Else Ury
Nesthäkchen und ihre Küken
Else Ury

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6. Kapitel.

Die Unzertrennlichen.

Ilse erwachte am nächsten Morgen mit schmerzendem Kopf. Sie hatte schlecht geschlafen, war ein paarmal im Traum die Treppe heruntergefallen und immer wieder emporgeschreckt. Gewiß hatte sie zuviel Kuchen bei Hartensteins gegessen.

Was war denn gestern eigentlich los gewesen? Sie konnte sich zuerst gar nicht besinnen. Aber sie hatte die Empfindung von etwas Dumpfem, Unerfreulichem. Ja, richtig, sie hatte sich mit Klaus Braun herumgekabbelt. Das war eigentlich nichts Neues. Seit ihren Kindertagen pflegten sie das zu tun. Als sie dann mit blonden Zöpfen in die Tanzstunde ging, war Klaus ihr erklärter Tänzer. Aber lustige Katzbalgereien gab es auch da noch zwischen ihnen. Eigentlich immer – bis auf den gestrigen Tag. Wenn er auf Besuch nach Berlin kam – er saß schon jahrelang als Domänenpächter irgendwo im Pommerland –, dann hatte er sich ganz besonders gern mit ihr herumgeneckt. Sie war auch immer auf seinen harmlos lustigen Ton ebenso lustig eingegangen, blieb ihm keine Antwort schuldig, aber stets in aller Freundschaft.

Was war denn bloß gestern in sie gefahren, daß sie so abweisend und schroff gegen Klaus gewesen war? Ilse vermochte sich in ihrer Müdigkeit noch keine Rechenschaft darüber zu geben. Sie hatte sich doch gefreut, als sie ihn plötzlich an der Haltestelle auftauchen sah, als sie ihn nach langer Zeit unvermutet wieder erblickte. Ganz rot war sie geworden; sie fühlte es heute noch mit Beschämung.

Ja – jetzt besann sie sich. Sie hatte ihn ganz flüchtig begrüßt, sich schnell an Frau Doktor Brauns Seite gepirscht, damit er sie bloß nicht mit ihrem »Mädchenerröten« aufziehen sollte. Und dabei hatte sie sich heimlich geärgert, daß er nun lebhaft plaudernd mit Marlene hinterdrein kam. Ja, sie hatte es Marlene, ihrem Inseparable, sogar nicht gegönnt. Nur mit einem Ohr hörte sie, was Frau Doktor Braun zu ihr sprach. Mit dem andern lauschte sie auf das Gespräch der hinter ihnen Gehenden.

Was ihn nach Berlin geführt habe, erkundigte sich Marlene. Und er hatte ihr eingehend über seine Gutskaufabsichten berichtet.

»Eine Frau brauche ich dann auch notwendig, eine tüchtige Hausfrau – vielleicht kannst du mir dazu verhelfen, Marlene.« Ganz deutlich hatte Ilse es gehört. Sie hatte die Nägel in die inneren Handflächen gegraben, daß es schmerzte. Und dann die lustigklingende Antwort Marlenes: »Freilich, Klaus, ich wüßte eine sehr nette Frau für dich – den Namen verrate ich dir aber nicht, den mußt du selber finden.«

»Rätselraten ist meine schwache Seite, Marlene.«

Leises Flüstern – Lachen – nein, Ilse fand es unerhört, daß Marlene, die sonst stets so zurückhaltend tat, sich derart an Klaus heranmachte. Das hätte sie nie von ihr gedacht! Unvermutet hatte sie sich zurückgewandt, um dem Unfug ein Ende zu machen. Da hatten die beiden noch mehr gelacht wie im geheimen Einverständnis. Klaus hatte sogar die Dreistigkeit, zu ihr zu sagen: »Marlene hat eben versprochen, mir zu einer Frau zu verhelfen. Ilse, vielleicht interessierst du dich für die Kuh.«

Zu jeder anderen Zeit wäre sie auf seinen Scherz eingegangen. Aber verärgert, wie sie war, sagte sie empört: »Vom Ochsen kann man nur Rindfleisch verlangen.«

Klaus lachte unbändig. Er konnte sich gar nicht beruhigen. »Edle Selbsterkenntnis!« stieß er, sich schüttelnd, hervor.

Und Marlene lachte – solche Treulosigkeit –, Frau Doktor Braun lachte, die Großmama – alle lachten sie, sogar Tante Albertinchen wackelte mit sämtlichen Löckchen. Sie selber aber, als sie merkte, was für einen Bock sie geschossen hatte, hätte am liebsten kehrtgemacht und wäre nach Hause gegangen. Und dabei mußte sie gute Miene zum bösen Spiel machen, um sich nicht noch mehr auslachen zu lassen. Aber zu verdenken war es ihr doch wirklich nicht, daß sie gestern kratzbürstig gegen Klaus gewesen war, wo er sie den ganzen Nachmittag und Abend mit der dämlichen Kuh foppte? – – –

Die Mutter rief bereits zum zweitenmal durch die Tür: »Ilse, es ist höchste Zeit, du kommst zu spät, Kind.«

Mit einem Satz war Ilse aus dem Bett. Ja, was fiel ihr denn ein, hier zu liegen, über dumme Sachen, die sich gar nicht lohnten, nachzugrübeln, und ihre Pflichten darüber zu vernachlässigen. Die zweite Klasse wartete auf Rückgabe der englischen Extemporale. Rasch – rasch, daß sie den Mädeln nicht den Gefallen tat, selbst mal zu spät zu kommen.

Ihr Zimmer konnte sie heute nicht mehr vor der Schule aufräumen, wie sie es sonst zu tun pflegte. Wie ärgerlich, nun mußte die Mutter, die schon überlastet genug war, auch noch ihre Arbeit übernehmen. Seitdem sie der großen Teuerung wegen das Mädchen abgeschafft hatten und nur eine Aufwartung hielten, hatte Ilse doppelte Pflichten. Sie schämte sich ordentlich vor der Mutter, daß sie so spät auf der Bildfläche erschien.

»Morgen, Muttchen, tüchtig verschlafen! Ich werde mein Zimmer aufräumen, wenn ich mittags nach Hause komme.« Sie goß eiligst den Kaffee, der bereits eingeschenkt stand, hinunter. Zeit für die Schrippe war nicht mehr. Die wanderte mit hinein in die große schwarze Ledermappe.

»Gewiß ist es gestern abend spät geworden, Ilschen. Das beste Zeichen dafür, daß es wieder so hübsch bei Hartensteins war wie stets«, meinte die Mutter liebevoll, das Frühstücksbrot einwickelnd.

Ein Schatten flog über Ilses offenes Gesicht. Wenn die Mutter wüßte, wie hübsch es gewesen!

»Du erzählst uns heute mittag ausführlich. Jetzt lauf', mein Kind.« Die gute Mutter half der Eiligen noch in den Mantel.

»Muttchen, sei nur nicht böse, daß ich dir die ganze Arbeit überlasse – – –.« Ilse hatte keine Zeit mehr, die beruhigende Antwort abzuwarten; sie war bereits aus der Tür.

Drüben an der Ecke des Polizeipräsidiums traf sie jeden Morgen Marlene, die fünf Minuten von ihr entfernt wohnte. Sie machten wie in Kindheitstagen den Schulweg stets gemeinsam. Hatten die beiden Unzertrennlichen es doch durchgesetzt, endlich an demselben Mädchenlyzeum angestellt zu werden.

Heute war kein graues Kostüm weit und breit zu erblicken. Ilse empfand es ordentlich als Erleichterung, daß Marlene nicht auf sie gewartet hatte. Und dabei raunte ihr irgendein böser kleiner Geist zu: »Natürlich, weil sie ein schlechtes Gewissen dir gegenüber hat, ist sie vorausgegangen.« Daß die pünktliche Marlene gewissenhaft zehn Minuten vor Schulbeginn, selbst wenn die Welt untergehen würde, tagtäglich das Lyzeum betrat, das wollte sich Ilse nicht zugestehen. Es war das erstemal in den zwei Jahren, in denen sie an derselben Anstalt unterrichteten, daß sie getrennt den Weg zurücklegten.

Die Rathausuhr an dem viereckigen roten Kastenturm zeigte bereits zehn Minuten vor acht. Also Marlene war schon an Ort und Stelle. Sie hatte gut fünfzehn Minuten noch bis dahin. Wenn das Glück gut war, würde sie es noch bis zum Schulanfang schaffen. Ilse jagte die Königstraße entlang. Der Hut auf den Blondzöpfen rutschte schief. Nur weiter. Sie rempelte am Schloßplatz einen Herrn an:

»Entschuldigen Sie«, stieß sie, ohne aufzusehen, hervor und wollte weiter.

Aber sie wurde am Mantelknopf festgehalten.

»Ilse!« rief der Herr erfreut. »Wenn du beim nächsten Rennen in Hoppegarten mitläufst, setze ich auf dich.«

Ilse hemmte jäh den Schritt und blickte geradezu entsetzt in Klaus Brauns frischgerötetes Gesicht. Wie kam der denn in aller Herrgottsfrühe schon in die Stadt? Er wohnte doch bei seinen Eltern in Charlottenburg.

»Menschenskind, du jagst ja wie ein schwindsüchtiger Droschkengaul. Blödsinn, sich so die Puste rauszulaufen. Peter Frenssen wartet schon seit halb acht auf mich am Alexanderplatz. Wir wollen heute vormittag die Ausstellung für landwirtschaftliche Maschinen besuchen und mit dem Mittagszug an die Waterkant fahren. Aber deshalb habe ich doch Marlene Ulrich, der ich an der Börse begegnete, bis zur Schule begleitet. Wie kommt es denn, daß die siamesischen Zwillinge heute jeder solo – – –«.

Klaus war plötzlich auch solo. Mit verdutztem Gesicht sah er der davoneilenden Ilse nach.

Zum Kuckuck noch mal! Dazu war er eine halbe Stunde früher aufgestanden, war Bahnhof Börse anstatt am Alexanderplatz ausgestiegen, um die Ilse auf dem Schulweg abzufangen und wieder gut zu machen? Denn es ging ihm bei aller Necklust nach, daß er sie gestern so arg geärgert hatte. Man sah sich doch jetzt wieder monatelang nicht, na ja! Und wenn man dann wieder einsam auf seiner Sandklitsche saß, ja, dann dachte man in den stillen Wintermonaten ganz gern mal an ein blondes Mädel. Nicht einmal eine Hand hatte sie ihm zum Abschied gegeben. Kein Wort hatte sie geredet. Nur der Mantelknopf, den er bei dem jähen Aufbruch in der Hand behalten, war ein sichtbares Zeichen dafür, daß sie soeben leibhaftig vor ihm gestanden.

Ilse hörte das Läuten der Schulglocke bereits, als sie noch jenseits der Spree war. Doch zu spät! Daran war nur Klaus schuld, der ihr die kostbaren Minuten geraubt. Also Marlene hatte er zur Schule begleitet! Und sie selbst kam dadurch zu spät! Ja freilich, dann war es kein Wunder, wenn die Cousine nicht auf sie gewartet hatte. Gewiß war gestern die Verabredung bereits zwischen ihnen getroffen worden. In immer größere Erbitterung gegen die Freundin dachte sich Ilse hinein.

Es war lange her, daß Ilse in der Schule zu spät gekommen war. Ein kleines Ding in der sechsten Klasse war sie damals gewesen. Später hatte Marlene mit ihrer fast pedantischen Pflichttreue ihren günstigen Einfluß auf die Cousine geltend gemacht. Aber sie hatte heute genau dasselbe beklemmende Gefühl, als sie die wie ausgestorben daliegenden Korridore durchschritt, wie damals in ihrer Kinderzeit. Eine gleichfalls verspätete Schülerin rannte an ihr vorüber, knickste ängstlich vor der Lehrerin, einer Vermahnung gewärtig, und lief erleichtert weiter. Ilse mußte lächeln. Das Kind fürchtete ihr Strafgericht, und dabei hatte sie selbst sicher ein noch viel schlechteres Gewissen. Sie hatte doch heute keinem mehr Rechenschaft zu geben, wenn sie mal zu spät kam, nur sich selbst. Und doch war es ihr peinlicher als einst.

Lautes Toben, Lachen und Schreien schallte ihr aus der zweiten Klasse entgegen. Die Mädel benutzten die unvermutete Freiheit, um sich gründlich auszutoben.

»Die kleine Hermann ist bestimmt krank! Ihr Inseparable, die Ulrich, habe ich vorhin schon gesehen – – –«.

»Nein, Fräulein Hermann ist nicht krank, Trude Weidner, sondern verlangt augenblickliche Ruhe!« klang es da plötzlich in den Tumult hinein.

Ha – wie flog da alles auf die Plätze. Ängstliche Augen hingen an Ilses Gesicht. Sah es sehr böse aus? Würde es Tadel setzen?

Ach, Ilse fand, daß sie selbst viel eher einen Tadel verdient hätte. Zur allgemeinen Erleichterung zog sie gleich das Pack Hefte aus der Ledermappe und begann die Exerzitien durchzusprechen.

Nein, »die kleine Hermann« war doch zu nett. Einzelne in der Klasse verehrten die junge Lehrerin bis zur glühenden Backfischschwärmerei. Sie machten ihr Fensterpromenaden, brachten ihr Blumen und himmelten sie an, wo sie sich zeigte. Aber auch diejenigen, die sich über ihre Schulkameradinnen lustig machten, fanden, daß »die kleine Hermann« sich heute höchst anständig benommen habe. Bei ihrer Unzertrennlichen, der Ulrich, hätte es sicher eine mächtige Standpauke gesetzt, wegen des Radaus sowohl, als auch wegen der unehrerbietigen Benennung. Marlene Ulrich war lange nicht so beliebt bei den Schülerinnen wie Ilse Hermann. Das ernste, pflichtgetreue Wesen der ersteren verlangte dasselbe auch von ihren Schülerinnen. In der Stunde bei Fräulein Dr. Ulrich wagte keine zu mucksen. Während Ilses kindlichheitere Natur auch mal einen Spaß verstand. Sie konnte so herzlich mit den Mädeln um die Wette lachen, daß sich eine Art kameradschaftliches Verhältnis zwischen ihnen herausgebildet hatte. Als jüngste Lehrerin hatte sie den Spitznamen »die kleine Hermann«.

Heute war die kleine Hermann aber gar nicht so heiter wie sonst. Ihre jungen Verehrerinnen fühlten es gleich heraus, daß sie verstimmt und zerstreut war. Käthchen Braunmüller stieß Evchen Langner mit dem Fuße an: »Du, was hat denn die ›Kleine‹ heute?«

»Vielleicht unglücklich verliebt!« Evchens leise geflüsterten Worte lösten unbändige Heiterkeit aus. Die Mädel kicherten in ihre Taschentücher hinein und in die vorgehaltenen Bücher. Sie konnten sich gar nicht beruhigen. Bis es vom Katheder ernst mahnend erklang: »Mir scheint es, daß einige morgen auf der Oktoberzensur doch noch einen Tadel haben wollen.«

Potztausend, was war denn in die kleine Hermann gefahren? Die war doch heute so kratzbürstig. Nein, man wollte sie nicht ärgern, die »Kleine«. Größte Aufmerksamkeit herrschte wieder in der II m. Ob daran nur die Verehrung für die junge Lehrerin, oder nicht vielmehr die unmittelbar bevorstehende Versetzungszensur schuld war, muß dahingestellt bleiben.

Nach der Stunde schlich sich Trude Weidner, die getreueste Trabantin von Ilse, herzklopfend zum Katheder.

»Fräulein Hermann, bitte, seien Sie mir nicht mehr böse!« Flehentlich hingen die Backfischaugen an ihrer Miene.

»Warum sollte ich dir böse sein, Trude?« Ilse hatte die kleine Episode bei ihrem Eintritt bereits über andere wichtigere Dinge, die ihr im Kopf herumgingen, vergessen.

»Weil – weil – weil ich Sie ›die kleine Hermann‹ genannt habe. Sie waren so ärgerlich und verstimmt heute wie noch nie, Fräulein Hermann. Und wenn ich schuld daran bin, das – das kann ich nicht ertragen!« Das Mädel hatte doch, weiß Gott, Tränen in den Augen.

Es war Ilse zuerst schwer geworden, bei Trudes Selbstanklagen ernst zu bleiben und nicht ihre Mundwinkel zu einem Lächeln zu verziehen. Aber als sie die warme Zuneigung aus den Worten heraus hörte, tat ihr das doch wohl. Gerade heute! Wo sie sich von Klaus zurückgesetzt, von der Freundin getäuscht fühlte. Ihre Mädels – die blieben ihr trotz alledem. Die hingen an ihr; denen konnte sie Liebes tun.

Sie reichte dem bittenden Backfisch die Hand. »Ich bin dir nicht mehr böse, Trude!« Ehe sie es sich versah, hatte die junge Verehrerin ihre Lippen in stummem Dank auf die dargereichte Hand gepreßt.

»Kindisches kleines Ding!« dachte Ilse. Und dann gleich darauf: »Ja, bin ich denn reifer? Das Alter, und daher die Verpflichtung hätte ich doch tatsächlich dazu. Aber ist mein Kummer nicht ebenso kindisch, wie der des Backfischchens? Schlimm genug, daß ich mich nicht einmal in der Unterrichtsstunde davon freimachen konnte. Daß die Mädel meine Verstimmung gemerkt haben. Nun wird aber ein dicker Strich unter die dumme Sache gemacht. Was geht mich Klaus Braun an!«

Nichtsdestoweniger suchte Ilse das Lehrerinzimmer nicht auf, um das Zusammentreffen mit Marlene, das sie sonst so ausgiebig wie nur irgend möglich genoß, noch etwas hinauszuschieben. Aber in der großen Zehnuhrpause ließ es sich nicht umgehen. Hoffentlich waren noch mehr Damen im Zimmer, daß es nicht zu einer Aussprache kam.

Alles war wie sonst in dem langen, schmalen Lehrerinzimmer, das jeden Komforts, jeden gemütlichen Behagens entbehrte, alles. Nüchtern standen die gelben Schränke an den Wänden aufmarschiert. An dem langen Holztisch thronte zu oberst die Lehrerinälteste Fräulein Meerrettich. Ihr Gesicht war eine wohlgelungene Illustration des Namens. Scharfe, beißende Züge. Die durch das Fenster hereinspazierende Oktobersonne gab sich vergeblich Mühe, ein wenig Wärme und Leuchten in die durchdringenden Augen hinter den Brillengläsern zu bringen. Fräulein Meerrettich saß vor einem Stoß Zensuren mit gezückter Feder, und man hatte die Empfindung, daß sie lauter Todesurteile unterzeichnete. Daneben das kugelrunde Fräulein Oppermann, Turn- und Handarbeitslehrerin. Ganz Gemütlichkeit und Behagen. Mit quabbligen Fingern führte sie die gutbelegten Frühstücksstüllchen zu Munde. Daran schloß sich das ganze übrige weibliche Kollegium, soweit es nicht Inspektion auf dem Schulhof, an Treppen und Gängen hatte. Zu unterst hatten Marlene und Ilse, als jüngste, ihre Plätze.

Ja, alles war wie sonst in dem wohlbekannten Zimmer – »Reitstall« nannten die beiden Cousinen dasselbe. Auch das Leuchten in Marlenes dunkelblauen Augen, als sie Ilses Blondkopf, nach dem sie schon vergeblich ausgespäht, endlich erblickte, war ganz wie sonst. Aber das herzliche Zunicken, das Ilse sonst in verstärktem Maße zurückzugeben pflegte, wurde heute nicht erwidert. Ilse grüßte zu dem ganzen Kollegium hin, nahm auf ihrem Stuhl Platz und bohrte an Marlenes Gesicht vorbei ein Loch in die gelblich getünchte Wand. Dazu aß sie stumm ihre Margarinestullen.

»Ist dir was, Ilse?« forschte Marlene, erschreckt auf die veränderte Freundin schauend. »Bist du nicht wohl? Ich habe mir heute morgen schon Gedanken gemacht, daß du nicht zurzeit an unserer Ecke warst.«

»Hast du wirklich dazu noch Zeit gefunden?« Es klang spöttisch, was Ilses kindlich offenem Charakter sonst gar nicht lag.

Marlenes sprechende Züge drückten denn auch lebhafte Verwunderung aus. »Freilich habe ich mir Gedanken gemacht«, bekräftigte sie noch einmal. »Nachdem ich fast zehn Minuten vergeblich gewartet habe, mußte ich mich zum Gehen entschließen, um den Schulanfang nicht zu versäumen!«

»Vielleicht auch noch etwas anderes.« Wieder dieser spöttische Ton, den Marlene an Ilse gar nicht kannte. Sie mußte mittags auf dem Nachhauseweg zu erforschen suchen, was mit ihrer Intima eigentlich los war. Hier gab es zu viele fremde Ohren. So begnügte sich Marlene vorläufig damit, Ilse bittend anzusehen und ihr eine Schinkensemmel zuzuschieben, während sie unauffällig nach dem Margarinebrot der Cousine griff. Dieser Tauschhandel war, seitdem sie gemeinsam als kleine Abcschützen die Schule besuchten, an der Tagesordnung. Wer etwas Besseres auf dem Frühstücksbrot hatte, ließ den andern daran teilnehmen. Das war eine ganz selbstverständliche, stille Abmachung unter ihnen durch all die Jahre hindurch.

Heute schien Ilse davon nichts mehr zu wissen. Die Schinkensemmel blieb unberührt. »Ich habe keinen Appetit mehr«, behauptet sie und ließ sich in ein weitläufiges Gespräch über eine Wandertour in die Mark, welche ihre Nachbarin zur andern Seite für die Oktoberferien vorhatte, ein. Marlene saß da mit ihren fragenden Augen und ihrer zurückgewiesenen Semmel. Es war ja klar, daß Ilse irgend etwas gegen sie hatte. Was bloß?

Die Schulglocke ließ die Damen alle wie eine Schar Krähen aufflattern. Eine jede bewaffnete sich mit Heften, Büchern, Brille, Kneifer oder sonstigen Utensilien.

Ilse lief an Marlene vorbei, als ob es irgendwo brenne. Sie hatte es doch sonst gar nicht so eilig, zur Stunde zu kommen. Die Cousinen waren heute alle beide zerstreut bei Abhaltung des Unterrichts. Selbst das gewissenhafte Fräulein Dr. Ulrich, das volle Aufmerksamkeit von ihren Schülerinnen verlangte, ertappte sich dabei, mitten in der Naturgeschichtsstunde bei einem Vortrag über die Dickhäuter an Ilse Hermanns verändertes Wesen zu denken. Denn Marlene gehörte durchaus nicht in die Klasse der Dickhäuter, sondern hatte ein sehr feines Empfinden. Es ging ihr alles tiefer als Ilse.

Gestern mittag, als sie die Cousine zum Geburtstag von Annemarie Braun, oder vielmehr Annemarie Hartenstein, abgeholt hatte, war noch alles in Ordnung gewesen. Sie waren fidel miteinander nach Lichterfelde hinausgezogen, bis – ja, bis sie an der Umsteige-Haltestelle auf Brauns gestoßen waren. Von da an war Ilse verändert. Ganz bestimmt. Gestern war sie kratzbürstig gegen Klaus gewesen und heute gegen sie selbst. Wie reimte sich das zusammen?

Ein Uhr. In langen Scharen strömte es aus dem roten Backsteingebäude an der Spree. Die letzte Schulstunde – morgen gab es Zensuren – Ferien – – – die ganze Seligkeit der winkenden zehntägigen Freiheit lag auf all den jungen Gesichtern.

Aber auch die Lehrer und Lehrerinnen, selbst die verknöchertsten und griesgrämigsten, blickten heute hell und vergnügt in den Oktobersonnenschein. Sogar das Gesicht von Fräulein Meerrettich sah aus, als sei der Meerrettich mit Zucker, anstatt mit Essig angerichtet.

Unter der Schulhofskastanie, die mit welken Blätterfingern in das sonnige Goldgespinst griff, schritt Marlene auf und nieder. Ilse ließ heute lange auf sich warten.

Da kam sie endlich. Ihre Trabanten zu beiden Seiten, und so flankiert von ihren jugendlichen Verehrerinnen, daß man gar nicht an sie heran konnte.

Marlene mit ihrer energischen Art machte kurzen Prozeß. »Kinder, ihr geht wohl jetzt voran, ich habe mit Fräulein Hermann zu sprechen.«

Bitterböse, enttäuschte Blicke antworteten. Heute, wo die Inseparables mal ausnahmsweise nicht miteinander die Treppe heruntergekommen, hatte man gehofft, mit der kleinen Hermann ein Stück Weges zusammengehen zu können. Da verdarb einem die Ulrich das wieder – so 'ne Bosheit!

Nun hätte sich Ilse heute ganz gern hinter ihrer jungen Schar verschanzt. Sie scheute das Alleinsein mit Marlene. Aber den neugierigen Backfischaugen durfte man kein Schauspiel geben. So winkte sie ihnen nur noch einen freundlichen Abschiedsgruß zu und schritt mit Marlene davon. Hinter den beiden klang es empört: »Ekelhaft, immer schnappt sie uns die Unzertrennliche fort!«

»Also schieß los!« sagte Marlene, nachdem man geraume Zeit in stummem Nebeneinander dahingegangen war. Sowie man aus dem großen eisernen Tor heraus war, hatte man alle Lehrerinnenwürde zurückgelassen. Dann sprach man wieder, wie einem der Schnabel gewachsen war.

»Womit denn?« Ilse tat völlig ahnungslos.

»Also tu nur nicht so. Ich will wissen, was dir in die Krone gefahren ist. Unmöglich kannst du doch so verknurrt sein, weil du verschlafen hast und ich nicht auch noch zu spät kommen wollte.«

»Du wirst wohl wissen, warum du nicht auf mich gewartet hast. Ein dritter stört natürlich – – –.« Als es raus war, hätte Ilse das Wort gern zurückgenommen. Denn Marlene sah sie so entgeistert an, daß Ilse sich plötzlich unglaublich dumm vorkam.

»Jetzt muß ich dich aber dringend ersuchen, Ilse, nicht in Hieroglyphen zu sprechen, sondern dich klar auszudrücken.« Marlene setzte ihr strenges Lehrerinnengesicht auf.

Das reizte Ilse.

»Ja, willst du es vielleicht leugnen, daß du dich heute morgen mit Klaus Braun getroffen hast, und daß er dich bis zur Schule begleitet hat?« stieß sie hervor, während eine Blutwelle ihr zu Kopfe stieg.

»Leugnen – du bist ja nicht klug, Ilse. Was sollte ich daran leugnen, daß ich Klaus zufälligerweise traf. Du scheinst ihn ja auch gesprochen zu haben.« Marlenes Stimme klang besonders ruhig gegen Ilses erregte.

»Hahaha – zufälligerweise!«

»Ilse« – jetzt stieg auch Marlene das Blut in das blasse Gesicht – »ich muß dich doch bitten, etwas mehr nach deinen Worten zu sehen, und nichts zu reden, was du nicht verantworten kannst.«

»Ich bin kein Schulkind, das sich von dir abkanzeln läßt. Was ich sage, kann ich auch vertreten. Du hast dich gestern bei Hartensteins mit Klaus zu heute morgen verabredet und warst froh, daß ich dir den Gefallen tat, nicht pünktlich zu sein. O ich durchschaue euch alle beide. Aber von dir hätte ich das nicht gedacht, daß du mich derart hintergehen könntest!« Alle Bitterkeit, die Ilse seit gestern in sich angetürmt hatte, strömte dahin.

Jetzt lachte Marlene. Aber nicht höhnisch, wie Ilse soeben, sondern frei von Herzen.

»Ilse – Ilsenkind – du hast ja ein Piepvögelchen! Aber sag's keinem weiter. Soll ich dir mal sagen, was dir fehlt? Eifersüchtig bist du – hahaha – eifersüchtig auf mich und Klaus.« Wieder lachte Marlene, wie von einem Alp befreit.

»Das – das ist eine Gemeinheit, mir etwas Derartiges zu sagen!« Je mehr Ilse empfand, daß die Freundin den Nagel auf den Kopf getroffen, um so empörter war sie.

Ehe Marlene sie zurückhalten konnte, hatte sie den Damm überquert und ging auf der anderen Seite, so schnell sie nur konnte.

»Nachlaufen werde ich ihr nicht,« dachte Marlene nun auch ärgerlich.

Getrennt schritten die beiden Unzertrennlichen, eine hüben, eine drüben, heute heimwärts.



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