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Längst war der Schnee geschmolzen. Bunte Osterbeete hatten abgeblüht, jauchzende Kinderstimmen, die jubelnd einen Osterfund meldeten, waren verklungen. Die Kastanienbäume hatten ihre weißen Kerzen entzündet, und der Goldregen blitzte mit seinen Blüten wie funkelndes Gold. Herr Pfefferkorn saß wieder mit seinem Sammetkäppchen unter duftendem Flieder und freute sich der neugewonnenen Lebenskräfte. Er freute sich, wenn seine blonde Freundin gegenüber ihm beim Spargelstechen den Morgengruß herüberwinkte. Wenn ihre Küken »Duten Moggen, Ontel Bubumann«, herüberschrien. Wenn Vronli mit ihrem Schulranzen den pflichtschuldigen Hopsknicks vollführte, und ihr in die Praxis eilender Vater den weißen Strohhut schwenkte: »Grüß Gott, Herr Nachbar.« Selbst das Brummen seiner Wirtschafterin störte Herrn Pfefferkorn nicht mehr als das Summen irgendeiner Wespe. Er wußte, wenn man sie nicht reizte, stach sie nicht.
Ja, es war ein wunderbarer Frühling in diesem Jahr. Ein endloses Blühen, Farbenjauchzen und Duften. Das Doktornest draußen in Lichterfelde war wie in ein Blumenbeet gebettet, ganz von goldener Maiensonne durchflutet. Kinderlachen mischte sich mit Schwalbengezwitscher. Frau Annemarie sang unverdrossen bei ihrer Arbeit mit der Amsel im Lindenbaum um die Wette.
Nur einen hatte der Frühling enttäuscht. Das war Hansi. Alles wuchs draußen, alles blühte, aber das Püppchen im Blumentopf, das Hansi so eifrig begossen, war trotz aller gärtnerischer Mühe noch immer nicht so groß wie Mutti. Man mußte schon Hansis treuherzige Kinderaugen haben, um überhaupt herauszufinden, daß es »danz destimmt ein dolles Tück dewatsen« war. Auch daß das eingepflanzte Tante Albertinchen nicht wieder aus der Erde herauswachsen wollte, betrachtete Hansi unbedingt als einen Mangel des himmlischen Gärtners.
Heute aber dachte Hansi nicht an diese Lücke der Weltordnung. Heute war eitel Sonnenschein. Daran war ein großer Brief schuld, den das wieder genesene Flochen mit ganz besonderem Schielen auf den Frühstückstisch gelegt hatte.
»Ein Bief« – »ein Biesch« – »ein Bief von Ontel Tlaus« – »von Onte Laus« – durch das weiße Gartenstaket hindurch, über das sie noch nicht hinübersehen konnten, schrien die beiden Kleinen die Neuigkeit ihrem Freunde, dem Onkel Bubumann, zu.
Herr Pfefferkorn brauchte nicht erst zu fragen, was denn darinstände. Schon verkündete es Hansi mit einer Stimme, als ob er Extrablätter ausriefe, der ganzen Straße: »Wir reisen danz bestimmt auf die Puffpuffbahn zu Ontel Tlaus. Hansi muß siß dehaupt die Muhtühe und die jüjen tleinen Nuschnuschweinchen anjehn. Und panße, panße tönnen wir da machen. Aber niß etwa in die Badefanne, nee, defällist in die droße Oßsee. Die is doll droß. Noch viel, viel drößer als Muttißens droße Waßsüssel. Und 'n Metterlingsnest nehm' iß mit, und 'ne Siertommel und – und – – –.«
»Und Lein-Usche die doße Wittelmomode«, versuchte Klein-Ursel den Bruder in angeborener Evaseitelkeit zu übertrumpfen.
»Der Tausend – ja, nehmt ihr den Onkel Bubumann denn auch mit?« klang es über die Zeitung und den Fahrdamm herüber.
»Och, och, iß wer' miß sa hüten. Da is dar tein Patz in die Oßsee für den Ontel Bubumann«, entrüstete sich Hansi.
»Onte Bubumann Hause beiben!« bekräftigte auch Ursel.
»Da weint der Onkel Bubumann aber, wenn ihm keiner mehr ›Guten Morgen‹ herüberruft.«
»Onte Bubumann seinen – sein mal dleich – sein mal fällist doll.« Ursel wünschte sofort eine Kunstprobe.
Hansis gutes Herz war gerührt. »Floßen tann dir sa duten Moggen hüberßreien.« Mit diesem Ersatz mußte wohl der Onkel Bubumann zufrieden sein. Denn statt zu weinen, lachte er über das ganze Gesicht.
Während die Kinder die Reiseprojekte bereits in die Welt hinausposaunten, saßen die Eltern am Frühstückstisch unter maigrünem Weingerank und erwogen das Für und Wider noch recht gründlich. Rudi vertrat das Für – Annemarie das Wider. Nein, es war unmöglich, ihren Mann auf so lange Zeit allein zu lassen. Daß Flochen mehr für den eigenen Magen sorgte, als für den des Herrn Doktors, stand so fest, wie die Berolina auf dem Alexanderplatz. Na ja, Hanne würde ihn in Pension nehmen. Gewiß, da hatte er keine Not zu leiden. Vater würde sich herzlich freuen, wenn er mittags mit ihm zusammen speiste. Aber die Abende – wie schön war es stets, wenn sie in der Dämmerung nach des Tages Mühen ihren Abendspaziergang beide unter lichtgrünen Linden machten, nachdem die Küken im Nest waren. Was – Herr Pfefferkorn als Ersatzmann? Der sollte sie bei ihrem Mann vertreten? Annemarie machte ein so empörtes Gesicht, daß Rudi den Scherz unbedingt noch weitertreiben mußte.
»Nun, ist's nit der Herr Pfefferkorn, so fordere ich halt das Flochen zu einer kleinen Abendpromenade auf. Da werd' ich gleichzeitig noch liebevoll angeschielt. Arg eifersüchtig bist, Herzle, daß du mir nach sieben langen Ehejahren nit amal für vier Wochen Freiheit lassen willst. Ich werd' dich nimmer missen.«
Da hatte Annemarie lachend die Waffen gestreckt. Den Kindern würde ein Aufenthalt an der See gewiß guttun, besonders dem Vronli, das nach der Krankheit tüchtig in die Höhe geschossen war, aber trotz der Vorstadtluft blasse Schulfarbe hatte. Butter, Eier und Milch konnten sie auf dem Gut beim Onkel Klaus futtern, soviel sie nur wollten. Alles Genüsse, die in einem sparsamen Stadthaushalt jetzt nur in sehr beschränktem Maße zu haben waren.
Ach, und sie selbst – sie wollte es sich nur eingestehen, daß sie sich manch liebes Mal heraussehnte aus dem Gleichmaß des täglichen Pflichtenkreises, des ständigen Sorgens und Für-andere-da-sein-Müssens. Daß sie sich auch ganz gern mal wieder auf sich selbst besann, sich auch mal wieder an einen gedeckten Tisch setzen mochte, ohne das Essen selbst eingekauft und bereitet zu haben. Ja, für eine Hausfrau war es sogar dringend notwendig, daß sie mal für einige Zeit aus der Tretmühle des täglichen Einerleis herauskam, um nicht zu versimpeln und wieder neue Spannkraft zu sammeln. In den sieben Jahren ihrer Ehe waren Hartensteins nur ein einziges Mal auf ein paar Tage im Spreewald gewesen. Rudi konnte seine junge Praxis nicht leichtsinnig ans Bein binden. Annemarie mochte sich nicht von ihm trennen. Geld war sowieso nicht für solche Extravaganzen übrig. Man hatte es ja auch so schön da draußen in Lichterfelde in seinem Garten. Alle Berliner beneideten einen darum. Und doch war es notwendig, mal wieder neue Eindrücke, außerhalb der Kinderstube, in sich aufzunehmen. Jetzt, wo es beschlossene Sache war, daß man an die Waterkant während der Sommerferien reisen würde, begann Annemarie sich genau wie ihre Kinder darauf zu freuen. Sie war nur begierig, wie lange Rudi es wohl trotz seiner Großsprecherei ohne sie aushielt. Eines schönen Tages fand er sich sicher ein – das wußte sie im voraus.
Noch eins war es, was Annemarie dazu bestimmte, nicht, wie es ihr erster Impuls gewesen, auf die Reise opferfreudig zu verzichten. Das war ein Passus in dem Brief des Bruders, über den sie zuerst hinweggelesen: »Ohne die beiden Inseparables darfst du nicht kommen, Annemie. Der blassen Marlene tut eine Erholung dringend nötig, überhaupt das ganze Kränzchen ist feierlichst auf die Weide geladen, wenn es auch aus dem Gänschenalter inzwischen heraus ist.«
Das war so richtig Klaus. Gutmütig und für andere immer hilfsbereit, und trotzdem irgendwo kam der Pferdefuß, irgendeine Neckerei, wieder zum Vorschein. Aber diese Neckerei war es nicht, die ihr zu denken gab. Nein, daß er Ilse stillschweigend überging und nur seiner Besorgnis um Marlene Ausdruck verlieh. Oh, Annemarie ließ sich nicht dumm machen. Die wußte mit Evasschläue ganz genau aus eigener Erfahrung, daß man das, was einem am meisten am Herzen liegt, gewöhnlich für sich behält. »Den Sack schlägt man, und den Esel meint man.« Wenn dieser Vergleich auch nicht gerade schmeichelhaft für Ilse war.
Die andern Kränzchenschwestern konnten der Einladung leider nicht Folge leisten. Vera machte eine Wandertour mit ihrem Bruder Stanislaus. Die beiden waren ja schlimmer als ein Brautpaar miteinander. Seitdem der »Stani« in Berlin lebte und die Geschwister eine Wohnung zusammen inne hatten, sah man Vera überhaupt nicht mehr. Dann war da noch Margot Thielen. Die reiste mit der Mutter ins Bad. Frau Thielen mußte eine Kissinger Kur gebrauchen. Und Margot war glücklich, sie der Mutter ermöglichen zu können. Marianne kam ebenfalls nicht in Betracht. Die siedelte mit ihrem Baby zur Sommererholung zu den Eltern ihres Mannes, die in Eisenach lebten, über. Aber die beiden Cousinen mußten unbedingt mit »auf die Weide« nach Lüttgenheide. Vielleicht wurde doch noch was aus den beiden, dem Klaus und der Ilse, wenn sie auch noch so kratzbürstig gegeneinander taten.
Nicht nur draußen in Lichterfelde hatten die Zeilen von Klaus viel Staub aufgewirbelt. Viel mehr noch drinnen im Zentrum von Berlin. Da traten sich an einem wonnigen Maienmorgen die beiden Cousinen an der bewußten Treffecke entgegen, jede einen Geschäftsbrief, dem Format nach, in der Hand.
»Du, Marlene, ich habe heute morgen ein Schreiben aus Lüttgenheide bekommen.« Ilse glühte wie eine Pfingstrose bei dieser Mitteilung.
»Ich auch.« Marlene lachte.
»Du – auch – –?« Das klang merkwürdig gedehnt – merkwürdig enttäuscht.
»Ja, wenn du nichts dagegen hast.« Marlene lachte noch viel spitzbübischer. »Klaus fordert mich dringend auf, meine Sommerferien in Gemeinschaft mit Annemie und ihren Küken auf seinem Gut zu verbringen.«
»So–o?« Die Pfingstrosen auf Ilses Wangen waren abgeblüht. Na ja. Ähnliches stand ja auch in ihrem Brief drin. Er erwarte sie bestimmt, Ausreden gäbe es nicht, seien von vornherein abgelehnt. Sie müsse es schon ihres zweiten Ichs wegen tun, die sich doch sicher nicht von ihrer Intima trennen würde. Und es wäre geradezu sündhaft, Marlene um die notwendige Erholung zu bringen. Diese Stelle, die eigentlich Ilses Reise Vorschub leisten sollte, hatte merkwürdigerweise das Gegenteil ausgelöst. Was – bloß als Reisebegleitung für Marlene wurde sie von Klaus nach Lüttgenheide eingeladen? Weil die Cousine erholungsbedürftig war, nahm man sie mit in den Kauf? Natürlich abschreiben – glatt abschreiben, – das war Ilses erste Empfindung gewesen. Die zweite war, daß sie den Brief noch einmal durchlas. Und da fühlte sie so viel Liebes, Unausgesprochenes zwischen den Zeilen, daß sie doch wieder schwankend wurde. Mal sehen, wie Marlene sich zu der Sache stellte. Und nun kam ihr diese mit dem gleichen Brief in der Hand entgegen. Also an Marlene hatte er noch direkt geschrieben. Gewiß noch viel herzlicher als an sie. Nein, sie fuhr doch nicht. Fünf lange Wochen mit ansehen müssen, wie Klaus sich um Marlene bemühte, das ging über ihre Kraft. Solch ein Freundschaftsopfer konnte kein Mensch von einem verlangen!
»Da – lies, Ilse.« Die Freundinnen tauschten an der großen Granitschale im Lustgarten, um die sie sich als Kinder gejagt, ihre Briefe aus.
Hm – ungefähr der gleiche Inhalt wie in dem ihrigen. Nur stand darin, daß Marlene unbedingt Ilses wegen die Reise nach Lüttgenheide unternehmen müsse. Ilse bedürfe bei ihrer angestrengten Tätigkeit unbedingt einer Ausspannung, einer Auffrischung. Na ja, daß sie erholungsbedürftig sei, konnte er wirklich nicht mit gutem Gewissen schreiben.
Marlene war längst mit ihrer Lektüre zu Ende, während Ilse immer noch Klaus' Zeilen studierte.
»Ilse, lernst du den Brief auswendig? Wir werden zu spät in die Schule kommen«, mahnte die pflichttreue Cousine.
Da lachte Ilse hell und befreit auf. Vergeblich hatte sie zwischen den Zeilen an Marlene das Unausgesprochene, kaum in Worte zu Fassende gesucht, was sie in dem eigenen Brief so froh gemacht hatte. Die Riesengranitschale, an der sie noch immer standen, schien ihr plötzlich mit lauter Sonnengold angefüllt zu sein.
»Also am dritten Juli gibt's Ferien – am vierten reisen wir!« Wo waren alle Überlegungen Ilses, all ihre Skrupeln hin!
Bis zu den großen Ferien gab's aber noch reichlich zu tun. Da mußte das Halbjahr-Schulpensum so gut wie erledigt sein, denn auf die sechs Wochen nachher bis zu dem Oktobersemester war nicht viel zu rechnen. Das war ein saures Stück Arbeit für Lehrerin und Schülerinnen. Denn der Juni heizte gut ein. Der Verstand trocknete einem ebenso aus, wie das dürre, nach Regen und Abkühlung lechzende Land. Wenn Ilse in ihrer schwülen, drückenden Klasse saß und den Mädels den Konjunktiv einpaukte, dann geschah es wohl, daß ihre Gedanken mit den Sonnenstäubchen hinausflirrten, weit nach Norden, zu frischen, grünen Wiesen, zu schattigen Waldungen und kühlem Meereswind. Unwillkürlich öffnete sie durstig die Lippen und – – –.
»Die kleine Hermann schnappt wie ein Karpfen nach Luft« – irgendein keckes Ding hatte es seiner Nachbarin zugetuschelt. Darauf wurde es in der Ecke äußerst vergnügt, so daß Ilse, trotzdem sie absolut keine Lust dazu hatte, wohl oder übel die fidele Ecke aufs Korn nehmen mußte.
Aber auch daheim gab es noch genug Arbeit. Ilse fand plötzlich ihre Garderobe für Lüttgenheide nicht mehr auf der Höhe.
»Kind, für die Kühe dort sind deine Sachen wirklich noch ausreichend«, meinte die Mutter.
Aber Ilse mußte den Lüttgenheider Kühen doch wohl mehr Schönheitssinn zutrauen, als die Mutter. Sie zertrennte weiße Schleierstoff- und Leinenkleider, färbte sie rosenrot und lila und ließ sie zu neuer Schönheit wieder erstehen.
»Ilse, du tust ja gerade, als ob du in ein Luxusbad reist«, lachte auch Marlene sie aus. »Ich nehme bloß mein Dirndlkleid seligen Angedenkens aus Tübingen mit und ein weißes für Sonntags – basta.«
Auch dies hinderte Ilse nicht daran, weiter ihren Staat instand zu setzen. Im Gegenteil, ein neues Dirndlkleid mußte sie sich doch unbedingt auch noch zulegen. Das alte war doch schon gar zu verwaschen.
Hatte Ilse schon so viel mit ihren Reisevorbereitungen für sich allein zu tun, wieviel mehr wohl Frau Annemarie mit ihren dreien. Was gab's da nicht noch alles zu nähen, zu waschen und zu plätten. Vronli war aus allen Höschen und Röckchen herausgewachsen. »Die Kinder in der Schule sagen, ich soll mir nich auf meine Schleppe treten«, berichtete sie entrüstet. Hansi fühlte sich als Mann und rebellierte gegen alle Kittelkleidchen, die er noch im vorigen Jahr getragen. »Iß ist ein Sunne und muß Hojen antriegen.« Also auch Hansi mußte neu behost werden. O Gott, was machten solche kleinen Junghöschen für große Sorgen, bis Annemarie, die jetzt ihren Stolz darin setzte, alles für die Kinder eigenhändig zu schneidern, damit zurechtkam. Das erste Paar, das die Mutter ihm genäht, erweckte lebhaften Unwillen des undankbaren Sohnes.
»Die Tassen sind fa alle vers-tohlen. Keine einje Tasse is in die Hojen! Wo soll Hansi da seine Mummeln und seine Mißtäfer hintun?« so schimpfte er.
Annemarie stand beschämt vor ihrem Werk, auf das sie ungeheuer stolz gewesen. Richtig – die Taschen, das Allerwichtigste für einen Jungen, hatte sie unerhörterweise vergessen. Und wenn es auch nicht wegen der Murmeln und der Mistkäfer war, für die Hansi eine besondere Vorliebe zeigte, das Taschentuch war ein notwendiges Utensil für den Jüngling. War er doch sowieso nicht allzu wählerisch damit und benutzte großzügig jede Serviette, jede Kaffeedecke, Schürze oder Kleiderärmel, was sich ihm gerade bot, dazu.
Am wenigsten Schwierigkeiten machte noch die Einkleidung von Klein-Ursel. Die war der winzige Punkt geblieben und sah in jedem Läppchen, das man ihr überhängte, süß aus. Aber eitel war der Punkt heute schon. Er gab nicht eher Ruhe, bis die Mutter ihm das gleiche buntgeblümte Dirndkleid fabrizierte, das sie für Vronli verfaßt hatte. Unglaublich komisch sah das putzige Miniaturdirndl aus.
»Ursele, was werden denn halt die Küh' zu dir sagen?« fragte der Vater lachend, dem sie mit mütterlichem Stolz vorgeführt wurde.
»Muh«, sagte das Liliputdirndl höchst naturgetreu.
Eine Katastrophe war noch das Einpacken der Siebensachen. Annemarie brummte der Kopf, daß sie nur nichts vergaß. Und die Krabben gingen ihr nicht »von der Pelle«, trotz der furchtbaren Drohung, daß sie zu Hause bleiben müßten.
»Haach – mein seine Matjosenbuse is dehaupt ßon eindepackt in das Toffer, da muß Hansi doch destimmt mitheisen auf die Puffpuffbahn.« Gegen diese logische Schlußfolgerung ließ sich nichts mehr einwenden.
Auf beiden Seiten des Koffers hatten sie Posto gefaßt wie Zollbeamte. Mit Argusaugen beobachteten sie alles, was in die Tiefen des Koffers versenkt wurde. War es etwas besonders Schönes, dann wurde es mit Indianergeheul freudigst begrüßt. Natürlich wollten sie auch helfen, und natürlich wurde Annemarie kribbelig bei dieser Hilfe. Hansi warf ihr seine sandige Gartenschaufel auf die sorgsam geplätteten weißen Kleidchen, sonst »sird se danz destimmt verdessen«. Die geliebte Thermometerhülse, ein Regenwurm und der Blumentopf mit der eingepflanzten Puppe folgten sofort in Windeseile hinterher.
»Mutti – Muttißen – das Püppßen muß mit nach Tüttenheide, da tönnen wir's unter die Wieje slanzen, da wätzt es danz destimmt doll, hat Vaterle desagt.«
Wieder erfolgte ein indianermäßiges Geheul, allerdings nicht freudiger Art, als die Mutter mit energischem Protest all »die ßönen Sachen« wieder aus dem Koffer spedierte und die beiden Kleinen nicht weniger energisch in die Küche zu Flora.
»Jetzt kommt ihr nicht eher wieder ins Zimmer, als bis der Koffer geschlossen ist, und wenn ihr derartig blökt, sperr' ich euch in den Ziegenstall.« Annemarie hatte heute wirklich keine Zeit, sanft und geduldig den Kindern gegenüber zu bleiben, wie sie es sich sonst stets wenigstens vornahm.
»Lein-Usches Patesanne mittommen – Lein-Usche deht niß in olle dosche Wascher.« Ursel schrie wie besessen, denn sie hatte Angst vor der See, von der man ihr erzählt, und blieb dabei, daß ihre Badewanne eingepackt werden müsse.
Hansi dagegen räsonierte: »Is sa etelhaft, das olle Heisen, iß beib dehaupt bei Vaterle und Floßen und tomm dar niß mit nach Tüttenheide.«
Diese furchtbare Drohung aber hatte er am nächsten Morgen vergessen, als Annemarie ihre Kleinen zu nachtschlafender Zeit aus süßem Schlummer nehmen mußte. Denn der Weg von Lichterfelde bis zum Stettiner Bahnhof war schon eine kleine Reise für sich. Und der Zug ging früh.
Im Augenblick waren sie heute munter. »Schnell, schnell, Mutti, der Zug geht ab.« Das war natürlich Vronli, welche die übergroße Pünktlichkeit ganz gewiß nicht von ihrer Mutter geerbt hatte.
Hansi hatte es noch eiliger. Der wollte in Nachthöschen spornstreichs zum Stettiner Bahnhof.
»Muttißen, snell – snell, die Puffpuffbahn ßreit ßon, Ontel Szaffner wattet niß auf mir.«
Klein-Ursel zeigte sich heute wieder mal als echte Tochter ihrer Mutter. Die drehte sich mit Gemütsruhe auf die andere Seite und behauptete trotz herrlichster Morgensonne: »Piebe Honne ßeint niß, mein Tind tann niß ada dehn.«
Schließlich aber stand man doch mit Sack und Pack gerüstet am Gartentor. Rudi konnte seine Familie leider nicht persönlich am Stettiner Bahnhof abliefern, der Morgensprechstunde wegen. Sein Schwager Hans hatte es übernommen, die ganze Gesellschaft zu verladen. Er selbst folgte mit seiner Familie erst vierzehn Tage später, wenn die Gerichtsferien begannen.
Die Kinder hatten es sehr eilig mit den Abschiedsküssen. Die schrien in aller Hast noch schnell in die festverhangenen Fenster ihres Freundes, der sich bereits gestern mit einer großen Tüte von ihnen verabschiedet hatte: »Auf Fitajehn, auf Fitajehn, Ontel Bubumann!«
Dann eilten sie mit dem aus Schachteln und Taschen herausschielenden Flochen voraus zur Elektrischen; denn Hansi hörte bereits immerzu die Puffpuffbahn »ßreien«.
Annemarie hatte es weniger eilig. Die blickte immer wieder zurück nach ihrem grünen Nest, immer wieder in Rudis gute graue Augen.
»Rudi, ich bin das größte Kamel der Welt, daß ich von dir und unserem lieben Heim fortfahre. Wären nicht die Kinder, ich bliebe noch hier.« Innig schmiegte sie sich in seine Arme.
Die hielten sie fest, ganz fest. »Schämst dich nit, Weible, tust halt, als wären wir noch Brautleut' und sind doch ein arg antikes Ehepaar. Und mein fideles Strohwitwertum nach bald acht Jahren gönnst mir nimmer, gelt?« So scherzte er, um nicht zu zeigen, daß ihm die erste Trennung von seiner Annemarie auch näherging, als es wohl üblich war. »Schau, Herzle, jetzt mußt gehen. Der Hansi und die Puffpuffbahn schreien schon um die Wette. Grüß' unsere Küken noch mal und die Herren von Lüttgen- und Grotgenheide. Und denk' nur nit zurück. Hier wird schon alles –«
»– schief gehen«, vollendete Annemarie unter Tränen lachend. »Bleib gesund, mein einziger Mann, schreib' mir ausführlich. Und wenn ich dir gar zu sehr fehle, dann holst du mich wieder, ja? Das versprichst du mir.«
»Eingebildetes Frauli! Denkt halt, sie sei der Mittelpunkt, die Sonne, um die sich alles dreht, 's waren halt schon größere Menschen entbehrlich als du. Also nun Gott b'fohlen! Sieben Stück Handgepäck hast, zähl' gut nach. Zwei Taschen, zwei Schachteln und drei Kinder. Den Gepäckschein für den Koffer hab' ich dir gegeben. Also grüß' dich Gott, mein Lieb.«
Den allerletzten Kuß. Dann jagte Annemarie hinter ihren aufgeregten Sprößlingen her.
»Floßen sagt, es is höschte Eiserbahn«, empfing sie Hansi vorwurfsvoll.
»Hösche Eijebahn«, echote Ursel hinterdrein.
Es war wirklich höchste Eisenbahn. Denn als man endlich am Stettiner Bahnhof anlangte – die Elektrische war natürlich noch nie so langsam gefahren wie heute –, ja, da stand schon der Onkel Hans, nicht weniger aufgeregt als sein kleiner Neffe.
»Ihr denkt wohl, es wird für euch ein Extrazug eingelegt? Annemie, du wirst doch niemals Pünktlichkeit lernen. Rasch – rasch – in drei Minuten geht der Zug. Wir haben nur mit Mühe die Plätze für euch freihalten können.«
Im Eilzugtempo ging es den Perron entlang: Klein-Ursel auf dem Arm von Onkel Hans; Vronli weinend vor Angst; Hansi, der mit seinen dicken Beinchen nicht so schnell mitkam und etwas gezerrt werden mußte, laut schimpfend in dem Menschengewühl: »Szreckliß is sa das, so'n Hadau auf die olle Puffpuffbahn!«
Aber schließlich saßen sie doch alle noch vor Abgang des Zuges in ihrem Abteil. Urmütterchen atmete auf. Sie hatte nicht mehr geglaubt, daß Annemie es erreichen würde. Frau Doktor Braun und die praktische Ilse übernahmen die Verstauung des Gepäcks und der Kinder. Während Annemarie, trotzdem der Schaffner schon »Einsteigen« gerufen hatte, doch unbedingt noch ihrem Vater einen Abschiedskuß geben und der alten Hanne die schwielige Hand drücken mußte.
»Hanne, sorgen Sie für meinen Mann – – –.«
»Da kann Frau Doktern Annemiechen janz unbesorgt sind. Leben Se man janz Ihre Erholung, jehn Se alles aus'm Weg, der Herr Dokter Rudi wird schon nich Hungers sterben, dafir is die olle Hanne da.« –
»Opapa – Opapa mittommen«, klang es jammernd aus dem Fenster, während der Zug sich in Bewegung setzte. Grenzenlos enttäuscht waren die Kinder, daß der liebe Opapa, der soviel mit ihnen anstellte, von der ollen Puffpuffbahn nicht mitgenommen wurde.
Man hatte ein Abteil für sich. Und das war gut. Fremden wären die lebhaften Kinder doch wohl für die Dauer auf die Nerven gefallen. Omama und die Freundinnen fanden es dagegen entzückend, die lieben Kinderchen mal den ganzen Tag genießen zu können.
Der Genuß war zweifelhaft. Nachdem man sich genug darüber gefreut hatte, wie »ßön die Puffpuffbahn ßreien« konnte, nachdem die Rattermusik des Zuges mit allen Variationen nachgeahmt worden war, ging man auf Entdeckungsreisen aus. Da war vor allem ein Türchen zu einem kleinen Nebenraum, das die Begeisterung der Kinder hervorrief. Hansi war von diesem Türchen nicht fortzubekommen. Mit der Gründlichkeit eines Einbrechers vertiefte er sich in die Konstruktion des Schlosses, bis zur Besinnungslosigkeit das Türchen öffnend und zuschlagend.
»Hansi, jetzt ist es genug«, tat Annemarie dem eigenartigen Spiele Einhalt. »Der Schaffner schimpft sonst.«
»Och, och, der Ontel Szaffner ßimpft dehaupt niß.« Das Türlein klappte nach wie vor weiter.
»Der Geruch ist ja nicht auszuhalten, Hansi.«
»Hiecht doch ßön«, fand Hansi in merkwürdiger Geruchsverirrung und klappte weiter mit seinem Türlein. Urmütterchen, welche das ungewohnte Fahren einschläferte und die ein wenig eingenickt war, fuhr jedesmal erschreckt hoch.
Erst der große Futterkorb, den Hanne so reichhaltig gepackt hatte, als ginge es nach Amerika, vermochte ihn in ähnlicher Weise wie das Türchen zu fesseln.
Ursel zeigte ihren Ordnungssinn und suchte alle Zigarrenstummel, alle fettigen Papiere, die frühere Insassen in dem Abteil zurückgelassen, gewissenhaft zusammen. Sie sah wie ein Mohrenkind aus.
Vronli stand am Fenster neben Marlene, nachdem sich Urmütterchen mehr als ein Dutzend mal davon überzeugt hatte, daß der Türhebel vorschriftsmäßig geschlossen war, und dann immer noch in tausend Ängsten schwebte, das Kind könnte hinausstürzen.
»Wir fahren jetzt gerade in den Himmel hinein, Urmütterchen, zu Tante Albertinchen.« Das Kind sah sinnend in die Ferne, wo Himmel und Erde miteinander zu verschmelzen schienen.
Urmütterchen machte traurige Augen. Sie konnte den Tod ihrer Schwester, mit der sie zusammen alt geworden, nicht verwinden.
»Ein Audenbick – ein Audenbick – der Ontel Szaffner soll mal defällist halten, wir haben noch was verdessen – – –.« Hansi war ganz aufgeregt.
»Ja, Hansi, was haben wir denn vergessen?«
»Urtantßen – Urtantßen muß destimmt mit nach Tüttenheide, daß se auf die Wieje wieder rauswätzt.« Nein, es war wirklich nicht möglich, ernst zu bleiben bei der drolligen Wichtigkeit des kleinen Burschen.
»Fahren die Bäumßen aber snell – och, und der Weg läuft immer mit uns mit – und all die niedichen Häußen tönnen auch laufen.« Hansi war begeistert, daß alles da draußen an ihm vorüberflog.
»Weißt du, Annemie, wie oft im Leben verwechseln selbst wir Großen Ursache und Wirkung. Es ist reizend, zu beobachten, wie sich die neuen Eindrücke in dem kindlichen Geist spiegeln«, sagte Marlene nachdenklich.
Annemarie fand diese Beobachtungen weniger reizend, als daß der kleine Gesell endlich Ruhe gab. Auch Ursel war auf Ilses Schoß mit verschmiertem Kakaobart glücklich eingeschlafen.
Wohltuende Stille herrschte, abgesehen von der ohrenbetäubenden Eisenbahnmusik. Aber leider nimmt alles mal ein Ende. Nur die Fahrt war endlos. Wenigstens erschien sie den eingesperrten Kindern so. Essen mochten sie nicht mehr, ans Türlein durften sie nicht, und die vorübertanzenden Bäume und Häuser waren auch nichts Neues mehr. Was sollten sie also Besseres tun, als ihre liebe Mutti zu quälen und die unmöglichsten Dinge zu verlangen. Omamas Märchen waren alle erzählt. Ilses Taschentuchmaus hatte sich bereits sämtliche Beine ausgesprungen. Marlenes Anschauungsunterricht draußen in der Natur hatte nur zur Folge, daß Hansi in ein bitterliches Geheul ausbrach, weil der »Ontel Szaffner« nicht halten wollte, als an einem Bach »niediche tleine Sunns, lauter Nattedeis«, badeten.
»Heisen ist danz dräßlich!« Zum wievielten Male stöhnte es der kleine Reisende.
Aber schließlich hatte die Lokomotive doch ein Einsehen. Sie hielt an der kleinen pommerschen Station, an der Klaus seine Gäste in Empfang nehmen wollte.
Da stand er schon, rotgebrannt, blauäugig und frohgemut neben Peter Frenssen. Die Freude über den lang ersehnten Besuch strahlte beiden aus den Augen.
»Onkel Klaus – Ontel Tlaus – Onte Laus!« Im dreifachen Chor erklang es jubelnd. Alle Müdigkeit der Kleinen war wie weggeblasen.
»Willkommen ins Jrüne alle miteinander! Kleinzeug, ihr krabbelt einem ja wie Ameisen mang die Beine. Reißt mich man bloß nicht um. Na, Großmama, die Reise war doch nicht etwa anstrengend? Was bedeutet solch ein Katzensprung für junge Leute! Mutter, nun sollst du dich davon überführen, daß aus deinem Lausbub doch noch was Rechtes geworden ist. Annemie, laß dich umarmen, Schwesternseele. Die beiden Inseparables gleich mit, das Vierteldutzend ist billiger.« Ungeniert schlang Klaus den einen Arm um Annemarie, den andern zugleich um die Braune und die Blonde.
»Sei doch nicht so kindisch, Klaus.« Ilse machte sich errötend frei.
Auch Marlene schien die Umarmung in Gegenwart des Vetters peinlich.
»Kinder, habt euch man bloß nicht. Wenn ihr zimperlich tun wollt, macht lieber gleich wieder kehrt.« Klaus belud sich mit sämtlichen Nichten und Neffen und dem größten Teil des Handgepäcks, während Peter, nachdem er die Damen begrüßt hatte, der Großmama ritterlich den Arm reichte, um sie an den Wagen zu führen.
Nein, wirklich, der Peter Frenssen war doch ein ganz anderer Mensch als Klaus, in seiner vornehmen Zurückhaltung, dachte Marlene, mit Frau Doktor Braun folgend.
»Dämlich hast du dich geradezu benommen«, machte Ilse sich inzwischen Selbstvorwürfe. »Der Klaus ist so herzlich, und du, dumme Liese, mußt gleich wieder patzig werden.« Sie hätte sich selbst dafür prügeln können.
Auf der staubigen Landstraße standen zwei Kaleschen.
»Zählst du noch Schimmel, Ilse?« erkundigte sich Klaus, auf das schöne Gespann weisend. »Gleich doppelt, damit's schneller geht. Du weißt doch, beim hundertsten!«
»Schade, daß ich die ganzen Jahre über seit meiner Backfischzeit nicht mehr gezählt habe. Ich könnte jetzt schon beim hunderttausendsten sein.« Gott sei Dank, nun hatte sie die Befangenheit überwunden und den harmlosen Ton wiedergefunden.
»Bitte Platz zu nehmen, meine Herrschaften. In einen Wagen kommt das überflüssige Gepäck, sämtliche alte Schachteln, auch Marlene und Ilse.«
Nein, der Klaus trieb es doch gleich zu bunt. Ilse bedauerte jetzt tatsächlich, nach Lüttgenheide gefahren zu sein.
»Ich muß euch erst noch eine Eröffnung machen, hochverehrte Damen und Herren«, fuhr Klaus unbekümmert fort. »Mein Ahnenschloß ist zwar recht geräumig, aber wenn Hans mit seiner Familie demnächst angesetzt kommt, diesem Massenansturm doch wohl nicht gewachsen. Auch verlangt Peter energisch sein Teil an den lieben Gästen. Er hat an seinen Eltern und seiner Schwester Elli nebst Familie noch nicht genug. Also wer geht nach Grotgenheide und wer nach Lüttgenheide? Wollen wir ausknobeln?«
»Ist nicht nötig, Klaus«, sagte Ilse da rasch zu ihrer eigenen Verwunderung. Es war ihr, als ob ein ganz anderer aus ihr spräche. »Ich würde sehr gern in Grotgenheide wohnen.«
»Du?« Das kam Klaus denn doch überraschend. Er hatte eigentlich an die beiden alten Damen, an die Großmama und die Mutter gedacht, die gewiß gern mit ihrer Tochter und Schwester, Tante Käthchen, von der sie sonst getrennt lebten, zusammensein würden. Aber daß die Ilse sich selbst dazu erbot, das war doch – –.
»Na schön, wie Sie wollen, mein verehrtes Fräulein. Marlene muß dann natürlich auch mit nach Grotgenheide. Eine Trennung wäre euer beider Tod. Also Peter, dann verlade man dein Jungvieh. Diesmal pluckst du mir die Rosinen aus dem Kuchen, alter Junge.«
»Gut, daß du da oben auf deinem Kutscherbock thronst, Klaus, sonst würden wir dir das Jungvieh anstreichen«, rief Marlene mit lachender Entrüstung.
»Du hast gar kein Verständnis für Komplimente. Steig' ein, Fräulein Doktor, woran liegt's denn noch?«
»Ja, wir wissen doch noch gar nicht, ob Herrn Frenssen der aufgehalste Besuch auch recht ist«, meinte Marlene zögernd.
»Bedarf dies wirklich erst noch einer Bestätigung, Fräulein Doktor?« Der warme Blick, der Peter Frenssens Worte begleitete, mußte wohl alle Bedenken Marlenes zerstreuen, denn sie nahm mit frohen Augen neben Ilse in dem zweiten Wagen Platz.
In dem Lüttgenheider Gefährt summte es wie in einem Bienenstock. Die Kindermäulchen standen nicht still. »Eine Windmühle!« Vronli war begeistert. »Haach, die vielen Blumen, können wir nicht mal anhalten und pflücken?«
»Ontel Tlaus, die Peitse is mein seine, und die ßöne Fädeleine muß Hansi auch triegen und die Hottebrrfädchen hören auch Hansi – –.«
»Nee, mein Junge, vorläufig lebe ich ja selber noch, wenn ich mal tot bin«, lachte der Onkel.
»Denn s-terb' mal dleich doll tot.« Hansi wollte zu gern selbst kutschieren.
Klaus lachte von Herzen über seinen zärtlichen Neffen, und der Ärger über den Querstrich, den Ilse ihm soeben durch seine Rechnung gemacht, verflog. Er zeigte den Damen mit Landmannsstolz das fette Weideland, die reichen Waldungen, die man durchfuhr und die goldenen Kornfelder, die günstigen Ertrag versprachen.
So lebhaft es in dem Schimmelwagen zuging, so einsilbig war die Unterhaltung in dem Grotgenheider Wagen mit den beiden Füchsen. Jede der beiden Cousinen hing ihren Gedanken nach. Marlenes Augen tranken die Ferne. Sie hatte die Empfindung, daß der blonde Mann da vorn sie geradeswegs in das Glücksland hineinkutschierte. War das ein Duften und Blühen, ein Sonnenglanz ringsum.
Ilse saß mit gerunzelten Brauen und zusammengepreßten Lippen da. War sie denn von allen guten Geistern verlassen gewesen, daß sie selbst eine Entfernung zwischen sich und Klaus gelegt hatte, wo sie sich doch so darauf gefreut hatte, von morgens bis abends während der Ferien mit ihm zusammen sein zu können? Sie war total unzurechnungsfähig in jenem Augenblick gewesen. Ihm hatte sie damit einen Possen spielen wollen, und sich selbst verdarb sie dadurch den schönen Ferienaufenthalt, während er lachend mit einem Scherz über solch eine Kleinigkeit zur Tagesordnung überging.
»Das ist das Schloß Lüttgenheide und dort drüben hinter dem Erlengrund sieht man das rote Dach von Grotgenheide. Es liegt keine zwanzig Minuten davon. Von dort aus ist es nur eine halbe Stunde bis zum Meer hinunter.« Peter Frenssen wies mit dem Peitschenstiel über das Ackerland.
Da hielten die Wagen. Ilse sah ein graues, massiges Herrenhaus, turmgekrönt, von Schwalben umzwitschert, von Rosen umklettert.
»Also hier,« dachte sie, »wie schön, wenn du hier wohnen könntest. Hast es dir selbst verscherzt.«
Klaus sprang elastisch vom Kutschbock.
»Willkommen auf Lüttgenheide, möget ihr zur guten Stunde hier einkehren!«
Mamsell erschien knicksend, wischte sich die Hand umständlich an der weißen Schürze und reichte sie dann treuherzig den Damen. Ein Knecht belud sich mit dem Gepäck. Die Kinder summten bereits munter wie Insekten umher.
Annemarie und Marlene tauschten ihr Gepäck aus; erstere bedauerte lebhaft, daß man nicht beisammenbleiben konnte.
Klaus trat zu dem zweiten Wagen.
»Also auf gute Nachbarschaft!« rief er fidel. Und dann leiser, nur Ilse verständlich: »Das ist das Ilsenheim – es wartet noch immer!«
Glückverheißend zwitscherten die Schwalben.