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»Bim – bim – bim« – so klangen die Kirchenglocken, als die schwarzen Männer kamen und das tote Mütterchen davontrugen. Nur ein kleines, sechsjähriges Mädchen ging bitterlich weinend hinter dem Sarge einher, sonst kein Mensch; ganz einsam und verlassen kniete Tausendschönchen, so hieß die Kleine, an dem frischen Grabe der Mutter nieder.
»Lieber Gott,« betete sie, »Mütterchen hat gesagt, du schaust auf alle deine Kinder herab und verläßt keins; hilf auch mir, ich will auch immer ein frommes, gutes Kind sein!«
Die Sonne ging zur Ruhe, die Vöglein in den Büschen schwiegen, und noch immer hockte das kleine Mädchen an dem braunen Erdhügel.
Ach – es wußte ja nicht, wohin es gehen sollte; es hatte kein Stübchen mehr zum Wohnen, kein Bettchen mehr zum Schlafen, alles hatte der hartherzige Wirt für die letzte, nicht bezahlte Miete einbehalten und das arme Tausendschönchen aus dem Stübchen, in dem es mit der lieben Mutter gewohnt, hinausgejagt.
Es war ein warmer Sommerabend; die Sterne funkelten und blitzten am Himmel droben, in dem jetzt ihr Mütterchen wohnte, tröstend blickten sie auf die Kleine herab. Da sprach Tausendschönchen leise ihr Abendgebet, legte sich in das weiche Gras neben der Mutter Grab und schlief sanft ein.
Als sie am anderen Morgen die Augen aufschlug, stand ein Mann vor ihr – es war der Totengräber.
»Was tust du hier, Kleine?« fragte er.
»Ich habe bei meinem Mütterchen geschlafen,« war die leise Antwort.
»Kind,« sprach der alte Mann gerührt und wischte sich mit der rauhen Hand eine Träne von der runzligen Wange, »geh doch heim, die Deinen werden sich um dich sorgen.«
»Ich bin nirgends daheim,« sagte Tausendschönchen traurig, »und ich hab' niemand auf der Welt, der sich um mich sorgt.«
»Hast du denn keinen Vater und keine Anverwandten, Kleine?«
Tausendschönchen schüttelte den Kopf mit dem hellbraunen Gelock.
»Nein,« sagte sie, »Vater ist schon lange tot, Anverwandte habe ich nicht, und gestern – gestern haben sie mir auch mein liebes Mütterchen fortgetragen!«
Große Tränen flossen über Tausendschönchens blasses Gesichtchen.
Der Totengräber war ein mitleidiger Mann; er führte die Kleine in sein Häuschen und gab ihr ein kleines Gläschen Milch und ein Stück Brot.
»Ich kann dich nicht behalten,« sprach er traurig, »ich habe selbst kaum das Nötigste; ich muß dich ins Waisenhaus bringen – armes Kind!« setzte er mit einem Blick auf das zarte, süße Kindergesichtchen hinzu. So kam Tausendschönchen ins Waisenhaus.
Als sich die Tür des großen, grauen Hauses hinter der Kleinen geschlossen hatte, da wäre Tausendschönchen am liebsten wieder davongelaufen; es war ihr, als ob sie lebendig hinter diesen grauen Steinen begraben werden sollte, sie wagte kaum zu atmen. Kahle Wände überall; ernste, strenge Gesichter ringsherum, ach – und die Brillengläser des Herrn Direktors funkelten so sehr, daß das Herz des kleinen Mädchens laut zu schlagen begann.
»Wie heißt du, mein Kind?« fragte er nicht unfreundlich.
»Tausendschönchen,« antwortete das Kind scheu.
»Wie heißest du?«
»Den Namen kannst du hier nicht behalten, das ist Firlefanz,« sprach der Direktor streng; »du mußt einen richtigen Namen bekommen, von heute ab sollst du Friederike heißen.«
Da begannen Tausendschönchens Tränen wieder zu fließen, ach – ihren schönen Namen durfte sie nicht einmal behalten! »Tausendschönchen« hatte sie ihr Mütterlein genannt, weil sie gerade solch zartes Blumengesichtchen hatte, wie die holden Blümelein, und nun sollte sie den häßlichen Namen Friederike führen.
»Komm, Friederike, ich werde dich zu den anderen bringen,« sagte eine Lehrerin und nahm die Kleine an die Hand.
Durch lange Korridore ging es hindurch bis in einen großen Saal. Da saßen Hunderte von größeren und kleineren Mädchen – o wie häßlich sahen sie alle aus! Schlichte, graue Kleider trugen sie, eine wie die andere; die Haare waren ganz fest an den Kopf gekämmt; fleißig beugten sie sich über ihre Arbeit. Die einen nähten, die anderen strickten; hier wurden Schürzen gewaschen, dort wurden Kartoffeln geschält. Nirgends eine Puppe, ein Bilderbuch oder ein Spielzeug; sogar die ganz Kleinen rührten schon eifrig die Fingerchen, sie mußten die Erbsen zum Mittag verlesen.
»Auguste,« rief die Lehrerin einem größeren Mädchen zu, »dies ist eure neue Gefährtin Friederike; kleide sie ein und sage ihr, was sie jeden Tag zu tun hat.«
Auguste zog Tausendschönchen das kurze Kleidchen aus, das Mütterchen noch selbst genäht hatte, und gab ihr dafür solch häßliches, graues Kleid, wie sie es auch trug. Das hing der Kleinen bis auf die Füße herab.
»Deine Locken darfst du hier nicht behalten, Friederike,« sprach das Mädchen, nahm eine Schere und – ritsch – ratsch – schnitt sie Tausendschönchen die schönen, braunen Locken, Mütterleins ganzen Stolz, vom Kopf herunter. Die Tränen würgten Tausendschönchen schon wieder im Hals; aber sie wagte nicht, wieder zu weinen Ach – wie verändert sah das schöne, kleine Mädchen aus! Die Haare hat man ihr mit Wasser an den Kopf geklebt, und bei jedem Schritt stolperte sie über das lange Kleid.
Eine schwere Zeit begann jetzt für das Tausendschönchen. Ganz früh, wenn es kaum hell war, erklang morgens die Glocke zum Aufstehen; dann mußte Tausendschönchen ihr Bett selbst machen, ihr Waschgeschirr in Ordnung bringen und ausfegen. Ach – wie ungeschickt stellten sich die kleinen, zarten Kinderhände an!
Da hieß es oft: »Friederike, du darfst heut' nicht mit spazieren gehen, dein Bett ist nicht ordentlich gemacht,« oder: »du bekommst heut' kein Frühstücksbrot, der Knopf fehlt noch immer am Kleide!«
Ja – hier war's anders, als es daheim beim Mütterchen gewesen!
Nach den Schulstunden wurde an jedem Tage eine Stunde spazieren gegangen. Im Gänsemarsch zu zweien mußten die Zöglinge des Waisenhauses hintereinander marschieren; kein lustiges Umherspringen und Umhertollen gab es da, ernst und sittsam gingen sie unter Aufsicht der Lehrerin die Straßen entlang. –
Einst kamen sie an einem herrlichen Landhaus vorüber – »ach – die herrlichen Blümelein!« rief Tausendschönchen, sprang aus der Reihe heraus, streckte die Hand durch das goldene Gitter und pflückte einige der duftigen Tausendschönchen, die sie so an Mutters Gärtchen erinnerten.
Da fühlte sie einen derben Schlag auf der Hand.
»Unnützes Kind,« zürnte die Lehrerin, »schämst du dich nicht, aus der Reihe zu laufen und fremde Blumen abzureißen? Gleich wirfst du die Blümelein hin, Friederike!«
Aber krampfhaft umschlossen die Fingerchen die Tausendschönchen.
Plötzlich trat eine schöne, traurige Frau in schwarzem Kleide aus dem Garten; sie hatte alles mit angesehen, und das vater- und mutterlose Kind tat ihr leid.
»Magst du die Blümelein so gern, Kleine?« fragte sie mit sanfter Stimme.
Von Tränen verschleiert, schauten die goldbraunen Kinderaugen zu ihr auf – die Dame zuckte zusammen, – das waren ja ganz dieselben schönen Augen, wie sie ihre verstorbene, kleine Edith gehabt.
»In unserem Gärtchen blühten so viel Tausendschönchen, und Mütterchen hat mich nach ihnen genannt,« sagte die Kleine leise.
»Lassen Sie mir das kleine Mädchen heut' nachmittag hier,« bat die junge Frau die Lehrerin, »ich schicke sie abends mit dem Diener nach Haus.«
Die Lehrerin willigte ein.
Die schöne Dame nahm Tausendschönchen an die Hand, zeigte ihr die herrlichen Blumen im Garten, gab ihr Milch und Kuchen und führte sie in das Spielzimmer ihres verstorbenen Töchterchens. Ach – was machte die Kleine da für Augen! So fröhlich war sie lange, lange Zeit nicht gewesen; zum erstenmal seit der Mutter Tode lachte sie wieder.
Aber auch der armen, verlassenen Mutter ging das Herz auf, als sie wieder in strahlende Kinderaugen blickte; sie zog die Kleine auf ihre Schoß.
»Sag', willst du bei mir bleiben, mein Herzchen?«
Da schlang Tausendschönchen die Arme um die schöne, fremde Dame, und nun hatte sie wieder ein liebes Mütterlein gefunden.
Sie bekam die schönen Kleider der toten, kleinen Edith; die braunen Locken durften wieder wachsen, und bald färbten sich die blassen Bäckchen wieder rosig. Tausendschönchen blühte um die Wette mit ihren Namensschwestern draußen im Garten.