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Tränen trocknen schnell, besonders wenn man knapp siebzehn Jahre alt ist und die Welt einem trotz Herbststürme und Novembernebel in eitel Sonnenschein entgegenlacht. Einige Zeit nach dem mit einem Mißakkord abschließenden Ausfluge ging Hilde noch verstimmt und gedrückt einher, bis Papa schließlich sein Mädel eines Tages energisch am Schlafittchen nahm.
»Weltschmerz, Hilde – das ist mir an dir ja neu. Auch Mama klagt über dein muffiges Wesen; Richard will sich deiner groben Antworten wegen überhaupt nicht mehr mit dir einlassen, und Max, der dumme Junge, behauptet gar, du seiest verliebt – er kenne so was aus Erfahrung, ha – ha – ha – so 'n Dreikäsehoch wie du!«
Hilde verbarg wie stets, wenn sie irgend etwas auf dem Kerbholz hatte, das Gesicht an Vaters Brust.
»Kopf hoch, Kleine, und nun mal flink gebeichtet – drin warten schon Patienten – wo hapert's denn, was?« Hilde preßte nur umso fester die heißen Wangen an das im letzten Jahr so sehr grau gewordene Haupt des geliebten Vaters.
»Hat mein Mädel kein Vertrauen mehr zu mir?« Die langen gesenkten Wimpern hoben sich, mit feuchtschimmerndem Blick schaute Hilde dem Vater in die fragenden Augen.
»Vaterchen – es ist nichts – wirklich,« stotterte sie verlegen, »ich – ich habe mich bloß über einen Lehrer geärgert – neulich auf der Landpartie – aber es lohnt wirklich nicht, überhaupt noch daran zu denken.«
»Siehst du, Hilde, Hab' ich es dir nicht gleich gesagt, für dich ist das Gymnasium nichts. In der Schule hat doch die Rüge eines Lehrers niemals solch nachhaltigen Eindruck auf dich gemacht. Tut dir wohl schon leid, daß ich's damals zugegeben habe – he?«
Hilde schüttelte den Kopf.
»Grillen fangen sollst du mir nicht, mein Mädel,« der nachsichtige Vater klopfte ihr zärtlich die etwas bleiche Wange, »ich will keine blasse, nervöse Tochter haben – soll ich dich noch zum Oktober abmelden?«
Der Atem stockte Hilde vor Schreck.
Fortgehen – für immer vom Gymnasium, fortgehen, ihn überhaupt nicht mehr sehen – nein, bloß das nicht!
»Ach wo, Vaterchen, ich finde es nach wie vor einfach ideal auf dem Gymnasium, und nun will ich mich über den – den – eingebildeten« – die Zunge wollte ihr nicht recht gehorchen – »über den eingebildeten Menschen auch nicht weiter aufregen. Und wenn er mich noch so sehr anrüffelt, ich pfeife drauf!«
Trotzdem Hilde recht wenig ehrerbietig von einem Lehrer gesprochen, ließ der Vater es diesmal durchgehen; war er doch froh, wieder den alten frischen Ton bei seinem Nesthäkchen zu vernehmen.
Viel Gelegenheit hatte Hilde aber nicht, auf Doktor Werners Worte zu pfeifen, denn er sprach nach wie vor überhaupt nur das Allernotwendigste mit ihr.
Als Tag für Tag verging, ohne daß sie sich ihres ungehörigen Betragens halber bei ihm entschuldigte, wurde er merklich kälter gegen sie und redete sie nur noch innerhalb der Stunde in knappen Worten an.
Es reizte ihn, den Trotz dieses liebreizenden jungen Mädchens zu brechen.
Vorläufig aber schlug die bittere Medizin, die Doktor Werner Hilde reichte, nicht recht an. Sie hätte sich lieber zerhacken lassen, als den Mitschülerinnen das Schauspiel einer Abbitte zu bereiten, nein – zum zweiten Male ging sie nicht nach Kanossa. Für seine Stunden allerdings arbeitete sie mit einer Daisy geradezu verblüffenden Energie. Sie wollte ihm den Triumph nicht gönnen, über ihre Dummheit zu lächeln. So hatte Hildes eigenwillige Verstocktheit doch etwas Gutes; sie war zwar noch immer kein Lumen in Mathematik, aber sie erreichte doch den Durchschnitt.
Freilich im Anfang, als er sie nie mehr in der Zwischenstunde ansprach, als er sie auf der Straße steif und kühl grüßte und fremd an ihr vorüberschritt, da waren ihr die Tränen oft recht nahe gewesen. Aber nachdem man sich zu Hause über ihr verändertes Wesen gewundert, hatte sie mit Gewalt jene Augenblicke, wo er sie früher so lieb angeschaut, aus ihrem Gedächtnis gebannt. Nur Abends, wenn sie im Bett lag, stellten sich nagende Reuegedanken ein, aber an Hildes Eigensinn zerschellten sie. Dann trat die Gewohnheit in ihre Rechte, sie nahm schließlich Doktor Werners kurze Art ihr gegenüber als selbstverständlich hin. Und als die lichten Sommerfäden in alle Winde zerflattert waren, und die ersten Schneeflocken vom grauen Himmel jagten, da war die Erinnerung an leuchtende, sonnige Tage, an denen sein Blick sie voll und warm umfaßt hatte, verflogen – nur trotziger Groll gegen ihn war zurückgeblieben. – – –
Heute hatte Hilde ihr strahlendstes Gesicht aufgesetzt. Bruder Max hatte sie und Daisy soeben feierlichst zu seinem am nächsten Abend stattfindenden Stiftungsfest in der Teutonia, wo er als Präside zum ersten Male den Vorsitz führen sollte, eingeladen. Hilde war sofort von ihren Büchern entwischt und spornstreichs zu Daisy geeilt, um sie in Maxens Namen aufzufordern. Jetzt stand sie im Schneegeriesel unten auf dem nassen Hof und lugte zu Daisys Fenster empor, denn hinauf traute sie sich seit der Geigenständergeschichte nicht mehr.
»Daisy – pst – Daisy!« Himmel, sie schrie sich ja die Kehle heiser. Da öffnete sich das Fenster – halt – jetzt zeigte sich ein Kopf hinter der Gardine – o weh – es war bloß Fränze.
»Schicke mir doch, bitte, Daisy herunter,« Hilde bequemte sich zu einem bittenden Ton.
Fränze lehnte gemütlich aus dem Fenster.
»Daisy hat zu tun, sie plättet Rollwäsche – fällt mir nicht ein, sie zu rufen!«
»Na, denn nicht,« sagte Hilde erbost und ging auf dem engen Hof auf und ab.
Fränze betrachtete Hilde mit interessierten Blicken, etwa wie ein Physiker einen Frosch betrachtet, mit dem er Versuche anstellen will.
»Du wirst dir bei dem greulichen Wetter einen Schnupfen holen,« höhnte sie aus dem Fenster, »soll ich dir einen Schirm herunterwerfen?«
Hilde gab keine Antwort – jetzt rächte sich Fränze für den ihr angetanen Schabernack. Sie hätte sie gern um diese Freude gebracht, aber die Einladung zum Kommers war doch zu wertvoll, um der dummen Fränze wegen den Rückzug anzutreten.
Wenn sie nur Daisys mal habhaft werden könnte!
Die Gardine oben am Fenster wehte im Luftzug, folglich war die Tür gegangen, kombinierte die schlaue Hilde.
»Daisy!« rief sie noch einmal auf gut Glück.
Und »Daisy!« echote Fränze spöttisch.
Da aber tauchte Daisys Blondkopf schon neben Fränzes dunklem Haar auf. »Ist es sehr eilig, Hilde?« fragte sie herab.
Hilde machte ein ungemein wichtiges Gesicht und nickte bedeutungsvoll.
Fränzes Neugier sollte auf die Folter gespannt werden.
» Only a moment, ich bin gleich fertig, tritt so lange in den Hausflur, darling, du bist ja ganz durchnäßt.«
Endlich kam Daisy.
»Daisy, wir gehen morgen zu Maxens Kommers, ein richtiger Kommers, Daisy, und er ist Präside, und ganz richtige Studenten im Wichs sind da, und eine Mimik steigt; ach, freust du dich nicht mächtig?«
»Ich« – meinte Daisy ruhig – »natürlich freue ich mich für dich!«
»Aber du doch auch, Daisy. Max hat dich extra noch durch mich einladen lassen, deshalb komme ich doch bloß, weißt du, wir wollten doch schon immer mal eine Studentenkneipe sehen. Max stellt uns alle Kommilitonen vor, seinen Leibfuchs kenne ich schon. Papa und Mama kommen auch mit, also wann holst du mich ab, Daisychen?«
»Ja – darling – ich möchte schon gern, aber ich muß doch erst die Tante fragen und dann – ich habe nichts anzuziehen.«
»Aber, Daisy, dein blaues Sonntagskleid, darin siehst du direkt süß aus, und nun lauf schnell, grüß' deine Tante, und der Kuckuck hole sie, wenn sie nicht ›ja‹ sagt.«
»Aber Hilde –« erschrocken sah sich Daisy um, ob auch nur keiner die unvorsichtigen Worte der Freundin vernommen. Dann flog sie die Treppe hinauf, um die ersehnte Erlaubnis zu erbitten.
»Na – was wollte denn Hilde?« erkundigte sich Fränze gleich eifrig, die sich neben der briefschreibenden Mutter auf einem Sessel herumrekelte.
»Tante, darf ich wohl morgen abend mit Hilde und ihren Eltern zum Kommers gehen – ja?«
Fränze beobachtete mit zusammengekniffenen Augen die Spannung in dem zarten Gesicht der Cousine.
»Meinetwegen,« brummte die Tante ohne aufzublicken.
Schon wollte Daisy glückselig zur Tür hinaus, als sich Fränze, das böse Prinzip für sie im Hause, emporrichtete.
»Morgen – nein, Mama, das geht doch nicht. Ihr seid doch morgen abend zur Skatpartie, ich kann doch unmöglich ganz allein hier bleiben. Aber daran denkt Daisy natürlich nicht, die lebt nur ihrem Vergnügen.«
Daisy betrachtete mit bitterem Lächeln die Schwielen in ihrer Hand, die das stundenlange Plätten erzeugt, und warf dann einen vergleichenden Blick auf die faulenzende Cousine.
Die Tante aber war jetzt in ihrem Fahrwasser. Sie ließ sich des weiteren über Daisys Egoismus im allgemeinen und im besondern aus, dann kam ein Kapitel über die zum Himmel schreiende Undankbarkeit der Nichte, und den Schluß ihrer langatmigen Rede bildeten die Worte: »Also du bleibst natürlich morgen zu Hause.«
Daisy wußte, daß jedes weitere Wort vergebens sei. Still schritt sie zur Tür, um der ungeduldig harrenden Hilde die Hiobsbotschaft zu melden.
»Du, Daisy,« hielt sie Fränze zurück, die für ihr Leben gern auch einmal einem Studentenfest beigewohnt hätte, »was schenkst du mir, wenn ich dich begleite?«
Daisy sah sie von oben bis unten an.
»Du – du bist ja gar nicht eingeladen.«
Fränze biß sich auf die Lippen.
»Pah – Max Dahlen, der grüne Junge, würde sich doch glücklich schätzen, wenn ich, Fräulein von Staven, seinem Kommers beiwohnen würde.« Hochmütige Beschränktheit malte sich in dem wenig anziehenden Gesicht der Cousine.
»Ich habe keine Vollmacht dazu, dich mitzubringen,« damit schnitt Daisy jede weitere Erörterung ab.
Hilde tobte – sie schimpfte so ungeniert auf die mißgünstige Fränze, daß Daisy ihr voller Angst den Mund zuhielt.
»Aber du sollst nicht darunter leiden, Daisychen, bring' ruhig das eingebildete Balg, die Fränze, mit. Max wird es schon recht sein. Wir kümmern uns einfach gar nicht um sie – um deinetwillen nehme ich selbst Fränze mit in den Kauf, also um neun Uhr vor unserer Tür.«
Daisy begleitete die Freundin bis vors Haus, sie schluckte und schluckte, die Worte wollten ihr nicht über die Lippen.
»Du, Hilde,« – Kunstpause – »heute hatte ich eine Ansichtskarte aus Kalkutta,« eine ganz zerknüllte und zerlesene Karte kam zum Vorschein.
»Von Günter Berndt,« fragte Hilde gleichgültig, »was schreibt er denn?« sie überflog die geraden Schriftzüge.
»Verehrtes Fräulein,« – so anständig schreibt er an mich nie – »gestatten Sie mir, Ihnen meine ergebensten Grüße zu senden – er soll sich nur kein Bein ausreißen vor lauter Höflichkeit,« mokierte sich Hilde.
»Gib her,« hastig riß Daisy der erstaunten Hilde die Karte, die sie seit morgens früh zu ungezählten Malen gelesen, aus der Hand – solche elementare Heftigkeit war was Seltenes an der sanften Daisy.
»Erlaube – meine Taube, immer pianissimo,« lachte Hilde und lief mit einem schnellen Abschiedskuß in das Schneewetter hinaus. –
In dem großen, von schimmerndem Lichtmeer durchfluteten Festsaal der Schlaraffia erscholl die getragene Weise des alten Studentenliedes »O alte Burschenherrlichkeit« aus Hunderten von jungen Kehlen, und manch altes Auge feuchtete sich, als der liebe, wohlbekannte Klang wieder an das Ohr schlug. Auch Doktor Dahlen, eines der ältesten Semester, fuhr sich mit der Hand über die blinkenden Augen; wie lange war es her, daß er als junger, frischer Bursch gleich der ihn umgebenden Jugend jenes Lied froh in die Welt geschmettert hatte, ohne das Wehmütige, Vergehende darin zu empfinden. Und heute saß er hier unter der fröhlich ins Leben stürmenden Schar als ein gealterter Mann! Aber dort oben der hübsche flotte Junge in Schwarz, Grün, Rot, der das Zerevis so keck auf das braune Kraushaar gedrückt hatte, und jetzt, feurig mit dem Rapier auf den Tisch schlagend, mit Stentorstimme rief: »Silentium – der zweite Vers steigt« – der Mordsbengel – das war seiner, sein Max war's. Jungem Nachwuchs mußte das alte Reis Platz machen, aber man tat's gern! Stolz blickte Doktor Dahlen auf seine beiden stattlichen Söhne, und dann wanderte sein Auge zu der erhöhten kleinen Loge, wo ein blühendes junges Ding mit blitzenden Augen sich weit über die Brüstung lehnte, um auch nicht das geringste von dem sie umwogenden bunten Studententreiben zu verlieren.
Bildhübsch sah die Hilde mit den heißen, erregten Wangen und den leuchtenden Braunaugen heute aus. Manch bewundernder Blick aus begeisterten jungen Augen flog zu ihr und Daisy herüber, das machte ihr einen riesigen Spaß. Fränze aber, die in einem grellroten Kleide das harmonische Bild der anmutigen jungen Mädchen nur störte, quittierte mit kokettem Lächeln für jede Huldigung, die doch ihr ganz und gar nicht galt.
»Donnerwetter, Faß,« – das war Maxens Kneipname – »ist das ein allerliebster Käfer, deine Schwester, und die hast du uns bisher vorenthalten?« von allen Seiten wurde der junge Präside bestürmt, um dem reizenden Schwesterlein vorgestellt zu werden.
Hilde war durchaus nicht gefallsüchtig, aber mit kindlichem Stolz freute sie sich ihrer ersten Triumphe, und dann Fränze – ja, die platzte fast vor Neid. Hilde trank Bier wie ein Student, sie rieb jeden Salamander mit, ohne nachzuklappen, ließ spinnen, in die Kanne steigen, und kommandierte keck: »Rest weg!«
Daisy dagegen sah scheu in das laute Treiben, ihr war alles neu und fremd. Wie die jungen Leute die vollen Biergläser hinunterstürzten, wie sie mit ihren Bierstimmen das schöne Lied »Die Lindenwirtin« verhunzten, und das wüste Lachen und Rufen, dabei war doch noch nicht einmal die Fidelitas. Max war ein schneidiger Präside, mit dröhnender Stimme begrüßte er die verschiedenen befreundeten Verbindungen, und nun antworteten die betreffenden Abgeordneten, lauter junge Kerlchen in bunter Couleur, mit schnarrender Stimme fast immer dasselbe. Den Schluß bildete stets ein urkräftiger Salamander auf das Wohl und Gedeihen der Teutonia: Vivat crescat floreat!
Hilde fand die Reden ziemlich mopsig, die lieben A.H., die soeben gefeiert wurden, interessierten sie wenig, obwohl unter den »alten Herren« meist jugendlich frische Gesichter waren. Auch die Begrüßung der Ehrengäste, die an einer querstehenden Tafel thronten, ließ sie kalt. Erst als Max zu ihr trat und ihr die berühmten Universitätsprofessoren, die sich dort versammelt, nannte und zeigte, wurde sie aufmerksam.
Da – sie lehnte sich weit über das Geländer – eine merkwürdige Ähnlichkeit – die hohe Gestalt, das helle Haar und die leuchtenden Augen – nein, so strahlend tiefblaue Augen hatte nur einer – er mußte es sein!
»Wie heißt denn der dort, der Blonde?« fragte sie Max möglichst unbefangen.
»Das – ach der – das ist ja Werner, Mathematiker, zwar erst Privatdozent, aber er hat den Professorenstuhl schon so gut wie in der Tasche, ein tüchtiger Kerl ist das!«
Daisy wurde aufmerksam.
»Werner – Hilde – sieh nur, da sitzt doch wahr und wahrhaftig unser Werner! Max, das ist ja unser Mathematiklehrer, wie kommt denn der bloß hierher?«
»Jahrelanges Ehrenmitglied unserer Teutonia – aber Hilde, davon hast du mir doch nie einen Ton gesagt, daß euer Werner ein junger Privatdozent ist. Habe mir da immer solchen alten verknöcherten Gelehrten gedacht, na, da muß ich mich ihm doch gleich mal als dein Bruder vorstellen.«
Und fort war er.
»Wir sind ja verknurrt,« wollte Hilde ihm noch nachrufen, aber Max segelte schon sicher durch das Gewühl auf den Honoratiorentisch zu.
Mit gespannter Aufmerksamkeit sah Hilde, wie interessiert Doktor Werner dem jungen Präsiden zuhörte, dann eine verbindliche Verbeugung, ein rascher Blick in die Damenlogen. Doktor Werner verneigte sich zum zweiten Mal in der Richtung der Tribünen und leerte dann sein Glas mit irgend einem Scherz. Denn Hilde sah Max herzlich lachen.
Sinnend blickte er in das dünne Faßbier. Er hatte die Verpflichtung, wo sich Hildes Bruder ihm vorgestellt hatte, die jungen Damen zu begrüßen. Aber es stimmte nicht zu der steifen Zurückhaltung, die er sich dem Trotzkopf gegenüber zur Pflicht gemacht hatte. So blieb er zurückgelehnt auf seinem Stuhl sitzen und vermied es möglichst, die kleine Damenloge gegenüber allzuoft mit dem Auge zu streifen. Aber sein Blick suchte immer wieder – jeder festen Vornahme ungeachtet – jenen kleinen offenen Raum, aus dem rosige Mädchengesichter lugten. Er vermeinte Hildes melodisches frisches Lachen in dem Stimmengewirr und lauten Getöse zu unterscheiden. Doch nicht ihm galt dieses Lachen, das er so an ihr liebte, sondern einem halben Dutzend junger Füchse, die ihr mit faden Schmeicheleien das hübsche Köpfchen verdrehten. – Dazu war die Kleine doch wahrhaftig zu schade!
Der gelehrte Herr Privatdozent hätte höchst wahrscheinlich jeden ausgelacht, der ihm gesagt hätte, daß er auf jene jungen Milchbärte, die kaum flügge geworden, ganz einfach eifersüchtig sei. Nein, nur die Sorge um Hilde, deren offene Natürlichkeit nicht Einbuße erleiden sollte, trieb ihn zu der kleinen Loge, und schon stand er hinter den Stühlen der Damen.
Aber soweit blieb er doch seinen Erziehungsprinzipien treu, daß er sich zuerst an Daisy wandte und die aufhorchende Hilde vorläufig gar nicht beachtete.
»Sie machen wohl Vorstudien, Miß Greeham,« lachte er humorvoll, »ja das Kommersieren will auch gelernt sein. Na, ganz so arg wie unsere jungen Füchse hier werden Sie's ja wohl nicht treiben.« Er machte eine Bewegung nach Hildes Verehrern hin, dabei mußte er diese selbst begrüßen. Es geschah durch eine zeremonielle Verbeugung. Hilde biß sich auf die Lippen, heißer Groll flutete in ihr empor. Wie herzlich er eben Daisy die Hand geschüttelt hatte! Auch nicht das förmlichste Wort hatte er zur Begrüßung für sie, nur ihren Eltern stellte er sich mit weltmännischer Sicherheit vor.
»Na, nehmen Sie meine Krabbe auch ordentlich kurz, lieber Herr Doktor,« scherzte der Vater in jovialster Stimmung. »Sie macht Ihnen wohl genug zu schaffen, was?«
»Oh, nein, Herr Doktor, ich bin bis jetzt noch mit jedem fertig geworden.« Wie unerträglich hochmütig seine Worte klangen! Ja, ganz bestimmt, sie haßte diesen blonden Mann. Da waren die jungen Studenten doch ganz anders. Mit denen konnte man sich doch wenigstens amüsieren, und das wollte sie tun – nun gerade – ihm zum Trotz!
Hildes glänzende Augen lachten jeden einzelnen so schelmisch und freundlich an, daß Doktor Werner den weitschweifigen Auseinandersetzungen Doktor Dahlens über die Studenten von einst und jetzt nur mit geteilter Aufmerksamkeit folgen konnte. Er verwünschte den ganzen Kommers. Die Hilde hatte ja wirklich Anlage zur Koketterie!
»Sonderbar,« – dachte Hilde inzwischen, »daß mir die langweilige Süßholzraspelei der Studenten mit einem Male gar keinen Spaß mehr macht. Nur um Doktor Werner zu ärgern, amüsiere ich mich mit ihnen – oh, wie ich ihn hasse, wie ich ihn hasse!« Und das gekränkte Selbstbewußtsein trieb sie zu immer lebhafteren Neckereien mit den eifrig um sie bemühten jungen Leuten. Daisy verhielt sich passiv. Nur ab und zu griff sie in ihr Täschchen und faßte nach einer leise knisternden Karte. Und dann summten ihre Lippen ein Lied – es war aber kein Kneiplied, sondern jene Weise, an die einer fern der Heimat denken wollte.
Die Mimik stieg, man hatte den Damen Plätze hinter dem Tisch der Ehrengäste eingeräumt. Ein tückischer Zufall wollte es, daß Hilde ihren Platz gerade Doktor Werner gegenüber erhielt. Der nahm aber herzlich wenig Notiz von ihr, sondern drehte ihr ziemlich ostentativ den Rücken. Es war doch schauderhaft, daß »dieser Mensch« mit seinem unhöflichen Verhalten ihr den schönen Abend so verderben mußte!
Die ulkige Biermimik aber, in der Max eine Damenrolle gab, riß sie bald mit fort; sie lachte so von innen heraus und so ansteckend über den tollen Unsinn, daß Doktor Werner sein strenges Gesicht fallen ließ und seinen Stuhl mit einem Ruck ihr zudrehte.
Das Semesterreiben mußte Doktor Dahlen, der sich ordentlich wieder jung fühlte und die Mattigkeit und Schwere, die ihn jetzt häufig quälte, ganz vergessen hatte, noch abwarten, dann verließ er mit seinen Damen ohne Aufsehen das Fest, bevor die Fidelitas einsetzte.
Draußen in der Garderobe trafen sie mit Doktor Werner, der den heimlichen Aufbruch beobachtet hatte, zusammen.
»Nanu, fahnenflüchtig, Herr Doktor? – solch junger Mann wie Sie darf doch noch nicht Schluß machen,« meinte Doktor Dahlen erstaunt.
Doktor Werner griff nach seinen Sachen.
»Ich habe morgen noch etwas mehr vor als Frühschoppen, Katerfrühstück und Exbummel; ich muß ein wichtiges Kolleg lesen und kann keinen Brummschädel dazu gebrauchen,« damit schloß er sich Dahlen an.
Daisy ging mit der Mutter voraus. Doktor Dahlen bemühte sich vergebens, gegen Fränzes eingebildeten Sparren mit seiner drastischen Offenheit anzukämpfen, wohl oder übel mußte Hilde an Doktor Werners Seite bleiben. Sie empfand es als eine Tortur. Die Unterhaltung bei dem Nachtrab war recht einsilbig, keiner sprach, nur ab und zu blickte Gerhard Werner auf das reizende Köpfchen an seiner Seite herab.
Er atmete schnell – plötzlich blieb er stehen: »Sagen Sie mal, Fräulein Dahlen, soll das nun immer so zwischen uns bleiben?« fragte er halblaut.
»Ja« – wollte Hilde hochmütig rufen, aber statt dessen stand sie gleichfalls still und senkte wie ein kleines Schulmädel schuldbewußt den Kopf.
»Tut Ihnen Ihre damalige Handlungsweise denn gar nicht leid?« fragte er milderen Tons weiter.
Hilde wollte nicht unterliegen. Ein lautes »Nein« wollte sie ihm entgegenrufen. Schon warf sie den Kopf herrisch in den Nacken und hob feindselig die langbewimperten Augen. Der fahle Schein der Straßenlaterne fiel voll auf Doktor Werners Antlitz; ein warmes Leuchten lag in seinem Antwort heischenden Blick.
Da war's um Hildes trotzige Abwehr geschehen. Da stürzte das ganze künstlich erbaute Gebäude ihres Grolls zusammen. Eine kleine kalte Hand schmiegte sich plötzlich impulsiv in Doktor Werners herabhängende Rechte, und eine tränenerstickte Stimme flüsterte: »Ich habe es ja so bereut die ganze Zeit über – so sehr bereut – seien Sie doch wieder zu mir wie früher!«
Fest und warm umspannte die nervige Männerhand die zuckende Mädchenhand; seine Lippen öffneten sich zur leisen Entgegnung, da – wandte sich Doktor Dahlen, der das beschränkte Protzen Fränzes nicht mehr mit anhören konnte, plötzlich um.
Jäh glitten die große und die kleine Hand auseinander.
»Na, Herr Doktor, lesen Sie der Hilde in aller Nacht ein Privatissimum? – es tut bei dem Mädel auch not,« liebevoll zog der Vater Hildes Arm durch den seinen.
Der Abschied zwischen Hilde und Doktor Werner war zum Unterschied von der Begrüßung nichts weniger als zeremoniell. Doch keiner sah, wie fest und bedeutungsvoll er Hildes Hand in der seinen drückte, nur die Steinfaunen am Hausportal schienen das Gesicht mit breitem Grinsen so höhnisch zu verziehen, daß Hilde Doktor Werner schnell ihre Hand entzog.
Oben aber stand die quecksilberige Hilde still und sinnend noch lange an dem Fenster ihres Stübchens.
»Ich glaube – ich hasse ihn doch nicht!« flüsterte sie leise zum blinkenden Sternenhimmel empor.