wußte oft nicht, wo sie die Zeit zum Lernen hernehmen sollte.

Sie war äußerst verblüfft, als Fränze sie eines Nachts, vom Ball heimkehrend, unbarmherzig aus dem Schlaf rüttelte: »Du – Daisy – ich habe mich heute abend verlobt, mit Herrn von Hülsen, er hat ein großes Rittergut.«

Die gutmütige Daisy wünschte der Cousine, trotzdem diese ihr nur Leids angetan, von Herzen Glück. »Habt ihr euch denn schon lange lieb?« fragte sie interessiert.

»Lieb –« Fränze zuckte mitleidig über Daisys Dummheit die Achsel – »lieben ist ganz unmodern, sagt Mama. Heutzutage schätzt man sich, das ist viel vornehmer. Manfred – wie feudal der Name schon klingt – ist durch und durch Kavalier. Morgen wirst du ihn ja kennenlernen.«

Lange wälzte Daisy sich voll unruhiger Gedanken schlaflos auf dem Lager, während die eben verlobte Braut seelenruhig schnarchte.

So also sah das Glück aus, das jubelnde, himmelstürmende Glück, das sie bisher stets mit einer Verlobung für gleichbedeutend gehalten hatte?

Und als am nächsten Vormittag Fränzes Manfred in tadellosem Gesellschaftsanzug Besuch bei der Familie machte, um in aller Form um Fränze anzuhalten, da starrte ihn Daisy mit ungläubiger Verwunderung an und vergaß fast das Gratulieren. Dieser kahlköpfige Mensch mit der blassen Gesichtsfarbe und den vielen Fältchen und Strichen um Augen und Mund, das war der Auserwählte der noch nicht zwanzigjährigen Fränze? Dagegen sah ja Onkel Wilhelm mit seiner kurzen, gedrungenen Gestalt und dem fast ergrauten Haar wie ein Jüngling aus! Und dieses Gezierte und Gedrechselte in seinem Wesen! Daisy mußte sich Mühe geben, um nicht laut herauszulachen. Die eintretende Tante aber blähte sich wie ein Pfau vor Stolz und Eitelkeit und meinte mit einem Blick auf den neuen Schwiegersohn, der in abgemessener Verbindlichkeit die rote, fleischige Hand Fränzes an seine schmalen Lippen zog: »Siehst du, das ist wahre Vornehmheit, Daisy, achte nur jetzt recht auf dich.«

Daisy stand in der Küche und half beim Backen, Braten und Schmoren; und da die geizige Tante kein Hausmädchen mehr hielt, mußte Daisy natürlich das Essen selbst auftragen und servieren, denn die Köchin sah nicht standesgemäß genug aus. Daisy preßte fest die Lippen zusammen, um die Tränen zurückzuhalten; das war Fränze wieder, nur Fränze, die ihr dies eingebrockt hatte, um sie vor dem Bräutigam zu erniedrigen.

Wie gut, daß es Sonntag war, und die Verwandten Theaterkarten hatten. Da konnte Daisy doch wieder einen gemütlichen Sonntagabend in der stillen Gartenwohnung bei Dahlens verbringen und Hilde brühwarm die große Neuigkeit erzählen.

Sie kam jetzt nur noch selten zu der Freundin. Die Entfernung war eine zu große geworden; umso mehr freute sie sich auf den heutigen Besuch.

Ob Günter Berndt sich auch am Ende einfinden würde?

Richard hatte zwar eine neue Vertretung angenommen und war nicht daheim, aber Hilde hatte erzählt, daß sich Günter in treuer Freundschaft, so oft es sein Beruf gestattete, nach ihnen umsähe; er verehrte Frau Doktor Dahlen wie eine Mutter.

Daisy hatte ihn ab und zu flüchtig auf der Straße getroffen, wenn er vom Kinderkrankenhaus, an dem er tätig war, heimkehrte.

Aber seit jenem Maskenball, wo die Wiedersehensfreude sie einander so nahe gebracht hatte, war eine seltsame Entfremdung zwischen sie getreten. Wenn er sie mittags auf dem Heimweg vom Gymnasium traf, das Mäppchen unter dem Arm, runzelte er unwillkürlich die Augenbrauen, und die feinfühlende Daisy las das Abweisende gegen ihr vieles Lernen in seinem offenen Mienenspiel. Dann wappnete sie sich gegen seinen Blick, war taub gegen jeden wärmeren Ton, und ein längst vergessenes hartes Wort erwachte wieder in ihr und bohrte und quälte sie und erstickte alle weichen Regungen. Sie litt unsäglich unter diesem Zwiespalt und trotzdem – wenn er doch heute da wäre, wünschte sie inbrünstig, als sie die Klingel zur Dahlenschen Wohnung zog.

Max öffnete und begrüßte freudig den gern gesehenen Gast. Ihr Blick überflog die Garderobenhaken. Der schwarze weiche Hut gehörte Max und der da – der braune – sie kannte ihn nur zu gut, spähte sie doch unbewußt auf der Straße ständig nach jedem braunen Herrenhut aus.

Ein anheimelndes Bild beschien der rötliche Lampenschirm in dem traulichen, nicht allzu geräumigen Zimmer. Die Mutter saß eifrig mit Näharbeit beschäftigt. Hilde war aus sämtlichen Sachen, die der Trauer wegen ein Jahr liegen mußten, herausgewachsen. Sie war größer und voller geworden in diesem Jahre und blühte wie eine Rose. Sie schrieb einen Aufsatz ins reine. Auf dem Schachtisch daneben stützte Günter Berndt nachdenklich das Gesicht in die Hand. Er war gerade am Zuge, als Max abgerufen wurde.

Jetzt hob er lauschend den Kopf. »Ratet mal, wen ich bringe!« rief Max schon von draußen herein und zog Daisy frohlockend hinter sich her.

Hildes Füllfederhalter flog auf die Erde, mit altem Ungestüm begrüßte sie die Freundin.

Die Schachfiguren klapperten leise. »Mensch, was machst du denn?« rief Max. »Du hast ja eben deinen Springer über fünf Felder gehen lassen, nicht mogeln, bitte ich mir aus!«

Günter Berndt erhob sich, nur flüchtig lag Daisys Hand in der seinen.

»Na, Daisychen,« meinte Hildes Mutter erfreut, »das ist recht, daß du dich wieder einmal sehen läßt.«

»Ich bringe auch eine nagelneue Nachricht – eine Verlobung – rate, Hilde!«

»Sie selbst,« neckte Max.

»Unsinn,« Daisy errötete heftig, »ich habe Besseres zu tun, also – Fränze.«

Hilde ließ sich mit unnachahmlicher Miene in den nächsten Stuhl fallen.

»Fränze – tatsächlich, Daisy – rechte Hand, Ehrenwort?«

Daisy bekräftigte ihre Mitteilung durch den gewünschten Handschlag.

»Na, wo die Liebe hinfällt, da liegt sie,« meinte Hilde lachend, »der Ärmste – das heißt, es geschieht ihm schon recht, wenn er solch Esel ist, sie zu nehmen. Wer ist denn der Glückliche? Ihr angebeteter Lämmergeier?«

»Not at all – das heißt, ich glaube, im innersten Herzen hätte sie den lieber genommen, aber ›Frau Lämmerhirt‹ – pfui, wie das klingt!«

»Wer ist es denn nun eigentlich?« erkundigte sich auch Frau Doktor Dahlen. »Kennt und liebt ihn deine Cousine schon lange?«

»Kennen – na, acht Tage wird sie ihn wohl schon gekannt haben, und lieben – aber das ist ja höchst überflüssig dabei, die Hauptsache ist, daß er durch und durch Kavalier ist und ein einträgliches Rittergut besitzt.«

»Aber Daisy – Daisy,« drohte Frau Doktor Dahlen, »du bist ja eine ganz gefährliche kleine Person!«

»Wie sieht er denn aus?« Hilde war vollständig bei der Sache, handelte es sich doch um die erste Braut in ihrem Kreise.

»Figur – wie ein halbzusammengeklapptes Taschenmesser, Gesicht – wie eine vertrocknete Zitrone, Haare – einst gewesen, besondere Merkmale – spinnenartig aristokratische Hände.« Daisy ließ ihrer spöttischen Laune freien Lauf.

Alle lachten. Nur Günter Berndt, der sich bisher angelegentlichst mit seinen Elfenbeinfiguren beschäftigt hatte, meinte neckend: »Ei, ei. Miß Daisy, so vielen scharfen Spott für das bräutliche Glück Ihrer Cousine. Wären Sie am Ende gern selbst an ihrer Stelle?«

Daisy schoß das Blut in die Wangen: »Ich – ich habe von diesem sogenannten Glück schon vom bloßen Ansehen genug.«

»Na – na,« machte Günter Berndt, ungläubig mit den Augen zwinkernd, »wie ist doch die Geschichte von dem Fuchs und den Weintrauben?«

Was fiel ihm denn ein – der dachte wohl am Ende gar, sie warte nur darauf – er brauche nur zu winken – o nein, diese Illusion wollte sie dem Herrn Doktor doch gründlich nehmen.

»Ich werde ja vermutlich nicht in die Verlegenheit kommen,« trotz allen Zusammennehmens klang Daisys Stimme erregt und gereizt, »ich habe es ja Gott sei Dank nicht nötig, auf den Herrn der Schöpfung zu warten. Ich habe ja meinen Beruf.«

Günter Berndt stellte die Königin, die er eben in der Hand hielt, geräuschvoll auf das Brett.

»Wenn Sie nur Ihrer Sache sicher sind, Miß Greeham,« es zuckte spöttisch um seine Lippen, »es ist schon mal ein Nachtwächter am Tage gestorben, und es soll einen kleinen geflügelten Gott geben, der selbst vor einem mit Mathematik und Latein umpanzerten Mädchenherzen nicht halt macht.«

»Da sind Sie doch vollständig im Irrtum, Herr Doktor. Ein ›studiertes Mädel‹ wie ich, liebt nicht so leicht. Dem ist der Mann nur guter Kamerad, Berufsgenosse. An ein Mädchen mit dem Seziermesser in der Hand wagt sich nicht einmal Gott Amor.«

So – nun hatte sie es ihm mit seinen eigenen Worten gesagt; was so lange in ihr gewühlt, hatte endlich die niederdämmenden Fesseln gesprengt.

Günter Berndt fuhr sich mit der Hand über die Stirn – diese Worte – wo hatte er sie nur schon einmal gehört? Keine Ahnung dämmerte in ihm auf, daß Daisy ihn soeben mit seinen eigenen Waffen geschlagen, daß sie seine Unterhaltung mit Richard damals belauscht hatte.

Er fühlte sich durch ihre Worte bis ins Innerste zurückgestoßen und verletzt. Ahnte er es wirklich nicht, welche Qual ihr diese kühlklingenden Worte bereiteten?

»Sie haben recht, Miß Greeham, ich bin ganz Ihrer Meinung,« sagte er nach sekundenlangem Schweigen mit erzwungener Ruhe, »ein studiertes Mädel, das trockene Wissenschaft in sich aufspeichert, tut dieses wohl auf Kosten ihres Gefühlslebens. Ihr Beruf wird sie stets in Zwiespalt bringen mit ihren Empfindungen als Weib. Wie will sie ihre Pflichten als Gattin und Mutter mit den Anforderungen des Berufes in Einklang bringen? Eins muß dabei zu kurz kommen.«

Daisy war bleich geworden. Hilde aber rief ein empörtes »Oho!« dazwischen, und selbst Max ließ ein »Na, erlaube mal gütigst!« vernehmen.

»Oho,« rief Hilde noch einmal mit verstärkter Stimme, »da sind Sie doch gehörig auf dem Holzwege, Günter! Ich hätte nicht gedacht, daß es im zwanzigsten Jahrhundert noch Menschen mit so vorsündflutlichen Ansichten gäbe. Machen Sie doch gefälligst die Augen auf. Sie werden überall finden, daß die gebildete, kenntnisreiche Frau, die ihre Kräfte schon im Kampf ums Dasein erprobt hat, dem Gatten nicht nur eine Puppe, sondern die einsichtige, verständige Gefährtin ist, der treueste Kamerad in jeder Lebenslage.«

Hilde schwieg plötzlich verlegen. Sie fühlte aller Blicke auf sich gerichtet. Wozu hatte sie die Gedanken auch preisgegeben, die Doktor Werner neulich in ihr angeregt, und die sie seitdem innerlich weitergesponnen hatte.

»Mädel, du redest ja wie ein Buch,« sagte die Mutter, ihrer Hilde liebevoll die heißen Backen streichelnd, »aber wahr ist's, unser Freund Günter ist diesmal ungerecht.«

»Er ist und bleibt ein alter Krakehler und kann keinen Frieden halten,« ulkte Max, »früher hat er sich stets und ständig mit der Hilde gekabbelt, und seitdem diese die Friedenspalme schwingt, kriegt die arme Daisy ihr Teil. Lassen Sie den Brummbär doch laufen, Daisy.«

In Daisys Gesicht zuckte es. Es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte sie losgeheult.

»Komm, Daisy, wir wollen das Abendbrot zurechtmachen, das Mädchen ist ausgegangen,« Hilde zog die Freundin mit sich fort, »dann hat Günter Berndt doch gleich Gelegenheit, einzusehen, daß auch ›studierte Mädel‹ Rühreier zu bereiten verstehen.«

Daisy blieb schweigsam, sie konnte ihrer trübseligen Stimmung nicht Herr werden. Heute wußte sie nun ganz genau, was er von ihr dachte, daß ihm alles nur ein Spiel gewesen. Zu dürren, unbarmherzigen Worten hatte er ihr seine wahre Meinung enthüllt.

Das gab ein förmlich gezwungenes Gespräch, später auf dem Heimweg. Jeder der beiden bemühte sich, gleichgültig und sachlich zu reden, und jeder dachte im geheimen an den Nachhauseweg vor der indischen Seereise – wie anders war der gewesen! –

Sie grüßten sich fortan, wenn sie sich auf der Straße trafen, sie sprachen auch miteinander, und sie vermieden es nicht, bei Dahlens zusammenzutreffen.

Aber die zarten, sich von Herz zu Herzen schlingenden Fäden, die sich zwischen ihnen gesponnen, hatten Mißverständnisse und gedemütigter Stolz arg verknotet und verwirrt. Keiner von ihnen fand das rechte Wort, um sanft und geduldig die zum Zerreißen gespannten Fäden zu entknüpfen und zu glätten.

Günter Berndt machte in Gedanken einen dicken Strich unter den Namen »Daisy«; und Daisy wandte nicht mehr den Kopf nach jedem braunen Hut. Ihre Gedanken konzentrierten sich nach und nach nur wieder auf ihre Arbeit. Aber Kämpfe kostete es, dieses Vergessenwollen, mancher Tropfen Herzblut blieb daran hängen. –

Man rüstete im Stavenschen Hause zu Fränzes Hochzeit. Daisy kam oft erst abends nach neun Uhr, wenn die ganze unruhige Gesellschaft ausgeflogen war, zum gesammelten Arbeiten. Stammten daher ihre bleichen Wangen, die müden, glanzlosen Augen?

Erschreckt hielt Günter Berndt, als er sie einige Wochen nach dem letzten Zusammensein mit ihrem Mäppchen traf, im Gruß inne. Wie elend das Mädel aussah! Er hatte es ja gleich gewußt, sie war viel zu zart für die Anstrengungen des Studiums. Schon wollte er stehen bleiben, doch sich besinnend setzte er kalt grüßend seinen Weg fort.

Und Daisy wandte sich kein einziges Mal um.

Zu Ostern wurden Daisy und Hilde in die Oberprima versetzt. Das letzte Jahr vor dem Abiturium – es stellte große Anforderungen an die jungen Gymnasiastinnen. Trotzdem hatte Hildes Mutter gemeint, daß ihre Tochter jetzt keine Privatstunden in Mathematik mehr brauche. Sie mußte nun so weit sein, um selbständig arbeiten zu können. Für das Stundenhonorar konnte man schon das Examenskleid anschaffen.

Als Hilde das letzte Mal vor Ostern das Vorstadthäuschen, in dem Doktor Werner mit seiner Mutter wohnte, aufsuchte, waren ihre Gedanken recht jämmerlich.

Nun hatten die schönen Sonntagvormittage ein Ende.

»Kindchen, Sie sind ja so ruhig, wo fehlt's denn, darf es Ihre alte Freundin nicht wissen?« fragte Frau Werner, prüfend in das trübselige Mädchengesicht blickend.

»Ich bin heute zum letzten Male hier,« sagte Hilde mit Grabesstimme.

»Nanu,« die alte Dame erschrak wirklich, »wollen Sie der Heimat Lebewohl sagen?«

Hilde schüttelte stumm den Kopf. Die Tränen stiegen ihr verräterisch in die braunen Augen.

»Ich – ich soll – ich darf keine Mathematikstunden mehr haben,« stieß sie hervor.

Die kluge Frau Werner verstand auch das Ungesagte.

»Sie besuchen mich weiter fleißig,« tröstete sie mit seinem Lächeln, »ich kann ja ordentlich stolz darauf sein, daß Ihnen die Trennung von mir so schwer fällt.«

Eine Glutwelle jagte Hilde über das Gesicht.

»Ach, da blühen ja schon die ersten Schneeglöckchen im Garten,« versuchte sie ablenkend dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.

Und dann saß sie wie sonst Doktor Werner gegenüber in dem schmucklos ernsten Studierzimmer, und in klaren Worten machte er ihr geduldig immer und immer wieder die jetzt schwieriger werdenden Aufgaben verständlich. Er hatte bisher niemals mehr über Hildes Unaufmerksamkeit zu klagen gehabt. Sie gab sich grenzenlose Mühe, ihm zu folgen. Aber heute sah er ihre Blicke unruhig im Zimmer umherschweifen und dann wieder abwesend an seinem Antlitz haften – was hatte denn die Hilde?

Unvermittelt machte er eine Pause in seiner Erklärung und sah sie fragend an.

Hilde schrak aus ihrer Versunkenheit empor. Antwort heischend ruhte sein Blick auf ihr.

»Ich habe – heute die letzte Privatstunde, Herr Doktor,« begann sie stockend.

»Nanu – sind Sie schon zu klug?« fragte er lächelnd.

Hilde war nicht zum Scherzen zumute.

»Mama meint,« fuhr sie auf ihre Zahlen niederstarrend fort, »wenn ich jetzt in die Oberprima gehe, genüge der Mathematikunterricht dort für mich; was die anderen können, müsse ich auch leisten, oder ich sei überhaupt zu vernagelt zum Studieren.«

Doktor Werners Mundwinkel zuckten belustigt.

»Ich bin auch der Ansicht Ihrer Frau Mutter, daß Sie mit den Stunden am Gymnasium nun auskommen werden.«

Hilde malte mechanisch Kreise in ihr Heft – so wenig lag ihm an den Sonntagvormittagen!

Gerhard Werner weidete sich einige Sekunden heimlich an ihren trotzig traurigen Mienen.

»Aber mein Mutterchen soll doch nicht darunter leiden, die sich die ganze Woche lang auf Ihre Gesellschaft freut, nicht wahr, Fräulein Hilde? Ich will Ihnen einen Vorschlag machen: Unterricht nehmen Sie nicht mehr, aber Sie kommen nach wie vor am Sonntag zu uns heraus. Sie besuchen meine Mutter, und dann rechnen wir die Exempel, die Ihnen in der Woche unklar geblieben sind, noch einmal zusammen durch. Einverstanden?« Er streckte ihr herzlich seine Hand über den Tisch entgegen.

Aber Hilde schlug nicht freudestrahlend ein, wie er erwartet hatte. Peinlich verlegen saß sie da, Schamröte schlug ihr ins Gesicht.

Er hatte den Grund ihrer Mutter durchschaut und wollte ihr Stunden geben ohne Honorar, dieser Gedanke demütigte die stolze Hilde tief.

Doktor Werner wußte nicht, was er von ihrem Schweigen denken sollte.

»Gefällt Ihnen mein Vorschlag denn nicht?« fragte er erstaunt.

»Nein – nein,« stieß Hilde erregt hervor, »umsonst nehme ich keine Stunden. Schenken lasse ich mir nichts,« sie zerknitterte das Löschblatt zwischen den Fingern.

Ohne aufzublicken, fühlte sie seinen ernsten Blick.

»So kleinlich – sind Sie wirklich so lächerlich kleindenkend, daß Sie mir die Freude, Ihnen Unterricht geben zu können, bezahlen wollen, Hilde?« wieder kam seine Hand über den Tisch.

Ein kurzes Zögern noch – ein scheuer Blick in sein vorwurfsvolles Gesicht, und dann lag Hildes Hand fest in der seinen – sie hatte sich wieder einmal besiegt!

So fuhr sie auch nach Ostern regelmäßig zu dem syringenumbuschten weißen Häuschen hinaus. – – –

Aus Frühling wurde Sommer, und Fränzes Hochzeit stand vor der Tür. Frau von Staven kannte ihrer Tochter gegenüber kein ängstliches Sparen, Fränze bekam eine fürstliche Ausstattung, denn das war sie dem vornehmen Schwiegersohn doch schuldig. Wie eine Königin sollte ihre Fränze auf dem herrlichen Rittergut in Ostpreußen einziehen. Freilich, daß sie ihr Kind fortgeben mußte, war bitter, denn die einzige weiche Regung in dem harten Herzen der Tante Malwine gehörte Fränze. Aber sie sonnte sich in dem Glück und dem Glanz ihrer Tochter, allerdings in dem Glanz mehr als in dem Glück.

Von Glück war auch eigentlich nicht viel bei dem sonderbaren Brautpaar zu merken. Manfred von Hülsen blieb vornehm kühl und zurückhaltend in seinen Empfindungen wie im Anfang, und Fränze dachte, so wäre es vornehm. Dummstolz meinte sie zu der sich stets aufs neue wundernden Daisy: »In vornehmen Kreisen ist das nun mal so.«

Daisy war der Bräutigam von Fränze unsympathisch. Sein Blick hatte etwas Verstecktes, er sah keinem Menschen gerade ins Auge. Sie konnte ein leises Mißtrauen gegen ihn nicht unterdrücken.

Und sie sollte sich nicht getäuscht haben.

Drei Tage vor der Hochzeit ließ sich der Schwiegersohn, noch etwas fahler als sonst aussehend, frühmorgens bei Onkel Wilhelm melden.

»Papa, du mußt die Güte haben, mir sofort siebzigtausend Mark vorzustrecken, bekomme eben die Nachricht, daß mein Inspektor mir mit dieser Summe durchgebrannt ist. Habe heute wichtige Zahlungen zu leisten und kann meine Gelder nicht so schnell flüssig machen,« er sprach ruhig und wie immer von oben herab.

Onkel Wilhelm zog die Augenbrauen empor, kraute sich bedenklich den sich lichtenden Hinterkopf und sah höchst unglücklich aus. Hilflos sah er den imponierenden Schwiegersohn an.

»Wieviel?« fragte er, seinen Ohren nicht trauend.

»Siebzigtausend – eine Bagatelle für dich – Schuldschein ist wohl zwischen uns nicht nötig.« Manfreds Augen irrten unstet umher.

Es lag etwas Verstörtes über dem graubleichen Gesicht, das den sonst so leichtgläubigen Onkel Wilhelm stutzig machte.

»Ich habe mein Scheckbuch im andern Zimmer, bitte, warte einen Augenblick,« sagte er bedächtig. Er war gewöhnt, nichts ohne seine Frau zu tun.

»Bist du denn nicht gescheit, Wilhelm?« rief Frau von Staven empört in nicht sehr aristokratischem Tone, als ihr Gatte ihr seine Bedenken mitteilte. »Einem Kavalier wie Hülsen von altem Adel vertraue ich ungezählte Millionen an.«

»Aber ich habe mich doch nicht einmal nach ihm erkundigen dürfen,« wagte Onkel Wilhelm noch schüchtern einzuwenden.

»Ist auch gar nicht nötig, verlaß du dich nur auf den Scharfblick deiner Frau.«

Gehorsam füllte Onkel Wilhelm dem Schwiegersohn den verlangten Scheck aus, und ganz nachlässig, ohne mit der Wimper zu zucken, ließ Manfred von Hülsen ihn in seiner Brieftasche verschwinden.

Mit einem »Auf Wiedersehen!« war er zur Türe hinaus.

Die Familie von Staven sollte lange auf dieses Wiedersehen warten.

Am Abend desselben Tages schritt Fränze ungeduldig in hellem Theaterkleide in den Zimmern auf und nieder. Solche Unpünktlichkeit war sie von ihrem Bräutigam nicht gewöhnt. Über dem Sofa lag das bräutliche Seidenkleid in seiner weißschimmernden Pracht ausgebreitet. In drei Tagen zog sie als Frau von Hülsen auf der schloßartigen Besitzung Manfreds, von der ihr dieser erzählt hatte, ein. Die stolze Genugtuung, die Fränze erfüllte, schwand, je weiter der Zeiger der Uhr vorrückte – wo blieb er denn nur?

Verschiedentlich hatte es schon geläutet, aber jedesmal kamen Herren, die zum Vater verlangten.

Der hatte augenblicklich in seinem Zimmer eine heftige Auseinandersetzung mit den Besuchern, die ihm auf seinen Namen lautende Wechsel in schwindelnder Höhe präsentierten, Ehrenschulden, die sein Schwiegersohn beim Spiel gemacht hatte.

Manfred von Hülsen war ein elender Betrüger, der gerade mit den siebzigtausend Mark das Schiff nach Südamerika bestieg, als seine Braut unruhig auf ihn harrte und ihr Vater der Polizei Anzeige erstattete.

Das war ein harter Schlag. Die Tante war wie vom Donner gerührt, Fränze bekam Weinkrämpfe, und Onkel Wilhelm stöhnte: »Hätte ich ihm nur nicht noch das viele Geld gegeben, ich wollte es nicht, du bist schuld daran,« und Tante Malwine schwieg zum ersten Male in ihrem Leben. Ihr Stolz war mit Füßen getreten. Sie schämte sich vor den vornehmen Bekannten ihrer beschränkten Kurzsichtigkeit, daß sie sich so leicht von einem Schwindler hatte blenden lassen. An das Glück ihrer Tochter dachte sie erst in zweiter Reihe.

Fränze tobte, ihre ganze Charakterlosigkeit kam zum Ausbruch, und die arme Daisy hatte am meisten auszubaden.

Das glänzende Hochzeitskleid und die elegante Aussteuer verschwanden von der Bildfläche. Fränzes Hochmut hatte einen Denkzettel für das ganze Leben erhalten.

Daisys gutes Herz zeigte sich auch hier wieder. Sie nahm alle Gereiztheit der Cousine schweigend in den Kauf und versuchte ihr ihre peinliche Lage möglichst zu erleichtern.

Hilde aber meinte aufrichtig: »Ich bin nicht schlecht genug, um mich über die Niederlage der hochnäsigen Gesellschaft zu freuen. Aber das eine steht fest: verdient hat die Fränze ihr Schicksal schon um deinetwillen, Daisy. Es gibt doch noch eine ausgleichende Gerechtigkeit auf Erden!«


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