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9

Als ich zum Lunch nach der Montague Street zurückkehrte, war Sir Frank noch immer in der Stadt, so daß ich mich allein zu Tisch setzte. Obwohl Verspätungen im medizinischen Beruf nichts Ungewöhnliches sind, erfaßte mich ein leichtes Unbehagen, weil ich, wie es mir vorkam, den Gelehrten allzu lange aus dem Gesichte verlor. Die Untersuchung hatte einen Grad erreicht, der es mir wünschenswert erscheinen ließ, jeder Bewegung Tarletons zu folgen. Nur so wähnte ich das bedrohte Mädchen etwas schützen zu können.

Mein einsames Mahl war fast vorüber, als sich das Telephon meldete. Ich ging mit der Erwartung an den Apparat, Inspektor Charles' Stimme zu hören, und sah mich nicht getäuscht.

»Teilen Sie Sir Frank mit, daß Lady Violet Bradwardine auf Schloß Tyberton in Herefordshire, dem Landsitz ihres Vaters, weilt«, beauftragte er mich. »Sie reiste vorgestern mit dem Abendzug von London ab, ist mithin während der Mordnacht nicht im Domino-Klub gewesen.«

Ich tat, als sei die Nachricht für mich ganz neu. Hinterlistig stellte ich sogar die Frage, ob man auf die Richtigkeit der Auskunft bauen könne.

»Daß sie London mit jenem Zug verließ, steht fest«, gab Charles zur Antwort. »Desgleichen, daß sie bis jetzt nicht zurückkehrte. Und ihre Briefe werden ihr nach Schloß Tyberton nachgeschickt. Natürlich vermag ich mich für ihre Anwesenheit dort erst dann zu verbürgen, wenn ich jemanden hingesandt habe. Wünscht Sir Frank, daß dies geschieht?«

Ich zauderte. Nicht, daß ich mich um das Ergebnis solcher Nachforschungen sorgte, aber ich mißtraute dem Takt von Inspektor Charles und seinen Leuten. Vielleicht gingen sie so plump zu Werke, daß Lady Violet davon erfuhr und erschreckt wurde.

»Sir Frank ist gerade abwesend. Ich werde ihm bei seiner Rückkehr sofort Bericht erstatten und Sie seine Absichten wissen lassen. Ich denke nicht, daß er auf eingehendere Nachforschungen Wert legt. Lady Violet hat ja ein ausreichendes Alibi.«

»Oh, Sir Frank betonte aber, daß er die kleinsten Einzelheiten über die zwölf Personen der Liste erfahren möchte«, widersprach die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Über einige sind wir schon genau orientiert. Julia Sebright ist tot. Sir George Castleton hält sich im Auslande auf. Zuletzt ist er in Neapel in ziemlich zweideutiger Gesellschaft gesehen worden ...«

Derartiges hatte ich befürchtet. Und koste es, was es wolle – ich mußte versuchen, die Spürhunde von Violet Bradwardines Vergangenheit fernzuhalten.

»Gewiß ist es Sir Frank um Einzelheiten zu tun«, unterbrach ich den unsichtbaren Sprecher. »Doch wenn es sich eindeutig herausgestellt hat, daß die betreffenden Personen nicht in den Fall verwickelt sind, wird er es sicher nicht billigen, wenn man hinter die Kulissen ihres Privatlebens späht. Das wäre eine ungebührliche Ausnutzung der Information, die wir durch die Bücher ihres Arztes erhielten. Sir Frank Tarleton selbst könnten Ungelegenheiten daraus erwachsen, wenn ...«

»Woraus können Sir Frank Tarleton Ungelegenheiten erwachsen?« erklang da eine Stimme hinter mir.

Der Hörer entfiel meiner Hand. Ach, ich war ein schlechter Schauspieler! Ich fühlte, wie eine heiße Glutwelle in meine Wangen schoß, wie meine Augen dem Blick der scharfen, grauen auswichen.

»Verzeihung, Sir«, stotterte ich. »Ich versuchte Inspektor Charles klarzumachen, daß es unratsam sei, Weathereds Patienten mit Fragen über ihr Privatleben zu belästigen, sofern nicht triftige Gründe für einen Verdacht gegen sie vorliegen.«

Rasch nahm Tarleton den Hörer auf.

»Hallo, hier bin ich selbst. Haben Sie gehört, was Dr. Cassilis sagte? Er hat vollkommen recht, Inspektor. Wir haben uns um keinen von Weathereds Patienten zu kümmern, dessen Schuldlosigkeit feststeht. In dem Augenblick, da sie als Täter ausscheiden, gehen sie uns nichts mehr an.«

Schwer zu sagen, ob das Erstaunen oder die Freude über diese Bekräftigung meiner Worte überwog! Aber noch war ich aus der Patsche nicht heraus. Mein Chef ließ den Inspektor die mir bereits übermittelte Nachricht wiederholen, wobei Charles natürlich die Gelegenheit wahrnahm, sich zu verteidigen.

»Es handelte sich um Lady Violet Bradwardine, Sir Frank«, erläuterte er. »Dr. Cassilis schien anfänglich meinem Bericht, daß sie vor dem Maskenball nach Herefordshire abgereist sei, zu mißtrauen.«

Tarleton legte die Hand auf die Muschel und fragte über die Schulter hinweg:

»Warum das, Cassilis?«

Unbewußt hatte mir der Detektiv einen guten Dienst erwiesen.

»Ehe ich die Verantwortung auf mich lud, Ihnen das Alibi zu berichten, habe ich Captain Charles nur gefragt, ob er von der Richtigkeit auch überzeugt sei. Darauf erbot er sich, einen seiner Beamten nach Lord Ledburys Landsitz zu schicken. Ich aber bedeutete ihm, er möge keine weiteren Schritte ohne Ihre vorherige Billigung unternehmen.«

Mein Chef lächelte sehr freundlich.

»Hallo, Captain Charles«, rief er in die Muschel. »Dr. Cassilis hat meinen Standpunkt durchaus begriffen. Es besteht nicht die geringste Notwendigkeit für Sie, sich vorderhand noch mit Lady Violet zu befassen. Die Person, der mein ganzes Interesse gilt, ist Captain Armstrong, Mitglied der Königlich Geographischen Gesellschaft und ein sehr bekannter Forschungsreisender. Ich würde Ihnen für seine augenblickliche Adresse sehr dankbar sein.«

Am anderen Ende der Leitung antwortete man nicht sofort. Der Inspektor schien sein Notizbuch zu Rate gezogen zu haben, denn seine Erwiderung, die mir entging, bewog Tarleton zu einem zweimaligen: »Ich weiß. Ich weiß.« Dann fuhr er fort: »Auch in den Klubbüchern steht er nicht. Ich möchte die Verbindung mit ihm aus einem anderen Grunde aufnehmen. Er wird mir vielleicht bei der Feststellung der Todesursache helfen können.«

Nach Beendigung dieses Telephongespräches aß Tarleton hastig sein Lunch. Inzwischen berichtete ich ihm von dem erlittenen Fehlschlage. Aber die Leoparden auf Sumatra schienen ihm inzwischen gleichgültig geworden zu sein.

»Ich bin im Lesesaal des Britischen Museums gewesen«, erzählte er mir. »Vor zwei Jahren – nach der Lektüre seines Buches über Sumatra – machte ich Captain Armstrongs Bekanntschaft; doch ich hatte seinen Namen vergessen und mußte ihn heute im Katalog über Sumatra erst wieder suchen. Dann ließ ich mir sein Buch » Quer durch Sumatra« geben und ersah aus der Titelseite, daß er auch ein Buch über West-Afrika verfaßt hat, wo es – wie jedermann weiß – Leoparden gibt. Es boten sich ihm also reichlich Möglichkeiten, in den Besitz von Fellen und Klauen zu gelangen.«

Mehr und mehr klärte sich mir die Sachlage. Schon wußte ich, woher das graue Pulver in Tarletons Safe rührte. Die Reiseschilderung des Forschers mußte irgendeine Andeutung von einem unbekannten, auf Sumatra heimischen Gifte enthalten haben. Tarleton, von Wissensdurst und Sammlerleidenschaft erfaßt, hatte daraufhin die Bekanntschaft des Autors gesucht, im Laufe ihrer Unterhaltung erfahren, daß dieser etwas von dem Gift besaß, und ihn überredet, ihm einen Teil für seine Sammlung abzutreten. Jetzt aber lag ihm daran, zu erkunden, ob Armstrong leichtsinnigerweise auch anderen das gefährliche Pulver überlassen hatte.

Ich war von dieser unvorhergesehenen Wendung so beglückt, daß ich mich wegen meiner eigenen Beziehungen zu der Tragödie weniger grämte. Um so unangenehmer empfand ich daher den Schock, als ich daran erinnert wurde, daß noch andere Punkte der Aufklärung harrten.

»Ich glaube, wir werden zunächst noch einmal Betty Neobard verhören, die uns fraglos nicht alles erzählt hat, was sie von Weathered und seinen weiblichen Patienten weiß«, ergriff Sir Frank von neuem das Wort. »Sie kennt vielleicht auch die Bedeutung der Nummern.«

Als Grund für diesen abermaligen Besuch bei Weathereds Angehörigen schützte Tarleton die Beerdigung der Leiche vor. Wie er mir sagte, würde er ein Attest ausstellen, das die sofortige Beerdigung gestattete.

Eine Freigabe der Leiche, noch ehe es sich entschieden hatte, ob die Mordanklage erhoben werden würde oder nicht? ... Das konnte nur bedeuten, daß man sowohl im Innenministerium als auch im Ministerium des Äußern meinem Chef blindlings vertraute und ihm Schalten und Walten nach eigenem Ermessen erlaubt worden war.

In der Warwick Street ließ er sich bei Mrs. Weathered melden. Aber als der junge Butler uns in das Sprechzimmer geführt hatte, erschienen wenige Minuten später Mutter und Tochter.

Mrs. Weathered – tiefschwarz gekleidet – machte den Eindruck, als ob sie sich mit dem Schicksal ihres Gatten abgefunden habe; trotzdem aber befand sie sich in einem Zustande höchster Nervosität – erklärlich angesichts der Umstände.

»Ich belästige Sie nur deshalb noch einmal, gnädige Frau«, begann Tarleton, »um Ihnen offiziell zu sagen, daß meine Untersuchung der Leiche Ihres Gatten beendet ist. Ich bin bereit, zu bescheinigen, daß die Todesursache auf einem Versagen des Herzens beruht.«

Betroffen sah ich den Sprecher an. Im gewissen Sinne freilich kann man jeden Tod auf ein Versagen des Herzens schieben; es fragt sich nur, warum das Herz versagt hat. Und ich wußte ganz genau, daß auf dem Totenschein dies ausführlicher erklärt werden müsse. Aber Mrs. Weathered verlangte nicht nach näheren Erklärungen.

»Also ist er eines natürlichen Todes gestorben!« rief sie erleichtert.

»Nehmen Sie dies ruhig an«, erwiderte Sir Frank, »und erörtern Sie vor allem die Sache mit niemandem. Ich möchte Ihnen, wenn es irgend geht, die Aufregungen und Unannehmlichkeiten einer gerichtlichen Totenschau ersparen. Daher schlage ich vor, daß die Leiche am späten Abend oder bei Morgengrauen hierher geschafft wird, und dann können Sie Ihre eigenen Anordnungen für das Begräbnis treffen.«

»Wie soll ich Ihnen danken, Sir Frank!« Mrs. Weathered blickte zu ihrer schönen Tochter hinüber. »Besser hätte es gar nicht ablaufen können, Kind. Ich habe mich vor der gerichtlichen Totenschau mehr gegraut, als du ahnst.«

Betty nagte an ihrer Unterlippe. Sie schien über irgend etwas nachzudenken, und wirklich warf sie plötzlich den Kopf zurück und schaute Tarleton durchdringend an. »Ja, meine Mutter hat allen Grund, Ihnen dankbar zu sein«, meinte sie ungnädig. »Aber Sie haben uns bisher verschwiegen, was das Versagen des Herzens verursachte.«

»Riet ich nicht soeben Ihrer Mutter an, über diesen Punkt nicht zu grübeln? ... Wenn Sie, Miß Neobard, jedoch mit mir privat darüber reden wollen, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.«

»O nein, nein, nein!« Dieser dreifache Protest kam aus dem Munde der Witwe, die aufgeregt nach Bettys Hand haschte. »Kein Wort mehr, liebes Kind. Sir Frank Tarleton weiß am besten, was not tut. Wir müssen uns seinen Anordnungen fügen.«

Die junge Dame kniff die Lippen zusammen. Irrte ich mich, oder flog zwischen ihr und Tarleton ein Blick des Einverständnisses hin und her? In der nächsten Sekunde erhob sich mein Chef.

»Ihre Einsicht verdient höchstes Lob, gnädige Frau. Können Sie mir übrigens eine Frage beantworten? Als ich Dr. Weathereds Terminbuch durchblätterte, stieß ich auf verschiedene Namen, hinter denen eine Nummer stand. Sind Sie über die Bedeutung der Zahlen unterrichtet?«

Die Witwe verneinte es. Zahlen? ... Sie wisse überhaupt nichts von ihnen und noch viel weniger über ihre Bedeutung. Betty aber tauschte während dieser Versicherung abermals einen raschen Blick mit Sir Frank.

Das erste Wort, das Tarleton im Wagen sprach, nahm hierauf Bezug.

»Miß Neobard scheint mich aufsuchen zu wollen, Cassilis. Sie ist nicht befriedigt. Und außerdem dürstet sie danach, Rache an den Frauen zu nehmen, die sie haßt.«

Die Voraussage erfüllte sich schneller, als wir gedacht. Knapp eine halbe Stunde nach unserer Rückkehr traf Betty in der Montague Street ein ... eine rasende Furie.

»Sir Frank Tarleton, was bedeuten diese Machenschaften? Mein Stiefvater wurde ermordet; das wissen Sie sehr genau. Warum vertuschen Sie die Angelegenheit? Weil sich die Polizei an einige hohe Herrschaften, die darin verquickt sind, nicht herantraut? Gibt es vielleicht ein Gesetz für die Reichen und ein anderes für die Armen? Die Leute mit Würden und Titeln, das sind die schlimmsten! Ich, habe jene Ziffern in dem Buche Dr. Weathereds gesehen und glaube ihre Bedeutung zu kennen. Es sind die schuldigen Patientinnen, die sich in seiner Macht befanden und deshalb triftigen Grund hatten, ihn zu ermorden. Wenn Sie mehr wissen wollen, Sir Frank Tarleton, rate ich Ihnen, sich an Lady Violet Bradwardine zu wenden.« Barmherziger Himmel! Gerade als ich mich der beruhigenden Gewißheit überließ, daß Lady Violets Alibi sie vor weiteren Nachforschungen gerettet hatte, schleuderte dieses rabiate Mädchen eine entsetzliche Denunziation heraus, die alles ans Tageslicht zu zerren drohte.

Ich sah, wie mein Chef die goldene Repetieruhr aus der Tasche nahm, und als sie langsam an dem schäbigen Bande hin und her pendelte, wußte ich, daß diese neue Wendung tiefsten Eindruck auf ihn machte. »Dr. Cassilis kann Ihnen sagen, daß die Polizei nichts vertuschen will und vor keinem Namen innehält«, erwiderte Tarleton der Wütenden. »Bitte, Cassilis, teilen Sie Miß Neobard mit, was Inspektor Charles uns berichtete.«

Betty Neobards Überraschung durfte sich mit der meinen messen. Weshalb gab Sir Frank nicht selbst das Ergebnis der polizeilichen Nachforschungen preis? Wähnte er, daß das erregte Mädchen meinem Wort eher glaube als dem seinigen? Oder vertraute er nur meiner Geschicklichkeit, eine schwierige Situation zu meistern? Und wie weit sollte ich in meinen Enthüllungen gehen? Sollte ich der Anklägerin zu verstehen geben, daß man ihr genau so gut nachgespürt hatte wie Lady Violet?

»Die Polizei hat über Lady Violet Bradwardine in Erfahrung gebracht«, begann ich ziemlich verwirrt, »daß sie eine Patientin Dr. Weathereds und Mitglied des Domino-Klubs war, daß sie sich jedoch zur Zeit seines Todes nicht in London befand. Sie war auf dem Landsitz ihres Vaters in Herefordshire.«

»Das glaube ich nicht«, lautete die erboste Antwort. »Wohlverstanden, ich glaube nicht, daß Sie mich hinters Licht führen wollen, aber die Polizei hat Ihnen nicht die Wahrheit berichtet. So wahr ich hier in diesem Zimmer stehe: sie war in jener Nacht bei ihm in der Nische, wo er tot aufgefunden wurde.«

»Darf ich fragen, woher Sie das so genau wissen, Miß Neobard?« forschte ich, nachdem mich mein Chef durch ein Nicken ermuntert hatte, fortzufahren.

Diese unumwundene Frage brachte ihr die Tatsache zum Bewußtsein, daß ihre Zunge mit ihr durchgegangen war.

»Was hat das mit der Sache selbst zu schaffen?« erwiderte sie störrisch. »Fragen Sie doch, wen Sie wollen! Fragen Sie, ob nicht eine Frau auf dem Fest gesehen wurde, die einen römischen Helm, einen Harnisch und einen Frauenrock darunter trug.«

Mir pochte das Herz zum Zerspringen. Und die Halsstarrigkeit des Mädchens reizte meinen Zorn.

»Unmöglich können Sie das wissen, Miß Neobard, wenn Lady Violet zu der fraglichen Zeit Hunderte von Meilen entfernt auf dem Lande war. Haben Sie etwa mit ihr gesprochen? Mit ihr oder vielmehr mit der Trägerin jenes Kostüms?«

Ich hatte mich von meinem Grimm fortreißen lassen und gewahrte, daß Tarleton unwillig die Brauen zusammenzog, während Betty Neobard mich in höchster Aufregung anstarrte.

»Ich mit ihr gesprochen?« wiederholte sie meine Worte. »Wie soll ich das verstehen? Ich war nicht ... ich bin nicht Mitglied des Klubs. Wenn Ihnen aber daran liegt, zu erfahren, wer jene kriegerische Amazone war, so erkundigen Sie sich bei Madame Bonnell – als Leiterin weiß sie über alles Bescheid.«

Jetzt endlich griff Sir Frank ein, wahrscheinlich, um eine neue Voreiligkeit von mir zu verhüten.

»Wir sollten, glaube ich, Miß Neobard nicht verschweigen, daß die Trägerin des Zenobia-Kostüms nicht die einzige gewesen ist, deren Verhalten in jener Nacht Aufmerksamkeit erregte.«

Mit Freuden nahm ich den Faden auf. Es dünkte mich hohe Zeit, daß Lady Violets Feindin ihre eigene bittere Medizin zu kosten bekam.

»Ja«, erklärte ich, »die Tänzerin, die man am häufigsten in Dr. Weathereds Gesellschaft sah, hatte sich als Salome verkleidet. Können Sie uns etwas über ihre Person sagen?«

Betty Neobard war klug genug, um die Gefahr zu erkennen; sie brauchte man nicht darauf hinzuweisen, daß die Polizei, einmal auf Salome aufmerksam geworden, diese bald identifiziert haben würde. Desungeachtet kämpfte sie gegen das nahende Unheil an. »Die Salome steht dem Verbrechen gänzlich fern. Sie war eine Freundin Dr. Weathereds, und nur der Wunsch, ihn vor den übrigen Frauen zu schützen, verleitete sie zum Betreten des Klubs«, gab die Stieftochter des Ermordeten fast flüsternd zurück.

»Ihn davor zu schützen, vergiftet zu werden? Oder – aus Eifersucht – jeden Tanz mit einer anderen Frau zu verhindern – was meinen Sie?«

Ah, nun hatte Tarleton endlich den Schuß abgefeuert! Nach einem jähen Erbleichen schoß das Blut mit doppelter Gewalt in Bettys Wangen. Sie begann zu zittern und brach sodann in ein haltloses Schluchzen aus. »Sie wissen also, daß ich die Salome gewesen bin, und haben mich die ganze Zeit an der Nase geführt«, stieß sie hervor. »Und jetzt halten Sie mich für ein schlechtes, verworfenes Frauenzimmer, wie? Nein, nein, das bin ich nicht! Bei Gott im Himmel schwöre ich, daß ich nichts Unrechtes beabsichtigte ... Ich ... ich hätte es mir niemals träumen lassen, daß ich ... daß meine Gefühle für ihn ...« Hilflos brach sie ab. »Ich ärgerte mich über die Art, wie er meine Mutter behandelte. Als er sie zu vernachlässigen und anderen Frauen nachzulaufen begann – immer unter dem Deckmantel, sie seien nur seine Patienten –, haßte ich ihn. Pflicht gegen meine Mutter schien es mir, ihn zu überwachen. Er aber fand es bald heraus, und er, der so gut in Frauenherzen zu lesen verstand, erkannte, daß ich auch um meiner selbst willen eifersüchtig war. Da beschwichtigte und tröstete er mich, lullte mich ein. Ah, er verstand jede Frau zu unterjochen, wenn es ihm beliebte. Er erzählte mir von seinen Patientinnen, flocht Klagen ein, daß sie ihm immer nachstellten und ihn nie allein ließen. Bisweilen schenkte ich ihm Glauben und dachte, die Schuld läge auf ihrer Seite; bisweilen aber hielt ich ihn für den Schuldigen. Schließlich wußte ich überhaupt nicht mehr, was Trug und was Wahrheit war. Und um Klarheit zu erlangen, besuchte ich in jener Nacht ...«

Der Rest des Satzes ging unter in einem jämmerlichen, verzweifelten Weinen.


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