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Vielleicht wundert man sich, warum ich nicht sofort meinem gütigen Chef ein offenes Geständnis über die Rolle, die ich in der Tragödie gespielt hatte, ablegte. Ach, daran hinderten mich verschiedene Gründe. Vor allem war ich durchaus nicht sicher, daß man mir Glauben schenken würde, denn allzu stark sprach der Schein gegen mich. Ich hatte mich, in weiblicher Verkleidung, an der Stätte des Mordes befunden und überdies Weathered ein Rauschgift eingeflößt, das an Gefährlichkeit jenem, das seinen Tod verursachte, nicht viel nachstand. Wer würde nicht glauben, daß noch Schwereres auf meinem Gewissen lastete? Vielleicht ein Mord?
Ferner waren die Beziehungen zwischen mir und meinem Chef nicht rein privater Natur. Wir beide standen im Staatsdienst, und ich verdankte meinen eigenen Posten seiner Empfehlung. Wie leicht konnte eine Kluft gähnen zwischen seinem offiziellen und seinem menschlichen Gewissen! Vielleicht gesonnen, mir persönlich Entschuldigung zuzubilligen, erachtete er es desungeachtet für seine Pflicht, der Behörde zu berichten, ich verdiene das in mich gesetzte Vertrauen nicht länger.
Und schließlich war mein Geheimnis auch Violets Geheimnis, und ohne ihre Einwilligung durfte ich keinem menschlichen Wesen eine Beichte ablegen.
Am anderen Morgen zog Sir Frank aus dem Stapel Briefschaften, der neben seinem Frühstücksgedeck lag, einen Umschlag mit der Grafenkrone hervor. Er ließ mich den Inhalt nicht lesen, sondern sagte nachlässig:
»Ich werde zum Lunch nicht da sein. Lord Ledbury bittet mich dringend, nach der John Street zu kommen.«
Bei dieser Nachricht faßte ich einen Entschluß: bevor Violet weiteren Fragen meines schlauen Chefs ausgesetzt war, mußte sie die neueste Sachlage erfahren. Darüber, daß Lord Ledbury mich bei der Einladung überging, durfte ich mich nicht beklagen – seine Augen sahen in mir nur einen unwichtigen Subalternen. »Betty Neobard und ihre Mutter scheinen sich nach Paris gewandt zu haben«, klang die Stimme Tarletons in mein Überlegen. »Hier ein Brief von Scotland Yard. Charles hat schon einen seiner Leute hinter ihnen hergejagt und außerdem die französische Polizei benachrichtigt. Viel Aussicht besteht für die beiden Engländerinnen nicht, den Fingern der Pariser Detektive zu entschlüpfen.«
»Und was wird also der nächste Schritt sein?« fragte ich zerstreut.
»Ich werde selbst heute abend nach Paris fahren.«
Tags zuvor war ich beauftragt worden, mit Mrs. Weathered zu verhandeln und zum besten der Opfer des Gatten an ihre fraulichen Gefühle zu appellieren. Nun beabsichtigte Sir Frank offenbar, diese Aufgabe persönlich durchzuführen, und ich wagte nicht wie früher zu fragen, ob ich ihn begleiten solle ... ein Schatten lag zwischen uns!
Still trank ich meinen Tee, während Tarleton die Postsachen sortierte und mir dann und wann ein Schreiben herüberreichte. Sofern das Rätsel des Domino-Klubs nicht berührt wurde, genoß ich demnach sein Vertrauen wie zuvor.
Dann erklangen laute Stimmen in der Halle, und Tarletons Diener führte Inspektor Charles zu uns herein.
»Haben Sie dieses Morgenblatt gelesen?« rief er aufgeregt und fuchtelte mit einer Zeitung durch die Luft. »Den Anzeigenteil? Nein? Na, dann hören Sie zu: »Irgendwelche Patienten des verstorbenen Dr. Weathered, die ihre an ihn gerichteten Briefe zurückzubekommen wünschen, werden gebeten, sich unter Angabe der Nummer mit Messrs. James, Halliday und James, Rechtsanwälte, Carmichael House, Chancery Lane, in Verbindung zu setzen.««
Sir Franks grauer Kopf nickte mehrmals verständnisvoll.
»Großartig abgefaßt, wirklich großartig! Klingt wie ein durchaus rechtschaffenes Angebot.«
Inspektor Charles guckte über den Zeitungsrand hinweg meinen Chef verblüfft an.
»Erklären Sie mir, Sir Frank, was diese Anzeige bezweckt!« bat er. »Weshalb schickt man die Briefe nicht ohne weiteres zurück oder schreibt an die Patienten? Und weshalb wollen sie die genauen Nummern wissen?«
»Nehmen Sie doch erst mal Platz, mein Lieber«, erwiderte Tarleton. »Ich muß Sie nämlich in eine neue Seite des Falles einweihen, wozu sich mir bisher noch nicht Gelegenheit bot. Mich überrascht jene Anzeige deshalb nicht, weil Dr. Cassilis und ich inzwischen herausgefunden haben, daß mehrere von Weathereds Patienten ihm Briefe ziemlich kompromittierender Art schrieben. Er veranlaßte sie hierzu und traf die Anordnung, daß sie anstatt des Namens mit einer Nummer unterzeichnet würden. Verstehen Sie jetzt, was diese Anzeige bezweckt? ... Den Namen der Schreiber kennenzulernen. Die Geldforderung wird später kommen.«
»Erpressung!« stieß der Inspektor hervor.
»Richtig. Ein anständiger Mensch, dem solch eine Korrespondenz in die Hände geraten wäre, hätte sie verbrannt. Nun werden Sie wohl auch einen meiner Gründe erkennen, weshalb ich keine Lust verspürte, dem Prinzen von Lavonia zuliebe den Fall als erledigt beiseite zu legen.«
Einen der Gründe! Ich zweifelte nicht, daß es noch einen zweiten Grund gab. Captain Charles aber blickte betreten auf das weiße Damasttischtuch hinab. »Verzeihung, Sir Frank, ich ahnte nicht, daß dergleichen im Hintergrund lauerte. Ich werde sofort diese Anwälte aufsuchen. Chancery Lane ... ich kenne bessere Adressen als diese, aber auch schlimmere.«
»Gut. Nehmen Sie die Anwälte ruhig mal in Augenschein, obwohl ich bezweifle, daß die Briefe sich in ihrem Büro befinden. Ich vermute sie eher in Paris bei der Witwe. Wollen Sie so nett sein und mir eine Empfehlung an die französische Polizei mitgeben, Captain Charles? Halt, noch eins: wie steht es mit dem bewußten Fingerabdruck?«
»Hier ist er, Sir Frank.« Der Detektiv entnahm seinem umfangreichen Notizbuch eine aufgeklebte Photographie, die mein Chef, ohne sie anzusehen, in seiner eigenen Tasche verschwinden ließ.
»Sie mag sich als nützlich erweisen«, lautete sein rätselhafter Ausspruch. »Aber nun berichten Sie uns bitte, wo sich Mrs. Weathered und ihre Tochter verbergen.«
»Sie verbergen sich überhaupt nicht – und das ist das Merkwürdige. Vielleicht wissen sie nicht, daß es so etwas wie Auslieferung gibt. Die beiden wohnen im Hotel St. Catherine in der Rue Tivoli, ein gutgehaltenes Hotel, in dem Schwärme von Cook-Reisenden ein- und ausgehen.«
Sir Frank ließ ein Weilchen seine goldene Maskotte schwingen und beobachtete ihre pendelhaften Bewegungen. Dann brach er das Hin und Her jäh ab.
»Wir dürfen keine Zeit verlieren«, sagte er rauh. »Schon jetzt ist vielleicht irgendein unglückliches Opfer Weathereds im Begriff, sich auf jene Zeitungsnotiz hin zu melden. Glücklicherweise habe ich inzwischen die Bekanntschaft einer der Briefschreiberinnen gemacht – jener Mrs. Baker, Captain Charles, über die Ihre Leute mir berichteten. Ihre Briefe sind denkbar unschuldig. Gehen Sie sofort zu der Dame hin und lassen Sie sich von ihr, unter Berufung auf mich, eine Vollmacht ausstellen, die Sie berechtigt, in Mrs. Bakers Namen mit diesen Anwälten zu verhandeln. Verlangen Sie zuerst die Briefe, und wenn man Ihnen hierauf mit irgendwelchen Ausreden kommt, daß die Briefe nicht zur Hand seien, so erkundigen Sie sich nach dem Auftraggeber. Weigert man sich, ihn zu nennen, dann, meine Herren, wissen wir das Schlimmste.«
Mir schien es, als ob wir das Schlimmste schon jetzt wüßten. Tarleton hatte recht: eine rechtschaffene Frau, die nach dem Ableben ihres Gatten derartige Briefe findet, überantwortet sie dem Feuer. Noch zwingender war die Notwendigkeit, Violet sofort zu sehen, denn auch sie konnte die Anzeige gelesen und sie für ehrliches Spiel gehalten haben.
Daher schützte ich nach Captain Charles' Aufbruch eine Besorgung vor und sprang in das erste Taxi, das mir in den Weg kam. Es war noch sehr früh, als ich in der John Street ankam, wo das bescheidene Stadthaus des Grafen von Ledbury stand. Die Tür wurde mir von demselben Mann geöffnet, dessen Gunst ich mir in Tyberton mit einer Banknote erkauft hatte, und ich beeilte mich, mir seine Gewogenheit aufs neue zu sichern. Er sah adretter aus als damals, und alles im Hause deutete darauf hin, daß der Graf den Rat Tarletons beherzigt hatte und sich anschickte, von sich aus seiner Tochter die ihr gebührende Stellung in der großen Welt zu geben.
Auch Violet kam mir verändert vor. Die neugeborene Liebe ihres Vaters hatte ein wenig den Blick von Hoffnungslosigkeit und Resignation aus ihren Augen verbannt, und so sehr mich das ihretwegen beglückte, schmerzte es mich ein wenig meinetwegen. Die alte Kluft zwischen uns schien sich zu verbreitern. Wer war ich, Bertrand Cassilis, daß ich es wagen durfte, den glänzenden Stern zu begehren, der hoch über mir am sozialen Firmament leuchtete?
»Ich glaube, ich kenne den Grund Ihres Kommens«, sagte sie, ohne mir die Hand zu reichen. »Man erbietet sich, die Briefe zurückzugeben. Oh, ich kann Ihnen nicht schildern, wie dankbar ich bin!«
»Haben Sie sich schon gemeldet?«
»Noch nicht. Ich kämpfte mit der Versuchung, es unverzüglich zu tun, doch dann dünkte es mich richtiger, erst Sie um Rat zu fragen.«
Trotz der bitterernsten Sachlage schlug mein Herz beglückt schneller. Mich um Rat fragen! Hieß das nicht, daß sie mir vertraute? ... Und mit einer Kühnheit, die mich selbst erstaunte, erwiderte ich:
»Dem Himmel sei Dank, daß Sie abwarteten! Ich kam, so schnell es ging, hierher, um Sie vor jener Anzeige zu warnen. Es geht aus ihr hervor, daß man nicht weiß, von wem die Briefe stammen. Verlassen Sie sich auf mich; die Angelegenheit ist in guten Händen. Jene Briefe werden Ihnen entweder zurückerstattet oder ungelesen verbrannt werden – ich schwöre es.«
»Ich danke Ihnen, Bertrand. Daß es nicht Ihr Fehler ist, wenn sie noch heute existieren, weiß ich.« Und nun vergaß Violet ihre eigenen Sorgen und dachte an die meinigen. »Wie steht es mit Ihnen, Bertrand? Haben die Nachforschungen in der Mordaffäre Neues ergeben?«
»Ja, wir kennen jetzt die genaue Todesursache. Ein Gift, das als einziger Gelehrter nur Sir Frank kannte. Ihm fielen sofort die Symptome auf, und inzwischen hat er auch die Herkunft des Giftes festgestellt.« Kurz erzählte ich ihr hierauf von Mrs. Bakers gestohlener Flasche.
»Also beging Weathered Selbstmord?« fragte sie, als ich geendet hatte.
»Ich fürchte, Sir Frank ist zu einer anderen Ansicht gelangt. Wenn mich nicht alles täuscht, hält er mich für dringend verdächtig. Er ist verschlossen, fährt heute nacht ohne mich nach Paris, um den Briefen nachzuspüren ...«
Ein Schrei der Verzweiflung unterbrach mich.
»Bertrand ... das kann nicht sein! Wird man Sie verhaften? Werden Sie ...« Die Frage endigte in einem bitterlichen Weinen.
»Nein, nein«, beschwichtigte ich sie. »So arg steht es nicht. Ich glaube auch nicht, daß Sir Frank meine Verhaftung wünscht. Aber ich werde wohl auf meine Stellung verzichten und außer Landes gehen müssen.«
Sie blickte mich durch einen Tränenschleier an. »Das ist beinahe ebenso schlimm, nicht wahr?«
Ach, warum durfte ich nicht sagen: nicht, wenn Sie mit mir kommen! ... Tapfer schluckte ich die Worte hinunter und erwiderte sachlich: »Mein Beruf bleibt mir immer. Sir Frank setzt große Hoffnungen auf mich als Arzt, das weiß ich. Aber es lag nicht in meiner Absicht, Ihnen die Stimmung zu verderben. Ich würde es Ihnen überhaupt verschwiegen haben, wenn nicht Sir Frank heute bei Ihnen eingeladen wäre. Nehmen Sie sich in acht mit dem, was Sie sagen; Tarleton versteht es meisterlich, die Leute zu sondieren und ihnen, ohne daß sie es merken, Auskünfte zu entlocken. Ich wollte Sie nur zur Vorsicht mahnen, damit Sie nicht wähnen, Sie könnten ihm als einem Freund von mir trauen.«
»Mein Gott, ich dachte wirklich, man dürfe ihm rückhaltlos vertrauen; er sieht so gut und freundlich aus«, sagte Violet nachdenklich.
»Ja, den Eindruck macht er auf alle Frauen«, erwiderte ich mit einem Anflug von Eifersucht. »Es ist mir nicht entgangen, daß er Sie bewundert.«
Violets Augen leuchteten auf.
»Ich muß versuchen, seine Freundschaft zu gewinnen. Wenn ich durchblicken lasse, daß ... daß es mich schmerzen würde, wenn durch mich irgendwem ein Leid geschähe ... vielleicht wird das ihn beeinflussen.« Eigentlich hätte ich Grund gehabt zur Dankbarkeit; doch ich fürchte, meine Antwort entbehrte jeder Wärme.
»Sagen Sie ihm nicht, daß ich hier war«, lautete mein letztes Wort, als ich aus meinem Sessel aufstand. Und Lady Violet Bradwardine versprach es.
Ich nahm ein einsames Lunch ein, bei dem ich überlegte, was sich wohl zur selben Zeit an Lord Ledburys Tafel zutragen würde. Als Tarleton dann heimkehrte, glaubte ich meinen Augen nicht trauen zu dürfen. Ein ganz neuer Anzug, eine schneeig weiße Weste und eine moderne Kravatte! Aber das Erstaunlichste von allen: das schäbig schwarze Band, an dem er so gern seine Uhr schaukeln ließ, war durch eine goldene Kette ersetzt worden, die mein Auge in all den Jahren unserer Bekanntschaft noch nie erblickt hatte. Wieviel mußte ihm daran liegen, in der John Street einen guten Eindruck zu machen, wenn er sich zu solchen Neuerungen verstand! ...
Kurz nach seiner Rückkehr stellte sich auch Captain Charles wiederum ein, ernst und viel respektvoller gegen meinen Chef als sonst.
»Ich bin in Chancery Lane gewesen, Sir Frank, und habe den Inhaber der Firma gesehen«, sagte er. »Es gibt nur einen. Die Namen in der Zeitungsannonce sind Hokuspokus, falls er nicht eine alte Firma übernommen hat. In Wirklichkeit heißt der Mann Stillman; das erspähte ich auf seinem Briefpapier. Scheint übrigens ein geriebener Bursche zu sein.«
»Wie stellte er sich denn zu Ihrem Verlangen?«
»Genau, wie Sie es voraussagten, Sir Frank. Er machte faule Entschuldigungen, daß er mir Mrs. Bakers Briefe nicht aushändigen könne; er behauptete, er habe den Auftrag erhalten, sie dem Schreiber persönlich zu geben. Und als ich mich nach dem Namen des Auftraggebers erkundigte, wich er abermals aus, indem er vorschob, er sei nicht berechtigt, den Namen seines Klienten zu nennen.«
Tarleton zuckte die Achseln.
»Sehr, sehr geschickt. Er hat sich nichts zuschulden kommen lassen, was zum Einschreiten gegen ihn berechtigt. Wenn Sie jetzt in Begleitung Mrs. Bakers zu ihm gingen, würde er, in der Zwickmühle, höchst wahrscheinlich ihre Briefe herausrücken, da sie ja nichts Ernstliches enthalten. Ah, es ist eine scheußliche Affäre!«
»Was tun wir denn nun am besten?«
»Gar nichts vorläufig. Heute abend fahre ich nach Paris, und wenn ich zurück bin, werde ich – sofern ich sie nicht mitbringe – zum mindesten wissen, wo die Briefe sich befinden.«
»Ganz wie Sie wünschen, Sir Frank.« Nach diesem untertänigen Satz verabschiedete sich der Beamte Scotland Yards.
»Halten Sie es für möglich, daß Miß Neobard die Briefe hat?« fragte ich, von Neugier getrieben.
Mein Chef drehte sich langsam in seinem Schreibtischstuhl um und musterte mich mit einem langen Blick. »Offen gestanden, Cassilis, ich möchte Ihnen die Frage nicht beantworten. Immer mehr gewinne ich die Oberzeugung, daß Sie dem Fall nicht objektiv gegenüberstehen.«
Also war meine Furcht begründet gewesen! Und fast atemlos lauschte ich Tarletons weiteren Worten.
»Von Beginn dieser Untersuchung an haben Sie ein Verhalten gezeigt, das für einen Mann, der die Rolle eines Detektivs übernimmt, verhängnisvoll ist. In Ihrer Stellung müßten Sie durchaus unparteiisch sein, sich nicht durch persönliche Vorurteile oder persönliche Vorliebe beeinflussen lassen. Leider habe ich diese Unparteilichkeit bei Ihnen vermißt. Ständig neigten Sie dazu, Lady Violet Bradwardine zu schützen. Sie haben sie mir gegenüber entschuldigt, anderen gegenüber verteidigt. Gleichzeitig trat der Hang bei Ihnen zutage, von Betty Neobard das Schlimmste anzunehmen, und Ihre Abneigung gegen sie brach am heftigsten hervor, als sie sich als Lady Violets Feindin entpuppte. Lady Violet verdient uneingeschränkte Bewunderung, und ich bin genau so entschlossen wie Sie, die Ärmste vor jeder schurkischen Ausbeutung ihrer Korrespondenz zu bewahren. Ich würde Sie auch nie hart getadelt haben wegen irgend etwas, das Sie zu ihrem Schutze unternahmen, wenn Sie nicht eine verantwortliche Stellung bekleideten. Sie schulden es aber dem Ministerium und mir, die Untersuchung in diesem Mordfalle ohne Angst und ohne Begünstigung zu führen – gleichgültig, wie das Ergebnis sein mag. Fragen Sie sich selbst, Cassilis, ob Sie dies getan haben.«
Um ehrlich zu sein, muß ich gestehen, daß ich mich fragte, wieviel er wirklich wußte, denn bislang hatte er keine klare Anklage vorgebracht.
»Es ist, scheint mir, eine Frage des Temperaments«, fuhr der Gelehrte im selben ruhigen Tone fort. »Sympathie und Mitgefühl sind wertvolle Eigenschaften bei einem Arzt, bedenklich bei einem Mann, der kriminelle Verfehlungen untersucht. Ich glaube, daß ich einen Fehler beging, als ich Sie veranlaßte, in den Staatsdienst einzutreten. Sie eignen sich besser für eine private Praxis.«
Nun war der Schlag gefallen, und ich mußte mich mit ihm abfinden.
»Wenn das Ihre Meinung ist, Sir Frank, will ich mein Abschiedsgesuch einreichen«, erwiderte ich.
Australien, Kanada, Südafrika zogen als mögliche Zufluchtsstätten für einen vermögenslosen Mediziner an meinem Auge vorbei. In England war nichts mehr für mich zu hoffen, nachdem das Innenministerium mir sozusagen den Laufpaß gegeben hatte.
Mein promptes Anerbieten schien jedoch besänftigend auf meinen Richter zu wirken.
»Darüber werden wir nach meiner Rückkehr von Paris sprechen«, sagte er freundlich. »In Ihrem eigenen Interesse rate ich von irgendeinem plötzlichen Schritte ab. Es gilt auch Lady Violet zu berücksichtigen. Wie ich vorhin bemerkte, haben Sie als ihr Beschützer gehandelt. Etwas, das im Entferntesten nur einem offiziellen Verweis oder einem Zugeständnis Ihrerseits, daß Sie Tadel verdienten, ähnelte, würde ihr bestimmt Kummer bereiten, auch wenn sie selbst nicht direkt davon betroffen wird. Sie sprach heute Mittag in herzlichem Ton von Ihnen, Cassilis.«
Arme Violet! Sie hatte das Verkehrteste getan, was sie in meinem Interesse tun konnte. Einem älteren Bewunderer gegenüber einen jungen Mann zu loben – welch anderes Ergebnis konnte das haben, als daß dieser aus dem Wege geräumt wurde? ...
Ich fühlte mich zu niedergeschlagen, um Sir Franks Rat mit mehr als einer stummen Verbeugung zu beantworten. In der nächsten Minute war er gütig wie in alten Tagen zu mir, lud mich ein, ihn zum Bahnhof zu begleiten, und schüttelte mir noch aus dem Schlafwagenfenster heraus kräftig die Hand.
Um mich zu zerstreuen und die langen Stunden bis zur Schlafenszeit abzukürzen, legte ich den Heimweg zu Fuß zurück. Als ich die stille Halle in der Montague Street betrat, war die Abendpost schon eingetroffen, darunter ein Brief für mich im blaßblauen Umschlag. Ich riß ihn auf, und noch in Hut und Mantel las ich:
Lieber Bertrand,
ich schreibe Ihnen umgehend, um Ihnen zu sagen, daß Sie von dem lieben, guten Sir Frank nichts zu befürchten haben. Er sprach in Worten höchsten Lobes von Ihnen, erzählte meinem Vater, daß eine glänzende Laufbahn vor Ihnen läge und Sie in wenigen Jahren eine Praxis mit einem Jahreseinkommen von wenigstens dreitausend Pfund haben würden.