Else Ury
Was das Sonntagskind erlauscht
Else Ury

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Das Pflegeschwesterchen

Auf der ganzen Welt war wohl kaum ein Kind so einsam und verlassen, wie die kleine Madelon in der großen, lauten Stadt Paris. Nur selten drang das Rasseln der Wagen, das lustige Gebimmel der elektrischen Bahnen und die Pfeifen- und Trommelmusik der vorüberziehenden Soldaten zu der Kleinen hinauf; still, ganz still war es meistens in dem großen Hause, in dem Madelon mit ihrer Mademoiselle, mit Antoinette, der Köchin, und Jean, dem alten, grauhaarigen Diener, hauste.

Madelons Mutter war schon viele, viele Jahre tot; die Kleine hatte sie gar nicht gekannt, und der Vater war das ganze Jahr über für sein Geschäft auf Reisen. Mit den großen Schiffen segelte er über das weite Meer, das man »Ozean« nennt, bis nach Amerika und Australien, und kehrte er endlich mal von seinen Weltreisen heim, dann brachte der gute Vater seinem stillen Töchterchen stets etwas mit, was ihr Freude machen sollte. Mal eine bunte, seltene Blume aus dem fernen Lande, einen fremdartigen Vogel oder bunte, schimmernde Steine.

Aber die kleine Madelon klatschte nicht vor Freude fröhlich in die Hände, wie andere Kinder; sie sprang nicht auf den lieben Vater zu und küßte ihn zärtlich, mit müdem Lächeln machte sie einen wohlerzogenen Knix und sagte leise: »Merci, cher Papa!« wie es sie Mademoiselle gelehrt.

Dann strich der Vater wohl traurig über Madelons schöne, schwarze Locken, sah ihr in das blasse Gesichtchen und seufzte vor sich hin: »Armes Kind, dir fehlt die Mutter!« – Und nach wenigen Tagen war er wieder fort und alles so still und ruhig in dem großen Hause wie zuvor. –

»Schicken Sie die Kleine in die Schule, daß sie mit anderen Kindern zusammenkommt,« hatte der alte Onkel Doktor, dem der Vater geklagt hatte, daß sein Töchterchen so blaß und ruhig sei, geraten.

Ein Freudenschimmer war über Madelons trauriges Gesicht gehuscht.

Aber der Papa hatte den Kopf geschüttelt; nein, sein verwöhntes Töchterchen sollte nicht in die Schule gehen, wo man nicht wußte, mit was für Kindern sie zusammen kam, und er nahm die Mademoiselle für sie ins Haus.

Mademoiselle war eine große, dünne Dame mit grauschwarzen Haaren und ernsten Augen. Sie lehrte die kleine Madelon lesen, schreiben und rechnen, die Füßchen auswärts setzen und zierlich mit Messer und Gabel essen. Auch ein Abendgebet lehrte Mademoiselle die Kleine; aber den lieben Gott so recht lieb haben, so voll kindlichem Vertrauen zu ihm aufblicken, das lernte die kleine Madelon nicht! –

An dem Hause war ein großer Garten, darin durfte die Kleine spielen; doch wenn sie mal ein wenig lauter war und den bunten Schmetterlingen nachsprang, dann hielt sich Mademoiselle, die an Kopfschmerz litt, die Ohren zu und sagte streng auf französisch: »Madelon, – das schickt sich nicht!« Und die Kleine kehrte beschämt zu ihren Büchern zurück.

Ja – ihre Bücher – ihre Märchenbücher – das war das Allerschönste, was die kleine Madelon auf der Welt kannte. Da vergaß sie, wie einsam und allein sie war, mit leuchtenden Augen und heißen Bäckchen las sie die herrlichen Märchen; da verschwand das hohe, eiserne Gitter, das Haus und Garten von der übrigen Welt trennte, da war Madelon ein glückseliges Kind mit all' den anderen Kindern ihres Märchenbuches, bis plötzlich Mademoiselles Stimme sie aus ihren Träumen riß: »Madelon, du mußt jetzt deine Fingerübungen auf dem Klavier machen!« –

Antoinette und Jean, das alte Ehepaar, das Madelons Vater die Wirtschaft führte, sahen voll Mitleid auf die freudlose, einsame Kindheit der kleinen Madelon; Antoinette kochte ihr die schönsten Speisen und die süßesten Kuchen, damit Mademoiselle Madelon doch auch eine Freude hätte. Und der greise Jean baute im Winter mit seinen zittrigen Händen den lustigsten Schneemann für die Kleine im Garten; aber kein Lächeln zeigte sich auf Madelons müdem Gesichtchen – ja, wenn sie selbst ihn hätte bauen dürfen, aber – das schickte sich ja nicht!

Im Sommer, wenn die Vöglein in den Büschen so lustig sangen, dann ging es noch, aber wenn der lange Winter kam, und Schnee und Eis drunten den Garten bedeckten, dann kam die Kleine kaum aus ihrer Kinderstube heraus.

Nur selten nahm sie Mademoiselle an die Hand und ging mit ihr durch die glänzenden Straßen von Paris, aber Madelon hatte Angst vor den vielen, vielen dahinhastenden Menschen und vor den lärmenden Wagen, und an den herrlichen Schaufenstern mit Spielzeug durfte sie nicht stehen bleiben.

Einmal waren sie über einen großen Kinderspielplatz gekommen, da tanzten viele Kinder gar lustig Ringelreigen; mit sehnsüchtigen Augen schaute das kleine, vornehm geputzte Mädchen den fremden Kindern zu – wie gern wäre es dabei gewesen!

Gegen Abend, wenn es dämmerte, dann hauchte Madelon ein Guckloch in die festzugefrorenen Fensterscheiben und preßte das Näschen gegen das kalte Fensterglas. Dort drüben in dem kleinen Häuschen brannte schon die Lampe, Madelon konnte das ganze Zimmer übersehen.

Da saß am Tisch die Mutter und flickte die Kinderkleidchen, und zwei blondhaarige, kleine Mädchen saßen neben ihr und schneiderten für ihre Puppen.

Ach – wie schön war das!

Ganz leise lösten sich die Tränen vor Madelons langen Wimpern – wenn sie doch auch eine Mutter hätte – oder doch wenigstens ein Schwesterlein! –

»Heut' ist der Vater zurückgekommen!« sagte Mademoiselle eines Tages zu Madelon, band ihr ein reines, weißes Schürzchen vor, bürsteten ihr die Locken und führte sie hinunter in den Speisesaal. Da saß der Vater beim Mittagessen.

Madelon eilte nicht freudestrahlend auf den lieben Vater zu, denn – das schickte sich ja nicht – sie küßte ihm artig die Hand und sagte: »Bon jour, cher Papa!«

Der Vater zog sein kleines Mädchen auf den Schoß: »Heute habe ich dir etwas mitgebracht, Madelon, womit du dich sicher sehr, sehr freuen wirst – rate, was es ist!«

Madelon riet allerlei, aber es stimmte nicht!

Da flüsterte ihr der Vater leise ins Ohr: »Ich habe dir ein Schwesterlein aus Amerika mitgebracht!«

»Vater,« rief Madelon jauchzend und warf zum erstenmal in ihrem Leben die Ärmchen ungestüm um des Vaters Hals, »lieber Vater – ach, wie schön – wie wunderschön – ich danke dir tausendmal!«

Tränen der Rührung traten dem Vater bei der ungewohnten Freude des kleinen Mädchens in die Augen – wie einsam und verlassen mußte sich sein Kind gefühlt haben!

»Wo ist sie, lieber Vater, und wie heißt sie?« fragte Madelon eifrig.

»Sie heißt Mary,« antwortete der Vater, »ihre Eltern sind beide vor kurzem an einem bösen Fieber gestorben; ihr Vater war mein bester Freund, und da die Kleine ganz allein dasteht, habe ich sie zu uns mit nach Paris gebracht. Geh' mal in das kleine Zimmer nebenan, Madelon!«

Neugierig öffnete Madelon die Tür zum Nebenzimmer; aber – sie schrie laut auf vor Schreck!

Ach – da saß ja eine alte Negerin mit kohlschwarzem Gesicht und wolligem, schwarzem Haar; aber auf dem Schoß hielt sie ein blondhaariges, kleines Mädchen von sieben Jahren, das trug schwarze Trauerkleider. Madelon traute sich nicht näher.

»Ja so,« lachte der Vater, »du fürchtest dich vor der alten Kitty, die tut dir nichts – das ist Marys liebe, alte Kinderfrau, geh', sag' dem Schwesterchen ›guten Tag!‹«

Zögernd trat Madelon näher, reichte dem fremden kleinen Mädchen die Hand und sagte: »Bon jour!«

Aber Mary verstand sie nicht, die konnte kein Französisch, sondern nur Englisch; scheu schaute sie Madelon aus ihren Blauaugen an. Da schlang Madelon die Arme um das neue Schwesterchen und küßte es herzlich und – das verstand die kleine Mary! Ein glückliches Lächeln verklärte ihr blasses Gesichtchen, zutraulich ergriff sie Madelons Hand, und die alte Kitty streichelte Madelons Locken, weil sie so gut mit ihrem Liebling war.

Jetzt begann eine herrliche Zeit für Madelon und ihr Pflegeschwesterchen; ein zweites Kinderbett wurde in die Kinderstube gestellt, und bald verstanden sich auch die kleinen Mädchen. Mary lernte Französisch und Madelon Englisch. Aber noch eins lernte Madelon von ihrem Schwesterchen, das unter Obhut einer zärtlichen Mutter groß geworden. Sie lernte den lieben Gott droben im Himmel lieb haben; Mary erzählte Madelon alles das Schöne vom lieben Gott, was ihr Mütterlein sie gelehrt, und Madelon dankte dem lieben Gott jeden Abend für ihr liebes Pflegeschwesterchen.

Statt der alten, strengen Mademoiselle wurde eine junge Erzieherin ins Haus genommen, die mit den Kindern lernte, spielte und scherzte, und wenn der Vater von seinen Reisen zurückkehrte, dann sprangen ihm seine beiden, rosigen Töchterchen jubelnd entgegen – ja, jetzt war es anders geworden – –



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