Else Ury
Nesthäkchen und ihre Küken
Else Ury

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7. Kapitel.

Ein neues Semester.

Die Oktoberferien hatten nicht gehalten, was sie versprochen. So sonnenhell und sonnenwarm sie sich angelassen hatten, über Nacht war plötzlich der Herbst von Osten her mit kalten Winden einmarschiert, hatte das bißchen Sonnengold und Sonnenfreude, an das man sich noch klammerte, in graue Regensäcke gesteckt. Die metallflimmernden Blätter zitterten jetzt welk und tot an stöhnendem Geäst, soweit sie nicht von dem großen Windbesen über den Haufen gekehrt worden waren.

Ilse Hermann war das Wetter gerade recht. Herbstgraues Vergehen – das war die Stimmung, in der sie die Oktoberferien, für die sie wochenlang vorher mit Marlene gemeinsame Pläne geschmiedet hatte, verbrachte. Alles war dem Wechsel unterworfen. Auch Freundschaft, auf die man felsenfest gebaut hatte. Nichts hatte mehr Bestand.

Ilse vergrub sich in dieser grauen Herbststimmung wie ein Maulwurf in ihren Bau. Sie stürzte sich in die Anforderungen des Haushalts, als könnte sie alles, was sie quälte, durch körperliche Arbeit betäuben. Sie schneiderte ihre Wintersachen und behauptete, sooft Marlene mal zu Baurats nachschauen kam, wie es ginge, sooft die Cousine sie in eine Galerie oder zu einem Konzert entführen wollte, absolut keine Zeit zu haben. Auch die Mutter, die auf Ilse viel Einfluß hatte, und die der Tochter ein Herauskommen bei all ihrem Fleiß recht gönnte, redete vergebens zu.

Da wurden auch Marlenes Besuche seltener. Man sah sich nur noch am Familientag des Sonntags, an dem Ulrichs und Hermanns von jeher zusammenkamen. Dann war das Gespräch allgemein. Zu einer intimen Aussprache zwischen den Cousinen kam es nicht mehr. Man unterhielt sich von allem Möglichen, keins der Familienmitglieder merkte irgendeine Spannung zwischen den beiden. Aber die Tatsache bestand doch: Das tiefinnerliche Einvernehmen zwischen den Unzertrennlichen war gestört – die Freundschaft hatte einen Knacks.

Ein häßlicher Regenmorgen war es, der zwölfte Oktober, an dem das neue Wintersemester für die Berliner Schulen begann. Düster und grau sah alles aus. Der Himmel mit seinen flatternden Wolkenfetzen, die nebelverhangene Straße, die müde und verdrossen in den Beruf eilenden Menschen. Lehrer und Schüler gingen unter dem Einfluß des lastenden Regengraus unfroh an ihre Arbeit.

Marlene hatte lange überlegt, ob sie, wie sonst, an der Ecke auf Ilse warten sollte. Das Alleinsein mit der Cousine war für beide Teile unerfreulich.

Aber nein – Marlenes ernstreifes Wesen trug schließlich den Sieg über ihre Empfindlichkeit davon. Nein – wenn Ilse so kindisch war, sie aus purer Eifersucht, die jeder Grundlage entbehrte, zu meiden, sie selbst wollte keine Handhabe zu einer Entfremdung geben. Dazu hatte sie die Freundin zu lieb.

So stand Marlene fröstelnd im Regengeriesel wartend an der Straßenecke. Sie sollte nicht lange harren. Ilse war heute zeitiger als sonst zur Stelle. Die bange Erwartung, die sie kaum hatte schlafen lassen – würde Marlene da sein? – trieb sie vorwärts. Sie wußte nicht mal, ob sie es wünschen sollte oder nicht. Aber als Ilse jetzt Marlenes schlanke Gestalt erblickte, durchfuhr sie doch ein freudiger Schreck.

»Guten Morgen,« sagte sie ein wenig beklommen.

»Guten Morgen, Ilse.« Als sei gar nichts geschehen, schob Marlene ihren Arm in den der Freundin, sie mit ihrem Regendach beschirmend. Denn Ilse Hermann nahm prinzipiell keine »Musspritze«, wie sie den Regenschirm nannte, mit. Sie ließ ihn ja doch irgendwo stehen.

Stumm schritten sie unter dem tropfenden schwarzen Pilz dahin.

»Ja, Ilse, soll das nun immer so unerquicklich zwischen uns bleiben?« durchhieb Marlene mit jähem Entschluß das beklemmende Schweigen.

Ilse zuckte zusammen. »Ich habe unser Beisammensein nicht so unerquicklich gestaltet; ich bin nicht schuld, und ich – leide am meisten dadurch.«

Das letzte verklang fast in dem Regengepladder, so leise war es gesprochen.

Es mußte aber doch wohl verstanden worden sein. Ilses Arm ward liebevoll gegen Marlenes Brust gedrückt.

»Dummes Ilsenkind – um nichts und wieder nichts quälen wir uns alle beide, verderben uns die Ferien und finden den Weg nicht zueinander, wo wir sonst jeden Gedanken, jede Regung des anderen kannten und nachfühlten.«

»Das ist's ja eben,« regte sich Ilse auf. »darum gerade habe ich es ja doppelt schwer empfunden, daß du mich so – so – – enttäuscht hast.«

»Redensarten, Ilse! Wollen wir das Kind nicht mal beim richtigen Namen nennen? Du nimmst an, daß irgendwelche über das Freundschaftliche hinausgehende Beziehungen zwischen mir und Klaus bestehen. Das ist Unsinn, sage ich dir hiermit noch einmal. Hirngespinste deiner grundlosen Eifersucht. Denn daß du – – –«

»Bitte, sprich nicht weiter, Marlene!« Ilse wurde blutrot bis zu dem Blondhaar. »Ich kann darüber nicht reden, auch – mit dir nicht.«

Wieder ging es stumm unter tropfendem Naß dahin.

»Früher gab es keine Schranke zwischen uns, Ilse, da sprachen wir über alles,« meinte Marlene traurig. »Ich verstehe dich nicht.«

»Ja, ich verstehe mich selbst jetzt nicht mehr, Marlene, wie soll es da ein anderer tun. Nur eins fühle ich deutlich: Daß ich mich mächtig dämlich benommen habe, und daß ich mich entsetzlich vor dir schäme.« Wessen sie sich schämte, ob ihrer unberechtigten Vorwürfe, ihrer Eifersucht oder der wärmeren Gefühle gegen den Freund, die offenbar geworden, das blieb dahingestellt.

Marlene mit zartem Verstehen ging auch nicht weiter auf die Frage ein.

»Ich denke, wir machen einen dicken Strich unter diese häßliche Episode, Ilse. Schlimm genug, daß sie uns die Ferientage so verdorben hat.« Warm blickten sich die Freundinnen in die Augen, und es war nicht mehr häßliches, drückendes Regenwetter rings um sie her.

»Natürlich, die beiden Unzertrennlichen wieder Arm in Arm!« Ein kecker junger Spatz piepste es einer Freundin laut genug zu, daß es bis zum Ohr der jungen Lehrerinnen drang.

Aber der Verweis, den es zu anderer Zeit sicherlich für die vorlaute Bemerkung gesetzt hätte, blieb heute aus. Im Gegenteil, das strenge Fräulein Dr. Ulrich lächelte und drückte ihrer Intima zärtlich die Hand.

Frohen Auges ging eine jede von ihnen in das neue Semester hinein. – – –

Es gab noch mehr junge Augen, die das Frieren und Vergehen der Natur nicht sahen, die so sonnenhell in den griesgrämigen Regenmorgen blickten, daß es auch der Umgebung hell zumute wurde. Sie gehörten zu Vronli Kartenstein, die heute zum erstenmal in die Schule gehen sollte.

Noch früher als der Kahn hatte sich das Vronli heute gemeldet, um nur ja nicht den wichtigen Termin zu verschlafen. Alle Stunde war es da, wie der Kuckuck aus der Kuckucksuhr, die in der Diele hing.

»Vronli, wenn du nit Ruhe gibst, darfst überhaupt nimmer in die Schule gehen,« sprach der müde Vater ein Machtwort.

»Dann muß ich einen Entschuldigungszettel kriegen, gelt, Vaterle? Au, das wäre auch fein!« Wie es auch kam, was das Schicksal ihr auch bescherte, Vronli hatte die glückliche Gabe, es stets gut zu finden.

»Mutterli, wann ist's denn sieben?« Das Kind war so aufgeregt, daß es keinen Schlaf finden konnte.

Annemarie hielt es für geraten, sich tot zu stellen. Da gab's auch in der Kinderstube wieder Ruhe, wenigstens für eine Weile. Bis wieder ein kleiner hellbrauner Struwwelkopf in der Verbindungstür erschien.

»Nu ist's aber bestimmt Zeit – ich kriege sonst einen Tadel.«

»Und das soll ich zehn Schuljahre lang aushalten, und bei dem Trio mit drei multipliziert, gar dreißig Jahr lang? Nein, das kann unser Herrgott nit wollen, daß ein Vater so arg geplagt ist«, stöhnte Rudi.

So müde Annemarie war, sie mußte doch über dies merkwürdige Rechenexempel ihres Mannes lachen.

»Jetzt biste ausgeschlafen, Mutterli, gelt? Jetzt darf ich aufstehen?« Vronli hatte ihren Vorteil sofort erfaßt.

»Aber, Vronli, es ist ja erst fünf Uhr. Gleich legst du dich wieder hin. Mutti weckt schon zurzeit. Wenn du nachher in der Schule einschläfst vor lauter Müdigkeit, lachen dich die Kinder aus.«

Das letzte Argument zog. Die kleinen nackten Füße tappten in das Bett zurück. Und bald kamen beruhigende Atemzüge aus der Kinderstube. Trotz des Schulfiebers war Vronli noch mal eingeschlummert. Auch Annemarie besorgte das so gründlich, daß sie ganz entsetzt hochfuhr, als der Kuckuck siebenmal seinen Ruf erschallen ließ.

Merkwürdig, wie munter das Kind trotz der nächtlichen Spaziergänge sogleich war. »Weißt du, Rudi, das Vronli ist in allem wie du. Gerade das Gegenteil von mir. Als ich zum erstenmal in die Schule ging, mußte mich Fräulein mit dem nassen Schwamm aus dem Bette holen.«

»Verschähle, Muttißen«, – der Hansi war auch bereits da und ganz Ohr.

»Nee, Jungchen, das kann kein Mensch von mir verlangen, dazu bin ich in dieser grauen Morgenfrühe noch nicht aufgelegt.«

Aber der kleine Mensch verlangte es trotz alledem.

»Verschählen – von naschen Swamm verschählen, Muttißen!« Hansis weinerliche Stimme stellte bereits einen Sologenuß in Aussicht.

Was sollte man tun? Klein-Ursel schlief noch und sollte möglichst nicht gestört werden. Annemarie stieß einen tiefen Seufzer aus – die Kinder erzogen die Eltern.

»Also ich wollte damals nicht aufstehen, und da – – –«, begann Annemarie, während sie Vronlis Zöpfe flocht, mit müder Stimme.

»Dar niß rißtig. Du mußt defällist verschählen, es war einmal – – –«. Hansi war ein strenger Kritiker.

»Also? Es war einmal ein kleines Mädchen,« begann die Mutter, in ihr Schicksal ergeben, »das hieß Nesthäkchen.«

»Iß weiß, wie das dehießt hat, das war unse Uschel,« unterbrach Hansi erfreut.

»Nee, das war gar nicht Klein-Ursel, sondern es hieß Annemarie, und wenn es sehr lieb war, nannte man es auch ›Lotte‹«.

»Meine Lotte!« kam es zärtlich beim Mundspülgegurgel aus dem Nebenzimmer.

»Es hatte zwei Rattenschwänzchen wie das Vronli. Die waren aber blond und – – Vronli, die schwarze Schulschürze wird erst nach dem Frühstück umgebunden, sonst bekleckerst du sie dir mit Milch.«

»Nee – nee – das tommt dar niß in der ßönen Deßißte vor«, begehrte Hansi auf, während Vronli mit einem Mäulchen die graue Leinenschürze vorband.

»Vronli, sind die Nägel auch sauber? Hast du ein reines Taschentuch? Nein, die Schulmappe hat noch Zeit. Erst wird Milch getrunken.«

»Muttißen, weiter verschählen von Neschhäkchsen«, bestand der filius.

»Das Büble redet grad' so, wie deine schwäbischen Freunde aus der Tübinger Studentenzeit, das Karpfenaug' und die Viehmus', gelt, Frauli?« rief Rudi herein.

»Vaterle soll niß immer daswissen dwatsen«, räsonierte Hansi.

»Aber Hansi, das sagt man nimmer zum Vater, das ist arg garstig!« erzog Rudi, während Annemarie sich abwenden mußte, um ihre Heiterkeit zu verbergen.

»Von naschen Swamm verschählen – – –«, der schien dem Kleinen unauslöschlichen Eindruck gemacht zu haben.

»Na ja, also weil ich nicht aufstehen wollte und so schrecklich müde war – – –«

»Das war doch dar niß iß, Muttißen. Das war doch das Neschthäksen.« Jetzt weinte Hansi wirklich vor Ärger.

Seine Mutter aber lachte hellauf. »Richtig, Hansimann, das hatte ich ja bloß vergessen. Also das Nesthäkchen war so schrecklich müde und wollte nicht aufstehen und gähnte in einsweg – – –«.

»Wie du immer, Muttißen, niß wahr?« Hansi schien doch jetzt eine Ähnlichkeit herauszufinden.

»Ja, gerade so wie ich. Und weil es doch zum erstenmal in die Schule gehen sollte, nahm sein Fräulein einen – – –«

»Jnädje Frau, der Kaffe is alle«, schrie Flora, an die Tür bumbernd.

»Ich komme schon, ich gebe gleich Kaffee, Flora.« Frau Annemarie wollte eiligst zur Tür hinaus. Aber sie hatte die Rechnung ohne den Wirt, oder vielmehr ohne ihren Herrn Sohn gemacht. Wie der Wind war der Hansi aus dem Bett. Mit einer Schnelligkeit, die man dem dicken, kleinen Kerl gar nicht zugetraut, hatte er die Mutter beim Zipfel ihres lila Morgengewandes erwischt.

»Was nahm sein Fäulein – was nahm sein Fäulein. Muttißen – bitte, bitte, liebes, einjes Muttißen, was nahm – –«

»Junge, du zerreißt mir ja meinen Morgenrock. Einen Schwamm nahm sie – ja doch, Flora, ich komm' ja schon.« Nun war sie glücklich draußen.

»Du hast dar niß von naschen Swamm verschählt.« Jämmerliches Wehklagen folgte Frau Annemarie.

Die konnte sich aber jetzt nicht um den Schmerz ihres Sprößlings kümmern. Flora, der Idiotenhäuptling – mit diesem Ehrentitel pflegte Annemarie sie wohl ein halbes Dutzend mal jeden Tag insgeheim auszuzeichnen –, Flora hatte den Kaffeetisch draußen in der Veranda gedeckt. Ob sie bei diesem scheußlichen Herbstwetter Frühlingsgefühle hatte oder ob ihr Schielen daran schuld war, genug – die Kaffeedecke glich bereits einem Meer, aus dem Brotkorb, Marmeladendose und Tassen wie Riffe herausragten.

»Aber Flora, wir sollen uns wohl den Tod hier draußen holen! Flink, decken Sie im Speisezimmer auf.«

»Da bin ich noch mittenmang bei's Reinemachen.« Flora sah an Annemarie vorbei und rührte sich in vorbildlicher Gemütsruhe nicht von der Stelle.

Um so rascher bewegte sich die junge Frau. Eins, zwei, drei standen die in der Mitte aufgestapelten Möbel an ihrem Platz. »Bitte die Milch für Vronli, aber ein bißchen Extrapost, Flora. Und dann ziehen Sie sich Stiefel an. Sie sollen Vronli in die Schule bringen. Ich kann nicht von den Kleinen fort.«

Als Doktor Hartenstein wenige Minuten darauf das Zimmer betrat, fand er einen behaglich gedeckten Kaffeetisch vor, der nichts mehr von einer Überschwemmung verriet.

Vronli war ungeheuer stolz darauf, daß sie heute zum erstenmal mit den Eltern am Frühstückstisch sitzen durfte. Das heißt, sie saß keinen Augenblick still. Alle Minuten sprang sie auf, weil sie nun ganz bestimmt gehen müsse, die Schule hätte sicher schon angefangen. Und dazwischen rannte sie in die Küche hinaus, ob denn Flochen noch immer nicht ihre gelben Kanarienstiefel zugeknöpft hätte.

Endlich war es soweit. Eltern und Vronli atmeten auf. Angetan mit der schwarzen Schulschürze, der neuen Mappe, die noch so leer war, daß der Federkasten bei jeder Bewegung hin und her hopste, nahm das kleine Schulmädel mit ungeheurem Selbstbewußtsein Abschied.

»Also das jüngste Semester – Herzle, wie kommst dir denn vor mit deiner großen, schulpflichtigen Tochter?« neckte Rudi.

»Uralt, Rudi. Mir ist's noch, als wäre es gestern, daß ich selbst so stolz losmarschiert bin. Und heute macht unser Küken bereits den ersten Flug aus dem Nest. Die Gummischuhe, Vronli, Flora soll sie wieder mit nach Hause bringen, daß du sie nicht vertauschst. Warte, mein Herzchen, ich begleite dich noch bis ans Gartentor.« Annemarie griff nach ihrem Lodenumhang.

»Bei dem Wetter, Frauli, 's Mädle wird auch ohne dich nit verkehrt gehen.« Doktor Hartenstein wandte sich vorsorglich in der Tür seines Sprechzimmers noch mal zurück.

»Solange wie möglich geht die Mutter mit ihrem Kinde. Die Schule nimmt es mir ja doch jetzt aus der Hand und knetet es in eine allgemeine Form hinein.« Es klang selten ernst aus dem meist lachenden Frauenmund.

Gleich darauf patschten Annemarie und Vronli den aufgeweichten Gartenweg entlang. Flochen sprang mit gelben Kanarienfüßen hinterdrein. Die bunten Astern auf den Beeten hingen erschlagen die Köpfe. Die Goldlinde fror und weinte in Wind und Regen.

»Nun sei brav, Vronli – gib acht, was die Lehrerin sagt, auf Wiedersehn, mein Kleines.«

»Ach, Mutterli,« Vronli schaute mit leuchtenden Augen in die häßlich graue Regenlandschaft, »ist das schön auf der Welt!« Zwei kleine, feuchte Arme umstrickten noch einmal den Hals der Mutter, dann marschierte Vronli aus der Kinderstube hinaus ins Schulleben.

War das Regengeriesel daran schuld, daß Annemaries noch eben lächelnde Augen sich feuchteten? Sie war doch sonst nichts weniger als sentimental. Da hatte sie die ungewohnte Anwandlung auch schon wieder überwunden.

»Dalli – dalli – geht ein bißchen zu –, wenn ihr in diesem Schneckentempo kriecht, kommt ihr an, wenn die Schule aus ist«, rief sie Floras gelben Kanarienfüßen, die wie im Wonnemonat Mai schlendernd lustwandelten, hinterdrein. Vronli begann zu rennen; die gelben Beine mußten, ob sie wollten oder nicht, sich ebenfalls in eine raschere Gangart setzen.

Drüben von dem Erkerfenster aus war der Vorgang, der sich soeben an der Gartentür des Hartensteinschen Hauses abgespielt hatte, mit Interesse verfolgt worden.

»Armes Kind,« dachte der einsame alte Mann, »nun ist es vorbei mit deinem ungebundenen Spiel drüben im Garten. Jetzt nimmt dich auch das Leben ans Schlafittchen und versetzt dir Stöße und Beulen. Wie schwer mag es einer Mutter werden, solch eine kleine Menschenknospe, die sie bisher selbst behütet, unbekannten Fremden, die keine persönliche Gemeinschaft mit ihm haben, auszuliefern.«

Noch immer stand Annemarie in dem grauen Regengeriesel und schaute, bis das letzte Zipfelchen von Vronlis grünem Mäntelchen verschwunden war.



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