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Wirklich, das Gartentor knarrte. Ein Herr mit grauem Vollbart, eine Schwarzhaarige und eine Braune an jeder Seite untergeärmelt, tauchte auf.
»Opapa – Opapa – – –«, in fünfstimmigem Chor erschallte es jubelnd vom Katzentisch. Stühle flogen um, kleine Beinchen in die Luft. Jedes wollte zuerst beim lieben Opapa sein.
Der Schwarzen und der Braunen wurde plötzlich der Laufpaß gegeben. Beide Arme brauchte Doktor Braun dazu, die fünf Kleinen aufzufangen.
»Opapa, was mitdebingt?« Sämtliche Taschen wurden sofort einer gründlichen Revision unterzogen.
»Wie die Räuber fällt die kleine Bande über einen her!« Doktor Braun strahlte vor Großvaterstolz. Der eine hatte seine Uhr beim Wickel, der zweite die Brille, Hansi die vielgeliebte »Horche«. Das war das Stetoskop, das er beim Vater nicht anfassen durfte. Jetzt stand der kleine Kerl mit ernsthaftem Gesicht, das Hörrohr am Ohr. »Hier Dotter Hattenstein, – wer dott?« Zum größten Gaudium des Großvaters benutzte Hansi die »Horche« stets als Telephon.
Die beiden Mädel zeigten Evasschläue, die gingen aufs Eigentliche. Sie gruben in Opapas Rocktaschen nach Süßigkeiten.
»Hatte Lein-Usche niß mitdebingt?« Klein-Ursels Freude mit dem Opapa begann abzuflauen.
»Nein, Kinderchen, heute hatte ich wirklich keine Zeit – –«
»Oller Opapa!« Tiefste Verachtung lag in Klein-Ursels Kritik.
»Pfui, Ursel, ich hab' den Opapa auch lieb, wenn er gar nichts mitbringt.« Vronli ging mit gutem Beispiel voran. »Aber – der tut bloß immer so. Der hat bestimmt noch was in der Tasche.« Die Evastochter meldete sich schon wieder.
»Hatte destinnt nißt, Opapaßen?« erkundigte sich Ursel, in der wieder zärtlichere Gefühle erwachten.
»Destinnt nichts«, lachte der Großvater. »Bloß – ja richtig, das muß noch vom vorigen Mal hier in der Rocktasche stecken geblieben sein.« Aus einer Innentasche, die den kleinen Detektiven entgangen war, kam eine große Tüte zum Vorschein.
»Bomboms – Usche Bomboms, duter Opapa – – –.« Klein-Ursel war innigste Zärtlichkeit.
Aber schon hatte Vronli die Tüte an sich gerissen. »Mir gehört sie, es geht nach der Älte – – –«
»Nein, Vronli, sie gehört euch allen – – –.« Doktor Braun amüsierte sich köstlich. Denn jetzt gingen die drei kleinen Männer mit vereinten Kräften gegen das weibliche Geschlecht los.
»Herbertchen kratzt – au, Waldemar, nicht kneifen – Hansi, wenn du mit den Füßen stößt, bekommst du nichts.«
»Du hast dehaupt nißt zu saden – – –.« Der kleine Bruder wehrte sich gegen die schwesterliche Autorität.
»Höre, Vronli, ich habe das Vertrauen zu dir, daß du die Bonbons ehrlich unter euch fünf verteilst«, schlichtete der Opapa den Streit.
»Ja, immer der Älte nach, nicht, Opapa? Mit sechs Jahren kann man halt mehr Bonbons vertragen, als mit zwei«, gab Vronli zu bedenken.
»Usche – Bomboms – Lein-Usche doll Bomboms haben.« Die Kleine hatte offenbar kein rechtes Zutrauen zu der Großen.
»Ich glaube, daß Klein-Ursels Magen genau so viel ›Bomboms‹ vertragen kann wie dein sechsjähriger, Vronli«, meinte der Opapa. »Aber das beste ist, wir machen nachher fünf kleine Tüten, für jedes Kind eine. Dann braucht ihr die Bonbons nicht gleich im Magen unterzubringen und könnt euch noch was zu morgen verwahren.« Der Arzt in Doktor Braun bekam doch die Oberhand über den Großvater.
»Nee«, – Hansi war nicht einverstanden – »denn sind se moggen danz fott, denn sind destimmt verstohlen.« Er schien in seinem dreijährigen Leben hinreichend trübe Erfahrungen gesammelt zu haben.
Doktor Braun lachte, daß Ursel, die bereits auf seiner Schulter thronte, ausrief: »Opapa, niß so watteln.«
Annemarie wollte nun aber auch endlich ihr Teil, nachdem sie die Freundinnen Vera Burkhard und Margot Thielen freudig begrüßt und mit Kaffee und Kuchen versorgt hatte.
»Vatchen – ich existiere wohl überhaupt nicht mehr für dich? Meinen Glückwunsch will ich zum Hochzeitstag. Du hast ja nur noch Augen für die dritte Generation«, beklagte sie sich halb ernst, halb scherzhaft.
»Meine große, dumme Lotte, – das Beste kommt zuletzt!« Doktor Braun schlang den freien Arm um Annemarie. »Komm her, du eifersüchtige Mutter! Möge dir dein Glück erhalten bleiben, mein Kind. Und dies hier – du sprachst neulich mal davon, daß du dir einen neuen Wintermantel verkneifen müßtest; ich hatte diese Tage eine kleine Extraeinnahme, vielleicht langt's.« Der gute Vater drückte seinem Nesthäkchen ein verheißungsvolles Kuvert in die Hand.
Fest schmiegte Annemarie den Blondkopf an des Vaters Schulter in stummem Dank. Es war nicht die Gabe, die sie tief innerlich beglückte, trotzdem sie einen neuen Mantel wirklich gebrauchen konnte, nein, dieses sich Umhegtwissen von treuer Elternfürsorge, das tut noch immer wohl, selbst wenn man längst für die eigenen Küken zu sorgen hat.
Bis in die achte Stunde dehnte sich die Kaffeetafel unter der Goldlinde aus, bis im Westen die kupferrote Lampe am mattgrünen Himmel angezündet wurde und drinnen im Laufe die goldgelbe Speisezimmerkrone. Bis Frau Marianne entsetzt aufsprang: »Ich Rabenmutter, laß Mann und Kind verhungern!« Sie war nicht zum Bleiben zu bewegen. Klein-Edith, das kluge Vierteljahrskind, mußte besorgt werden. Und »mein Mann ist den ganzen Tag in der Apotheke so angestrengt, abends will er wenigstens etwas von Frau und Kind haben.«
»Du hilfst ihm ja doch als Laborantin in der Apotheke, Marianne, da hat er doch mehr als genug von dir«, wollte Margot sie zum Bleiben überreden.
»Findest du – er ist anderer Ansicht.« Marianne lachte noch immer ihr munteres Backfischlachen.
»Grüß deinen Tyrannen, und ein andermal soll er abends nachkommen.« Marianne zog mit Herbertchen und Waldemarchen, die vom Mädchen geholt wurden, und einem Strauß bunter Astern ab.
»Ein glückliches junges Frrau! Und trrotzdem frreiheitsberraubt«, meinte Vera, der Freundin sinnend nachschauend.
»Ja, wir Junggesellen haben es entschieden besser, Vera. Wir können heute abend hier bleiben, bis Hartensteins uns rauswerfen. Kein gestrenger Eheherr zieht die Uhr stirnrunzelnd, wenn wir heimkommen. Kein Wurm schreit uns vernachlässigte Mutterpflichten in die Ohren«, stimmte Ilse lebhaft bei.
»Ist das deine wahre Meinung, Ilse?« Man hätte es den lustigen Augen von Klaus niemals zugetraut, daß sie so ernst zu fragen verstünden.
»Aber natürlich!« Ilse schüttelte das merkwürdige Etwas, das sie bei Klaus' Worten überkommen wollte, gewaltsam ab. »Du denkst wohl, wir Frauen von heute warten noch auf den Mann, wie die von anno dazumal? Da bist du schief gewickelt. Wir freuen uns unserer Unabhängigkeit.«
»So – hm – da habe ich mich geirrt.« Worin er sich geirrt habe, ob in der modernen Frau oder in Ilse, das ließ Klaus offen. Er reichte, als Hanne jetzt »zu's Abendbrot« bat, Marlene und Vera den Arm, trotzdem dieselben ein ganzes Ende entfernt saßen. Peter lud Ilse und Margot auf – wie es, in der Landmannssprache ausgedrückt, hieß.
Eine fröhliche Tafelrunde war's, die sich in dem gemütlichen Speisezimmer mit den hellen Eichenmöbeln um den runden Tisch scharte. Man saß so eng, daß man nur abwechselnd Messer und Gabel gebrauchen konnte, was zur Fidelitas noch beitrug. Der Großvater hatte es für die bettelnden Kleinen bei den Eltern durchgesetzt, daß sie bis über das Essen aufbleiben durften. Das heißt, Klein-Ursel, die am wenigsten ins Bett gewollt, lag auf dem Tigerfell nebenan vor Rudis Schreibtisch in süßem Schlummer. Ganz plötzlich hatte der Sandmann sie überrumpelt. Ein Genrebild war es – Vera konnte sich daran nicht satt sehen.
»Weißt du, Annemie, so möchte ich ihrr photogrraphierren, die kleine Ding«, meinte sie.
»Dazu kann Rat werden, Verachen. Wir beabsichtigen dich nächstens in deinem Atelier zu überfallen, Urmütterchen feiert im Januar den siebzigsten Geburtstag – wir besprechen das ein anderes Mal. Sie hat trotz ihres Alters noch fabelhaft gute Ohren.«
Wirklich, Großmama war aufmerksam geworden.
»Was führt ihr da gegen mich im Schilde, Annemiechen?« fragte sie mit ihrem lieben Lächeln.
»Das wird nicht verraten, Großmütterchen. Ein Geheimnis – du bist noch zu jung dazu. Erst, wenn du siebenzig bist, darfst du es erfahren. Deine große Schwester ist sicher auch meiner Meinung. Nicht wahr, Tante Albertinchen?«
Die »große Schwester«, ein kleines, verhutzeltes Frauchen, war zu sehr mit dem Vertilgen des Heringssalates beschäftigt, um zu antworten. Tante Albertinchen, deren weiße Ringellöckchen dünner, aber noch viel beweglicher geworden waren wie dereinst, sprach überhaupt nicht mehr viel, sondern brauchte ihren Mund fast nur noch zum Essen und zum Trinken. Wenn sie aber mal etwas sagte, dann machte Vronli einen großen Bogen um das Urtantchen. Denn dann hieß es sicher: »Annemiechen« – sie verwechselte die Generationen – »Annemiechen, Kind – du bist noch auf? Als deine Mutter solch ein kleines Mädchen war, ging sie immer schon um halb sieben ins Bett. Nicht wahr, Elsbeth?« Tante Albertinchens Löckchen schienen ebensowenig einverstanden mit der neuen Zeit, wie sie selbst.
Die Omama aber, von der sich Vronli durchaus nicht vorstellen konnte, daß sie mal das kleine Mädchen Elsbeth gewesen, begütigte: »Es ist ja nur einmal im Jahr der Hochzeitstag der Eltern, Tantchen.«
Hansi, der zwischen Omama und Opapa eingeklemmt saß, schien vom Urtantchen die Inbrunst beim Essen geerbt zu haben. Er ließ sich von den Großeltern abwechselnd gute Häppchen zuschieben. Man sah ja auch, wo es blieb. Hannes Roastbeef aber, das allgemein Furore machte, fand vor dem kleinen Gourmand kein Wohlgefallen. Er kaute so lange darauf herum, bis er zur allgemeinen Erheiterung das abgelutschte Stück schließlich dem Opapa freigebig auf den Teller legte: »Da – die Wust kaut niß.«
Und als sich Doktor Braun den Spaß machte, ihn von der Mayonnaise, die Hannes ganzer Stolz war, kosten zu lassen, rief Hansi sich schüttelnd: »Iß ekele miß auf die Nese.« Wodurch die Heiterkeit den Höhepunkt erreichte.
Ilse Hermann ging es ähnlich wie dem kleinen Hansi. Das Roastbeef wollte bei ihr nicht »kauen«. Sie würgte und würgte an jedem Bissen. Und dabei war es doch so zartrosa, dabei war Ilses guter Appetit bei den Freundinnen sprichwörtlich.
Peter Frenssen war ein netter Tischherr. Er war lange nicht so lebhaft wie Klaus und auch nicht so amüsant. Ernst und überlegt, etwas schwerfällig in der Ausdrucksweise. Aber was er sagte, hatte Hand und Fuß. Er verstand es sogar, Margot, die noch immer eine gewisse gesellschaftliche Schüchternheit nicht überwinden konnte, trotzdem sie jetzt einem großen Kunststickerei-Atelier vorstand, aus ihrer Schüchternheit hervorzulocken. Das Gespräch, das zwischen Wollstickereien und landwirtschaftlichem Betrieb hin und her pendelte und sich schließlich in Stickereimustern, die der Natur entlehnt wurden, vereinte, plätscherte ganz munter dahin. Denn an seiner anderen Nachbarin hatte Annemaries Vetter eine recht wortkarge Gesellschaft. War sie etwa als »Studierte« zu stolz, um Gefallen an der Unterhaltung eines simplen Landwirtes zu finden? Peter Frenssen hatte eine Abneigung gegen alle Weiber, die Latein lernten, anstatt den Kochlöffel zu schwingen. Daß Ilse Hermann dies, trotzdem sie Fräulein Oberlehrer war, aus dem Effeff verstand, ahnte er nicht. Ihre Cousine, die schwarzzöpfige Marlene Ulrich, erschien ihm eigentlich noch unnahbarer. Schon die Anrede »Fräulein Doktor« – Ilse hatte sich mit dem Oberlehrer begnügt – war ihm ungeläufig und unbehaglich. Sie schien soweit ja ein ganz vernünftiges Frauenzimmer zu sein. Denn ihre Unterhaltung mit Klaus bewegte sich nicht auf der Basis des lustigen Herumulkens, wie Klaus das den Jugendfreundinnen gegenüber nur zu gern tat, sondern drehte sich um nationalökonomische Dinge.
»Wenn er doch einmal mit mir so reden würde«, dachte Ilse. »Für mich hat er nichts als dumme Neckereien. Mich nimmt er nicht ernst.« Ein merkwürdiges Gefühl gegen die Cousine, mit der sie ein Herz und eine Seele war, stieg in Ilse empor. Niemals hatte Ilse zuvor Eifersucht empfunden. Aber jetzt brannte das in der Brust da drinnen, brannte in den Augen, daß Ilse jeden Augenblick fürchtete, die Tränen nicht länger zurückhalten zu können. Herrgott, sie war doch kein dummes Gör mehr. Schämte sie sich, eine Sprachlehrerin in den Oberklassen des Mädchenlyzeums, denn gar nicht, sich so kindisch wie die Backfische zu benehmen, die sie unterrichtete?
Tante Albertinchens stereotypes: »Ei, Annemiechen, du bist noch auf?« war endlich auf fruchtbaren Boden gefallen. Vronli mußte unweigerlich ins Bett. Annemarie hatte ihr schlafendes Nesthäkchen bereits überseite gebracht.
»Tante Ilse soll mitkommen!« Ilse Hermann war ganz besonders beliebt in der Hartensteinschen Kinderstube.
Ilse begrüßte Vronlis Bitte wie eine Erlösung.
Aber auch Hansi hatte seine Wünsche, trotzdem ihm die Augen fast zufielen. »Ontel Tlaus soll mit.« So kam es, daß an einem Kinderbettchen Ilse mit Vronli betete, während in dem anderen Onkel Klaus dem dicken Hansi noch flink Kobolzschießen beibrachte.
Wie liebevoll mütterlich Ilse Hermann mit dem Vronli zu sprechen verstand. Und der sollte es damit ernst sein, daß sie froh war, weder Mann noch Kinder zu haben, daß sie sich ihrer Unabhängigkeit freute? Hahaha! – – Klaus mußte vor sich hinlachen, da kannte er sie entschieden besser.
»Na, Ilschen, wollen wir uns wieder vertragen?« fragte er, als sie zum Wohnzimmer zurückschritten. »Wenn du hübsch abbittest, sollen dir deine unüberlegten Äußerungen verziehen sein.«
Er machte sich schon wieder über sie lustig. Zu Marlene würde er niemals so zu sprechen wagen. Diese letzte Überlegung machte Ilses Ton wieder schärfer, als dies sonst wohl der Fall gewesen.
»Laß deine kindischen Bemerkungen! Du scheinst nur noch an den Verkehr mit Bauernmädeln gewöhnt zu sein, nicht an den mit Damen.«
»Du überschätzt mich, kleine Kratzbürste. Ich verkehre jetzt nur noch mit Rindviechern und Gänsen.« Klaus amüsierte sich innerlich über die »kleine Kratzbürste«, während Ilse sich vor Ärger die Lippen blutig biß.
Drinnen war man inzwischen zur Musik übergegangen. Tante Albertinchen, die jetzt nicht mehr mit Essen beschäftigt war und im Lehnstuhl ein kleines Nickerchen machte, flötete in holden Schnarchtönen. Rudolf saß am Klavier und begleitete seine Schwester Ola, die das Beethovensche Lied »Ich liebe dich, so wie du mich« mit weicher Altstimme sang.
Als sie geendet, hatten sich die Paare verschoben. Annemarie hatte den Arm um ihren Mann geschlungen, Ola lehnte den Kopf an die Schulter von Hans. Klaus stand zwischen Marlene und Ilse.
»Ein wundervolles Lied, nicht, Marlene? ›Da war kein Tag, wo du und ich nicht teilten unsere Sorgen‹ – welch tiefe innige Gemeinschaft liegt sowohl in den Worten wie in der Musik. ›Unabhängige Frauen‹ können das wohl nicht nachempfinden?«
»Erst recht, Klaus. Wenn eine unabhängige Frau ihre Selbständigkeit aufgibt, um einem Manne zu folgen, wird die Gemeinschaft und Kameradschaft nur um so fester sein«, ereiferte sich Marlene. »Meinst du nicht auch, Ilse?«
»Ich weiß nicht, ich kann mich da überhaupt nicht hineindenken.« Ilse wandte sich schnell ab.
Während Vera ein polnisches Volkslied, das sie noch von der Mutter her kannte, vortrug, trat Ilse zur Veranda hinaus. War es noch das Beethovensche Lied oder die Worte von Klaus, was ihr die Tränen in die Augen trieb?
»Jotte doch, hab' ick ma aber verschreckt! Sind Se mondsichtig, Fräulein Ilseken, oder valiebt?« Hanne, welche die Speisenreste auf der Veranda kühl aufbewahren wollte, fuhr entsetzt zurück. »Kommen Se man wieder mit rin in de jute Stube. Es is ieberhaupt Zeit, daß wa uns uff de Sockens machen. Dokters brauchen Ruhe. Was er is, rennt so 'n janzen Tag in Praxis rum. Und was unse jnädije Frau Jroßmamachen is, is heit' ooch keen Jingling nich mehr. Flora'n hab' ick ooch schon 'n paarmal munter jerittelt, die klappt wie 'n schieliger Schellfisch mit de Oogen mitten bei's Abdrocknen. Ick jeh jetzt – nu is jenug mit de Musike!« Letzteres verkündete Hanne laut und ungeniert mitten hinein in den »Wanderer«, den Rudolf soeben sang.
»Wenn ich den Wanderer frage, wo gehst du hin?
Nach Hause – nach Hause – – –«
»Jawoll, Herr Dokter, wa jehen ja schon nach Hause. Hier bring' ick bereits de Sachen.« Rudolf konnte vor Lachen nicht weiter singen.
Annemarie schimpfte lachend, daß Hanne ihr die Gäste vertreibe. Aber Großmama war in der Tat kein Jüngling mehr und hatte noch einen Weg von einer Stunde vor sich.
So machte man sich wirklich »auf die Socken«. Rudolf und Annemarie gaben den lieben Gästen wie stets das Geleit bis zur Elektrischen.
Klaus ließ es sich, trotz Ilses Protestes, nicht nehmen, die beiden Cousinen nach Hause zu bringen, während Peter ritterlich Vera und Margot begleitete.
Marlene und Klaus trugen die Kosten der Unterhaltung. Ilse trabte – ihrer sonstigen Natur ganz entgegen – schweigsam nebenher.
»Schläfst du schon, Ilse?« Marlene gab ihr einen aufmunternden Puff.
»Laß mich – ich bin abgespannt!«
»Ich habe das Pech, bei Fräulein Oberlehrer heute ein schlechtes Zeugnis zu bekommen«, zog Klaus sie auf. »Aber ich sammle glühende Kohlen auf ihren blonden Scheitel. Wenn ich erst das Gut habe und die Kuh – die Frau ist nicht unbedingt nötig – lade ich euch mit Annemarie zusammen für die Sommerferien ein. Dich, Marlene, und deinen getreuen Schatten.«
»Ich will keinen Schatten auf euren Weg werfen, – auf mich brauchst du nicht zu rechnen – gute Nacht!« Da hatte Ilse auch schon die Haustür aufgeschlossen und ebenso schnell wieder zugeschlagen. Sie hörte noch Marlenes erstauntes: »Ja, was hat denn die Ilse heute bloß?«, und das Lachen von Klaus: »Kleine Kratzbürste!«