Else Ury
Nesthäkchen und ihre Küken
Else Ury

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11. Kapitel.

Wie einst im Mai.

Hanne mußte Pfannkuchen backen. Die gehörten unbedingt zum Kränzchen. Eigentlich gehörte auch Klaus dazu, der sie fortstibitzte. Aber der saß auf seinem neuerworbenen Gut an der Waterkant und hatte Wichtigeres zu tun. Überdies wurde er auch von seinem kleinen Neffen Hansi würdig vertreten. Denn noch bevor das Kränzchen sich versammelte, lag Hansi schon kreuzelend mit verdorbenem Magen im Bett und wollte von Pfannkuchen nichts mehr sehen und hören.

In Annemaries Mädchenreich war der Kaffeetisch gedeckt. Nicht im Eßzimmer. »Wie einst im Mai, Muttchen, wenn auch die Kränzchenblüten inzwischen keine Frühlingsblümchen mehr sind.«

Die Kinderbettchen störten durchaus nicht. »Doch mal was anderes«, fand Annemarie. »Abends, wenn die Gören ins Bett müssen, gehen wir ins Speisezimmer.«

Nur Hansi, der unprogrammäßig Bettruhe brauchte, ward ins Schlafzimmer der Großeltern einquartiert. Dort lag er, ließ sich von der Omama mit Pfeffermünztee pflegen, von Opapa »gesund messen«, und lachte nicht mal zu den Aufheiterungsversuchen seines Freundes Puck.

»Das olle Puttßen soll rausdesmeißt werden«, verlangte er. Denn er war wütend, daß Puck gesund war und er nicht. Hatten sich die drei Kinder doch schon tagelang vorher auf Muttis Kränzchen gefreut.

»Mutterli, kriegen wir auch ein Kränzchen?« erkundigte sich Vronli.

»Lein-Usche auch Tänßen.«

»Aber natürlich, ihr bekommt alle ein Kränzchen«, lachte die Mutter. »So, Vronli, du bist meine Große, nun räume alles Spielzeug hübsch ordentlich dort in die Ecke.« Sie begann den Tisch zu decken und dachte an so manches Backfischkränzchen, das hier an dem gleichen Tisch getagt.

»Ist heute Kindergesellschaft, Muttichen?« erkundigte sich Vronli, weil der Kaffeetisch in der Kinderstube gedeckt wurde. Zu diesem Ehrennamen war Annemaries Mädchenzimmer jetzt avanciert.

»Ja, Mutti hat Kindergesellschaft. Komm, Vronli, du darfst die Löffelchen herumlegen.«

»Lein-Usche auch Löffelßen.« Auch Ursel bekam einige Löffel ins Händchen. Es machte Annemarie ganz besonderen Spaß, in Gemeinschaft mit ihren beiden kleinen Mädchen den Kränzchentisch zu ordnen.

Vronli tat es mit viel Geschick. Sie war entschieden hauswirtschaftlich begabter, als ihre Mutter früher. Ursel dagegen, die noch nicht auf den Tisch gucken konnte, ob der Löffel auch richtig lag, riß aus lauter Ordnungssinn die Tasse zu sich herab.

»Paputt!« verkündete sie mit strahlendem Gesichtchen, als hätte sie Gott weiß was für ein Kunststück vollbracht.

»Ja, kaputt ist die schöne Tasse. Du bist ein ganz unartiges Kind! Laß nur die Omama kommen, die wird dich schon verhauen.«

»Omamas hauen nicht!« sagte Vronli mit sechsjähriger Weltweisheit.

Die Omama kam, denn Ursel schrie wie am Spieß. Sie beruhigte das süße Kind mit Küssen und Schokolade. Und war höchlichst erstaunt, als Ursel, immer noch schluchzend, sich erkundigte: »Piebe, lixte Omama, wann diebt's denn die Haue?«

Dereinst im Mai kam man um vier zusammen. Jetzt wurde es sechs, und die Kaffeegäste ließen noch auf sich warten. Hanne schimpfte über die neuen Moden. »Nehmen Se mich's nich iebel, Frau Doktern Annemiechen, aber dis war frieher doch ville scheener. Kaffe war Kaffe und Abendbrot war Abendbrot. Jetzt jeht das allens in ein Jemansche, wie ins Deutsche Reich.«

Vronli und Ursel wurden müde, gelangweilt und ungezogen. Vronli weinte, weil die »Kinder« noch immer nicht kommen wollten. Ursel vergnügte sich damit, ihr Kränzchen – die beiden hatten nicht eher geruht, als bis die Omama ihnen aus alten Hutblumen jedem ein Kränzchen geflochten hatte – in Atome zu zerzupfen und damit den Fußboden zu garnieren. Nun weinte sie, weil es klingelte und sie kein Kränzchen mehr hatte.

»Sie kommen!« Vronli rannte der schwerfälligen Hanne voraus zur Tür vor lauter Erwartung.

»Sachteken, Mauseken, haben die uns so lange lauern lassen, kennen se sich ooch janz ruhig 'n bißken verpusten.«

»Och, bloß Tante Marlene und Tante Ilse!« Es klang grenzenlos enttäuscht. Sonst pflegte Vronli immer große Freude mit den Tanten zu haben.

»Vronli, was ist denn mit dir los?« Ilse kam die Zurückhaltung verdächtig vor. »Du hast doch sicher was ausgefressen?«

»Nee, das war Hansi. Der liegt mit verdorbenem Pfannkuchenmagen in Omamas Bett.«

»Ja, Vronli, bekomme ich denn gar keine Hand und gar kein Küßchen? Freust du dich denn heute nicht ein bißchen mit uns?« verwunderte sich auch Marlene, Hut und Mantel ablegend.

»Nee!« Die Antwort ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.

»Na, dann will ich von dir auch nichts wissen, Vronli, wenn du so unartig bist.« Die Lehrerin meldete sich in Marlene.

»Na, wenn ihr auch gerade heute kommen müßt, wo Mutti Kindergesellschaft eingeladen hat«, verteidigte sich Vronli weinerlich.

»Aber Vronli, wir sind doch die eingeladenen Kinder.« Ilse lachte von Herzen.

»Nee, ihr seid nimmer Kinder. Ihr seid olle Tantens!« Das klang geradezu empört.

»Hahaha – nun wissen wir doch, was wir sind, Ilse – – –.«

»Tag, Annemiechen, deine Tochter hat entschieden an aufrichtiger Grobheit etwas von ihrem Onkel Klaus geerbt – – –.«

»Tag, Kinder. Später könnt ihr wohl auch nicht kommen. Vronli, warst du etwa frechdachsig? Wenn du dich nicht anständig benimmst, wirst du nicht zum Kränzchen zugelassen«, drohte die Mutter.

»Will ich auch erst nimmer. Wenn halt bloß lauter alte kommen – – –«, knurrte das Töchterchen enttäuscht.

»Läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. So jung bin ich mir heute vorgekommen, als ich wieder mit Marlene zum Kränzchen hier nach Charlottenburg hinauszog, als ging's noch im Flügelkleid und mit dem Backfischzopf. Und jetzt ist das Vronli so grausam, mir meine Illusion zu zerstören.« Ilse seufzte drollig.

»Sieh mal, Vronli, Tante Ilse ist ganz traurig, weil du nicht lieb zu ihr bist«, sagte Annemarie halblaut zu ihrer Großen.

Da siegte Vronlis gutes Herzchen über ihre Enttäuschung. Sie schlang den Arm um den Hals der blonden Tante und riß sie beinahe um vor lauter Liebe.

Marlene sah nachdenklich auf ihre Freundin Annemarie. Merkwürdig – eine Mutter hatte doch mehr unbewußte Pädagogik als eine Lehrerin, die zum Examen Rousseau und Pestalozzi gepaukt hatte. Sie hatte noch soeben gefunden, daß Annemarie nicht streng genug dem Kinde gegenüber gewesen und nun zeigte es sich, daß die Mutter mit einem guten Wort mehr erreichte, als mit zehn strengen.

»Komm rein, Tante Marlene, 's gibt halt Pfannkuchen; in der Kinderstube wird Kaffee getrunken.« Vronli zog sie aus ihrem Sinnen mit ins Zimmer hinein.

»Wie hübsch, daß du wieder in deinem Mädchenstübchen gedeckt hast, Annemie – – –.«

»Natürlich, wenn Kindergesellschaft ist.«

»Lein-Usche auch Tinnerdesellßaft.« Ursel saß bereits als erste am Kaffeetisch und hatte den größten Pfannkuchen beim Wickel. Nach und nach »krümelten« sich auch die andern zusammen.

Ursel wurde von jeder regelrecht abgeknutscht, was sie nicht leiden konnte. Sie wehrte sich so energisch dagegen, daß die erste Tasse Kaffee, die Annemarie einschenkte, sich über die Kaffeedecke ergoß.

»Wie einst im Mai – nur daß du dich da mit Klaus geprügelt hast, anstatt daß deine Tochter das jetzt besorgt. Weißt du noch damals die Pfannkuchen? Von dem letzten bissen wir alle sechs abwechselnd ab, weil jeder ihn der andern großmütig überlassen wollte. Ach – eigentlich waren das doch noch schönere Zeiten als jetzt!« Ilse ließ sich nichtsdestoweniger den Pfannkuchen heute ebenso schmecken wie damals.

»Kann ich gar nicht finden. Damals hatte ich meinen Rudi und die drei Bälger noch nicht. Wenn sie mich auch manchmal bis aufs Blut quälen, ich tausche sie doch nicht gegen alle lustigen Streiche der Backfischzeit ein«, sagte Annemarie innig, ihr Kleines ans Herz drückend.

»Jüßes, lixtes, einjes Muttißen!« Was Ursel an Zärtlichkeiten kannte, warf sie der Mutter freigebig an den Kopf. »Willte nu mit Lein-Usche pielen?«

»Nein, Urselchen, heute nicht.«

»Fahum niß?«

»Weil ich nicht will.«

»Das sagt man nicht«, korrigierte Vronli.

»Muttißen, du soll aber willen, bitte, bitte, will doch mal!« Ursels Unterlippe schob sich vor, das war ein ebenso sicheres Zeichen für den Beginn des Konzertes, als wenn in einem Orchester die Instrumente gestimmt werden.

Marlene nahm den kleinen Quälgeist auf den Schoß. Sie wollte schon mit ihm fertig werden. Annemarie war viel zu nachgiebig. »Still bist du, verstanden – ganz still!« Die Tante setzte ihre gestrenge Lehrerinnenmiene auf.

Der Erfolg war schlagend. Ehe sich's Marlene versah, hatte sie von der kleinen Hand eine Ohrfeige fort, daß das Fräulein Doktor gar nicht wußte, wie ihm geschah.

»Olle lixte, ekliße Göre!« Ursel schimpfte aus Leibeskräften:

»Göre – haha – Tante Marlene ist eine Göre – – –.« Vronli, die sich gottvoll amüsierte, erreichte das mütterliche Strafgericht zuerst. Sie befand sich plötzlich außerhalb des Zimmers, ohne eigenes Zutun.

Ursel wurde hinterher spediert, trotzdem die Freundinnen, die sich vor Lachen über die Schlagfertigkeit Ursels ausschütten wollten, für sie baten.

Ilse neckte Marlene: »Schade, daß deine Klasse das nicht mit angesehen hat, Fräulein Doktor.«

»Was fange ich nur mit meinen ungeratenen Kindern an?« Annemarie machte ein verzweifeltes Gesicht, was die Heiterkeit noch erhöhte.

»Halt in die Spree werfen, das ist das einfachste.« Im Türrahmen ward der Herr Gemahl sichtbar, die beiden soeben an die Luft Gesetzten zärtlich im Arm.

»Rabenvater, was hast denn du überhaupt hier schon zum Kaffeekränzchen zu suchen!« Freudestrahlend hing Annemarie als dritte Rudi am Hals.

»Wie lange Jahrre seid ihrr eigentlich schon geheirrattet?« erkundigte sich Vera mit scheinheiligem Gesicht.

»Grad' lang genug, daß meine treulose Frau im Tiergarten mit anderen Herren promeniert und sie sich sogar heimlich zum Kränzchen einladet. Aber ich bin halt hinter ihre Schliche gekommen. Ich hab' ihn abgefangen, den Schwerenöter – – –.«

»Ach, meine Überraschung! Ist er schon da? Jetzt ratet, Marlene und Ilse, wen ich euch hier gleich zum Kaffee servieren werde?«

»Klaus – – –«, entfuhr es Ilse.

»Nee, von dem habe ich nur einen Brief, er und Peter haben die beiden Güter gekauft. Das ganze Kränzchen ist zum Sommer feierlich an die Waterkant eingeladen.«

»Es gibt auch noch mehr Männer auf der Welt, Ilschen«, neckte Marlene, was ihr einen bitterbösen Blick der errötenden Cousine eintrug.

»S' ischt halt a schwäbisches G'richt, luegt Kinderle, kennt ihr'sch oder kennt ihr'sch nimmer?« schwäbelte Annemarie ausgelassen, einen Herrn wie einen Kinderwagen vor sich herschiebend.

»Grüß euch Gott, Ulrich und Hermann – 's Dreimädlehaus halt wieder eröffnet?«

»Die Viehmuse – nein, die Viehmuse!« schrie Ilse erfreut. »Hast das Karpfenaug' nicht auch mitgebracht?«

»Der Frau Neschthäkche war ich auch ohne Karpfenaug' willkommen, die ischt und bleibt halt die beschte. Wenn der Herr G'mahl nix dagege hat.« Er machte eine Verbeugung zu Rudi hin.

Nein, der Herr Gemahl hatte gewiß nichts dagegen, der war durchaus derselben Meinung. Während Krabbe die übrigen Freundinnen, die ihm von der Hochzeit her noch bekannt waren, begrüßte, zupfte Marlene Ilse nachdrücklich.

»Du kannst doch nach hundert Jahren nicht mehr einen wildfremden Menschen mit Viehmuse und du anreden, Ilse. Bodenlos finde ich das! Wir sind doch keine Gören mehr«, ereiferte sie sich halblaut.

»Urselchen ist anderer Meinung, du ›ekliße Göre‹. Zur Viehmuse soll ich Sie sagen? Nee, das bringe ich nicht fertig. Gouvernantchen. Dazu habe ich die Erinnerung an unsere lustige Tübinger Studentenzeit viel zu lieb.«

»Wen hast lieb, Hermann?« erkundigte sich die Viehmuse neckend. »A Affenschand ist's halt, daß so a arg sauberes Mädle fremde Kinder erziehen tut und nimmer die eigenen. Hätt' ich nit daheim schon ein brav's Weible sitze, i tät dich halt nehme, Hermann.«

»Aber ich dich nicht, Viehmuse«, gab Ilse schlagfertig zurück.

»Der Klaus ist sehr zufrieden mit seinem Gutskauf. Nur einsam wird's im Winter werden«, berichtete da Annemarie scheinbar ganz unbefangen. Aber der Zusammenhang zu dem Vorhergegangenen jagte Ilse doch alles Blut ins Gesicht.

Die Intima war so nett, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»So, Kerr Krabbe, nun berichten Sie mal, wie es Ihnen in der langen Zeit ergangen ist«, wandte sie sich an den Schwaben.

»Hascht Spätzli im Kopf oder bischt besoffe, Ulrich? Du bischt ja guet – Kerr Krabbe,« er sprach ihr geziert nach, »– – brrr – darauf muß i halt erscht a Schnaps trinke.« Aus dem einen Schnaps wurde eine ganze Runde, an dem sich auch das Kränzchen beteiligte.

»›Einst im Mai‹ war man doch mäßiger im Alkoholgenuß«, lachte Annemarie. »Margot, du hast bereits eine rote Nase. Willst du noch ein Schnäpschen?«

»Lein-Usche Näpßen – auch Näpßen haben –, ischt dasch Lein-Usche sein?« Die energische kleine Person hatte das Glas der Viehmuse beim Wickel.

»Teufelsmädle – bischt ja deinem Mutterli halt aus dem G'sicht g'schnitte. Und schwätze tut's, als sei's nimmer aus dem Sündenbabel Berlin, sondern halt aus unserem liaben Schwabeland. Hascht mich denn liab, Urschele?« Er nahm das kleine Ding aufs Knie.

»Dar niß pieb miß!« Ursels deutliche Ablehnung steigerte die frohe Laune.

»Auch nimmer, wenn i halt Zuckerle hab?«

»Mal jehnen, mal jehnen, Usche Schutterle jehnen!« Ursel läutete ungeduldig am Schnurrbart des neuen Onkels. Erst eine umfangreiche Bonbontüte befreite die arme Viehmuse.

Auch Vronli, die sich bei dem Wort Zuckerle nähergepirscht hatte, nahm ihre Tüte mit einem wohlerzogenen Knicks, der Nesthäkchens Erziehung wieder zu Ehren brachte, in Empfang.

»So a brav's Mädle, so a liabs!« Die Viehmuse klopfte ihr anerkennend die Wange. »Neschthäkche, hascht die auch nit vertauscht? Das ischt halt nimmer dein Mädle. So arg brav bischt dein Lebtag nit gewesche. Und der Herr filius? Wo steckt denn der halt?«

»Verfresse hat er sich, Viehmuse, an Pfannkuche, weischt!« Der ganze Übermut ihres Studentenjahres brach sich bei Annemarie wieder Bahn. Sie konnte sich nicht helfen, trotz ihrer Frauen- und Mutterwürde, sie mußte den schwäbischen Studienfreund mit seinem Dialekt wie einst im Mai wieder aufziehen. »Drin im Bett liegt er krank, der Hansi – – –.«

»Nee, isse schon wieder danz desund, dehaupt niß mehr trank. Opapa Tätatur demeßt, danz desund demeßt. Hansi kann ßon wieder Fanntuchen essen und Bomboms auch.« Mitten in der Tür stand der kleine Hosenmatz. Seine weißen Nachthöschen leuchteten mit den begehrlich auf die Bonbontüten der Schwestern gerichteten Blauaugen um die Wette.

»Der Hansi! Buble, willst wohl wieder ins Bett!« Da saß er bereits auf der Schulter des Vaters. Rund und rosig, man sah ihm die ausgestandene Not durchaus nicht mehr an.

»Der Hansi, der war kerngesund,
ein dicker Bub und kugelrund«,

zitierte Frau Marianne scherzend. »Ich wünschte, mein Baby nähme so zu!«

»Halt guet imstand sind's. Kannscht stolz sein auf deine Füllen, Neschthäkche.«

»Du bist hier nicht auf Praxis, Viehmuse.«

»Du, Ontel Vieh!« Krabbe, der mit Ilse und Marlene Tübinger Reminiszenzen vorzukramen begonnen hatte, fühlte sich plötzlich nachdrücklich gepufft. »Haschte dehaupt teine Bomboms für Hansi mitdebingt?« Der Kleine fand es nötig, sich wieder in Erinnerung zu bringen.

»Recht hascht, die Zuckerle vom Viehonkel. Ja, schau, Büble, wo sind denn die hing'raten? Die müsse mir halt g'stohle worde sein.« Die Viehmuse suchte in allen Taschen.

»Verstohlen? Hansis Bomboms verstohlen? Alle verstohlen?« Der Kleine schien das Unglück gar nicht fassen zu können.

»Juch mal – juch mal, Onte Vieh«, erschallte da ein Stimmchen in seliger Überlegenheit.

»Die Elster – die diebische Elster war halt an der Tasche. Und da sagen's noch, Krabbe, meine Frau kann stolz auf unsere Küken sein. Ursele, wo hast denn die Bonbons hingetan? Sag's dem Vaterli, gelt?«

»Da.« Klein-Ursel wies auf ihren Mund.

Wie der Wind war der Hansi trotz seiner Rundlichkeit von des Vaters Schulter. Raubtierartig stürzte er sich auf das nichtsahnende Schwesterchen.

»Dleich dibst die Bomboms her, du flixtes Ding! Muttißen, die olle Uschel hat mein seine Bomboms verstohlen, das sind mein seine! Dibst oder dibst niß!« Wie die Kampfhähne gingen die beiden winzigen kleinen Menschlein aufeinander los, zum höchsten Gaudium der Großen. Heulend wälzten sie sich beide, zu einem knuffenden, stoßenden und beißenden Klumpen geballt, auf dem Fußboden.

»Klaus und Annemie Nachfolger. Das Zimmer hier hat schon mehr solche Kämpfe mit angeschaut«, lachte Ilse Hermann.

»Aber Kinder, schämt ihr euch denn gar nicht – – –.« Die pflichtgemäße mütterliche Ermahnung verhallte fruchtlos.

Erst ein energischer Klaps Annemaries auf die Erziehungsfläche ihrer entfesselten Brut ließ die kleinen fauchenden Tigerkatzen voneinander ablassen. In zwei getrennten Zimmern sperrte man sie ein, woher noch immer Hansis Wehklagen über die »verstohlenen Bomboms« und Ursels schon wieder neckendes Stimmchen herüberklang: »Juch mal – juch mal!«

»Eine Rasselbande! Ihr lediges Volk wißt gar nicht, was solch eine arme Mutter alles auszustehen hat!« Ganz echauffiert war Annemarie.

Frau Doktor Braun, die inzwischen sämtliche schreienden Enkelchen beruhigt hatte, bat ins Wohnzimmer, damit die Kinder wieder in ihr Reich einziehen konnten.

»Sie sind nur müde, sonst hört man sie den ganzen lieben Tag nicht«, begütigte sie nach Großmütterart.

»Freilich, freilich, sonst können sie kein Wässerlein trüben, gelt, Schwiegermutterle?« Frau Doktor Braun ließ es sich gern gefallen, von ihrem Schwiegersohn ein bißchen aufgezogen zu werden.

»Ihr Großen habt schuld, wenn die Kleinen schreien. Ihr versteht sie nicht richtig zu nehmen. Bei mir weint kein Kind«, sagte sie.

»Weil du ihnen allen Willen tust, mein Muz«, lachte auch Annemarie. »Aber nun wollen wir wirklich das Feld räumen. Das war heute ein Kaffeekränzchen mit Pfannkuchen und Kleinkindergeheul. War's am Ende nicht doch besser dereinst im Mai?«



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