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Mit ehrlichem Mitleid schaute ich auf die Ärmste, ungeachtet der rachsüchtigen Haltung, die sie noch vor ganz kurzem bekundet hatte. Tarleton jedoch bewahrte auch diesem wilden Schmerzensausbruch gegenüber seine Ruhe. Als er wieder sprach, klang sein Ton zwar höflich, aber geschäftsmäßig – vielleicht die beste Taktik nach Lage der Dinge.
»Sie haben Dr. Cassilis und mir sehr wenig erzählt, auf das wir nicht schon vorbereitet waren, und nichts, das uns unverständlich erschiene. Doch nunmehr müssen wir einige Auskünfte von Ihnen verlangen. Erstens möchte ich wissen, wie Sie sich Zutritt zum Domino-Klub verschafften.«
Betty Neobard wischte die letzten Tränen von ihrem nassen Gesicht ab.
»Ich kaufte von Madame Bonnell eine Eintrittskarte.«
»Wie, bitte?« fragte Tarleton, als ob er nicht recht gehört habe. »Heißt das, daß all und jeder sich mit Geld die Erlaubnis erwerben konnte?«
»All und jeder wohl nicht. Aber unüberwindlich dürften die Schwierigkeiten nicht gewesen sein. In Kensington und Chelsea war es sicher offenes Geheimnis, daß Madame Bonnell Karten verkaufte. Sie machte zwar viel Wesens davon und stellte es als eine grenzenlose Gefälligkeit hin, aber lediglich deshalb, um den Preis zu halten.«
»Und der Preis belief sich?«
»Auf fünf Pfund. Sie notierte dann den betreffenden Namen in einem Buche unter Hinzusetzung des Namens von einem Klubmitglied, von dem man angeblich eingeführt wurde. Ob es sich um einen erfundenen oder einen wirklichen Namen handelte, vermag ich nicht zu sagen.«
Tarleton lächelte grimmig.
»Daher also Madames Winkelzüge und Ausflüchte, als wir die Bücher von ihr verlangten. Es müssen so nebenher ganz hübsche Summen in ihre Tasche geflossen sein. Wußte sie denn, wer Sie waren?«
»O nein. Ich wenigstens habe es ihr nicht verraten. Ich nannte mich Mrs. Antrobus.«
»Den Namen las ich im Gästebuch«, warf ich ein.
Mein Chef bestätigte es durch ein Nicken.
»Stellte sie auch Fragen wegen des Kostüms?«
»Ja. Ich antwortete ihr, daß ich mich noch nicht entschieden hätte, und sie empfahl mir dann ein Geschäft in Coventry Street, wo ich eine gute Auswahl haben würde.«
»Ein anderer kleiner Nebenverdienst!« meinte der kluge Doktor. »Denn zweifellos bezieht sie dort einen Anteil. Ich habe Madame gleich für eine tüchtige Geschäftsfrau gehalten ... Was wissen Sie nun eigentlich über Lady Violet Bradwardine, Miß Neobard?«
So sehr ich die Frage gefürchtet hatte – die Antwort fürchtete ich noch mehr.
Wieder lief eine Blutwelle über das schöne Mädchengesicht.
»Ich weiß, daß sie mehr als eine Patientin war«, erwiderte Betty leise. »Ich weiß auch, daß er sie außerhalb des Hauses und außerhalb des Klubs traf.«
»Verzeihung, Miß Neobard, das genügt mir nicht. Sie haben Lady Violet unverhohlen angeklagt, daß sie ihn vergiftet hätte. Infolgedessen bin ich berechtigt, nachzuprüfen, ob Sie außer persönlicher Mißgunst und Abneigung irgendwelche Gründe zu solchem Verdacht haben.«
Die Antwort glich einem qualvollen Würgen. Kein Wunder, daß es Betty Neobard Mühe kostete, einzugestehen, wie weit ihre Eifersucht sie getrieben hatte.
»Ich wußte seit langem, daß er meine Mutter anderer Frauen wegen vernachlässigte. Fast jede Nacht brachte er draußen zu, und niemals bekamen wir zu erfahren, wo er gewesen war. Ich wollte meine Mutter zur Scheidung bewegen, zu der sie aber Beweise benötigte. Und so folgte ich ihm.«
»Daß Sie ihm in jener Nacht in den Domino-Klub folgten, sagten Sie bereits. Aber Sie müssen die beiden doch auch sonstwo gesehen haben.«
Das Mädchen bejahte es.
»Beim Spaziergang im Regent's Park. Und beim gemeinsamen Diner in ...« Sie wisperte den Namen eines Restaurants, das den Londonern als eine Stätte bekannt ist, zu der die Männer häufiger anderer Leute Frauen und Töchter mitnehmen als ihre eigenen.
Zartfühlend belästigte Tarleton die Zeugin nicht mit Fragen über ihre eigene Taktik. Ich hatte das Gefühl, als ob sie mit einem Privatdetektiv gemeinsam auf die Pürsch gegangen war.
»Vielleicht sind sie Freunde gewesen«, gab Sir Frank zu bedenken.
»Nein!« Schneidend scharf klang die Silbe. »Er machte ihr den Hof, das konnte ein Blinder sehen. Aber sie wies ihn zurück, voll Abneigung, voll Haß.«
»Und dennoch ging sie mit ihm aus?«
»Oh, das geschah bestimmt gegen ihren Willen. Sie machte den Eindruck einer Gefangenen.«
Arme, unglückliche Violet! Aber auch ich war zu bedauern, der all dies anhören und gleichgültig und unbeweglich wie ein Stück Holz bleiben mußte. Doch die erbarmungslose Anklägerin tischte weitere Einzelheiten auf.
»Bei jenem Dinner im Restaurant versuchte er, ein Armband um ihr Gelenk zu legen. Sie entriß ihm die Hand so heftig, daß das Schmuckstück zu Boden fiel. Geschickt ließ Weathered darauf auch seine Serviette hinabgleiten, um – ohne daß der Kellner von der Szene etwas merkte – mit der Serviette auch das Armband aufzuheben.«
»Schön. Wenden wir uns nun der Nacht seines Todes zu«, lenkte mein Chef ab. »Was veranlaßt Sie zu der felsenfesten Überzeugung, daß diese Frau im römischen Helm und Harnisch Lady Violet war?«
Jetzt hatte ich allen Grund, aufmerksam zu lauschen. Wenn Betty Neobard den Gelehrten von der Richtigkeit ihrer Behauptung zu überzeugen verstand, drohte jener, um die ich mich bangte, unabsehbare Gefahr.
»Madame Bonnell sagte es mir.«
Tarleton warf mir einen raschen Blick zu, und in meiner Erregung stellte ich die nächsten Fragen selbst.
»Weshalb? Wie konnte sie es wissen?«
Betty blickte ein wenig verwirrt auf den Teppich hinab.
»Ich vermute, Madame Bonnell bleibt nichts im Klub verborgen. Ehe sie mir die Karte verkaufte, fragte sie, ob ich irgendein Mitglied kenne. Da ich es nur als eine Formsache auffaßte, nannte ich Lady Violets Namen. Hernach erkundigte ich mich beiläufig, ob wohl auch Lady Violet an dem Fest teilnehmen würde und in welchem Kostüm. »Sicher wird sie kommen«, erhielt ich zur Antwort. Nach dem Einkassieren einer weiteren Pfundnote geruhte Madame Bonnell, mir auch das Kostüm zu verraten. Sie ist eine Frau, die für Geld alles tun würde!«
»Bitte weiter«, mahnte Sir Frank, als sie nach dieser Charakterschilderung der Französin schwieg. »Vermutlich beobachteten Sie diese Zenobia während der Nacht. Fiel Ihnen nichts an ihr auf? Einer der Kellner scheint sie für einen Mann gehalten zu haben.«
»Einen Mann!« rief Miß Neobard in unverfälschter Überraschung. Die Eifersucht hatte ihren Blick zu Zeiten getrübt und zu Zeiten geschärft. »Nein, nichts dergleichen ist mir aufgefallen. Ich glaubte, was Madame mir gesagt hatte; außerdem benahm sich die Maske wie Lady Violet. Und bestimmt hat auch Weathered geglaubt, sie sei es. Vergeblich mühte ich mich, die beiden voneinander fernzuhalten. Er veranlaßte sie, in die Nische zu kommen. Sie kam widerstrebend, genau, wie ich's erwartete. Dann ging ich ganz nahe heran und beobachtete sie durch den Vorhang. Dr. Weathered bestellte Kaffee für sich und seine Gefährtin ...«
Warum schaltete sie jetzt eine Pause ein? Erzählte sie eine sorgfältig ausgeklügelte Geschichte und zögerte – wirkungsvoll – vor der verhängnisvollen Stelle? Oder scheute sie sich, Worte auszusprechen, die einen Mitmenschen zum Tode verurteilen konnten? ...
»Und?« drängte der Gelehrte sanft.
Betty Neobard atmete tief auf.
»Ich sah, daß sie etwas in seine Tasse fallen ließ.«
Sie lügt, dachte ich. Und ich denke es noch heute. Schwerlich werden sich mein und Betty Neobards Weg auf dieser Erde wieder kreuzen, und es mag sein, daß ich ihr Unrecht tue. Aber nach ihrer Darstellung hatte sie einen Mordanschlag beobachtet und hatte nicht den kleinen Finger gerührt, um das Leben des Mannes zu retten, den sie halb haßte und halb liebte.
Jedenfalls war die Anklage aus ihrem Munde gefallen – in Gegenwart des Vertreters des Innenministeriums, der danach handeln mußte.
»Waren Sie der Ansicht, daß die Person – gleichgültig, wie sie hieß – ihn vergiften wollte?« fragte ich, einem Wink meines Chefs folgend.
»Was denn sonst?« Fast barsch fertigte sie mich ab, als sei sie nicht geneigt, mir Rede und Antwort zu stehen.
»Und Sie taten nichts? Griffen nicht ein?«
»Was konnte ich machen? Hätte ich eine Szene heraufbeschworen, so würde sie glatt geleugnet und er ihre Partei genommen haben. Überdies spielte sich alles im Nu ab. Bevor ich überhaupt klar zur Besinnung kam, hatte er den Kaffee schon getrunken.«
»Denken Sie nach, Miß Neobard«, sagte ich ernst und eindringlich. »Vielleicht täuschten Sie sich. Überlegen Sie, daß Sie eine junge Dame des Mordes bezichtigen, die Ihnen nichts Böses zugefügt hat, und die, wie Sie selbst zugaben, das unschuldige Opfer Ihres Stiefvaters war.«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte, sie habe ihn gehaßt. Sie kann nicht unschuldig gewesen sein, wenn sie ihn vergiftete.«
» Wenn!« wiederholte ich nachdrücklichst. »Sie haben gehört, daß sie sich nach dem Polizeibericht in einer ganz anderen Provinz befand. Derselbe Polizeibericht setzte uns aber davon in Kenntnis, daß Sie im Klub waren. Und Sie haben es ebenfalls zugegeben.«
»Wie? ...« Das Mädchen schnellte von seinem Stuhl empor. »Wollen Sie andeuten, ich hätte irgendwie damit zu tun?«
Ich suchte das Auge meines Chefs. Er lag, weit zurückgelehnt, in seinem Sessel, spielte mit der goldenen Uhr und lauschte der grimmigen Wortfehde mit der Aufmerksamkeit eines unparteiischen Richters.
»Sie zwingen mich, Miß Neobard, Ihnen die Lage, in der Sie sich befinden, klarzumachen«, fuhr ich fort. »Ein Todesfall bewog die Polizei, gewisse Nachforschungen anzustellen, und es ergaben sich Verdachtsmomente gegen mehrere Personen. Lady Violet Bradwardine war die eine, Sie die andere. Lady Violets Unschuld ist erwiesen worden; die ihrige wird nur durch Sie selbst bezeugt. Sie haben daher die stärksten Beweggründe, den Verdacht auf jemand anders zu wälzen, und das haben Sie schon lange besorgt. Jetzt aber gehen Sie zu einer direkten Anklage über, decken sich aber den Rücken, indem Sie sagen, Sie hätten alles durch einen Vorhang gesehen. Noch einmal frage ich Sie deshalb, ob Sie Ihrer Sache ganz sicher sind, und mahne Sie, sich Ihre Antwort sorgfältig zu überlegen.«
Auf Bettys Neobards Gesicht spiegelten sich die verschiedensten Gemütsbewegungen wider. Staunen wandelte sich in Wut, Wut wurde zur zaghaften Furcht.
Und Tarleton versetzte ihr den letzten Stoß.
»Obwohl wir keine Polizeibeamten sind«, sagte er, »hat Dr. Cassilis recht, Sie zur Vorsicht zu ermahnen. Ich behalte mir vor, was Sie auch äußern, der Polizei zu berichten.«
Wie hatte sich das Bild verändert! Die triumphierende Anklägerin sah sich plötzlich auf der Bank des Angeklagten. Sie maß uns beide mit einem Blick abgründigen, machtlosen Zorns, machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Zimmer und das Haus.
Mein Chef schenkte mir ein beifälliges Lächeln.
»Ich gratuliere, Cassilis; Sie haben sich sehr tapfer geschlagen. Der guten Betty Neobard wird wohl die Neigung vergangen sein, die Polizei anzuklagen, sie wolle den Fall vertuschen.«
»Meinen Sie, daß sie ihre Hände im Spiel gehabt hat?« forschte ich zögernd.
»Das ist vorläufig unwichtig«, verwies er mich. »Zenobia kümmert mich zur Zeit mehr als Salome. Der Kellner deutete an, der Träger des ersten Kostüms in jener Unglücksnacht sei ein Mann gewesen; die Polizei behauptet, Lady Violet habe London spät nachmittags verlassen. Natürlich kann sie unterwegs auf einer Station ausgestiegen und heimlich wieder zurückgefahren sein. Aber immerhin! ...«
»Dann nehmen Sie doch Charles' Vorschlag, einen Mann nach Herefordshire zu schicken, an, Sir.«
»Hm ...« brummte er. »Ich fürchte, seine Leute werden noch weniger Takt besitzen als er, Cassilis. Ob Lady Violet unschuldig oder schuldig ist – ich möchte nicht, daß sie beunruhigt wird. Mir scheint es die beste Lösung, wenn ich selbst fahre und ihr, anstatt heimlichen Nachspürens, ganz offen einen Besuch abstatte.«
Sollte ich diesen Plan willkommen heißen oder nicht? Fraglos würde Tarleton Lady Violet weniger erschrecken als die Polizei; jedoch würde er auch viel eher herausfinden, was ich ängstlich zu verbergen strebte.
Aber Sir Frank ließ mir keine Zeit zu weiteren Überlegungen.
»Schlagen Sie die Züge nach Hereford nach«, befahl er mir.
Ich gehorchte.
»Werde ich Sie begleiten, Sir?« Ich stellte die Frage ohne Hoffnung und jauchzte daher innerlich über die Antwort.
»Aber gewiß. Das verdienen Sie doch allein schon durch Ihr ritterliches Eintreten für die arme junge Dame. Hinfort betrachte ich Sie als ihren Anwalt. Nein, nein, Sie müssen mitkommen und ihr da draußen ebenfalls helfen!«
Halb sprach er im Ernst und halb im Scherz, so daß ich im Zweifel darüber blieb, ob er wirklich bemerkt hatte, daß ich mich nicht aus allgemeiner Menschenliebe zu Lady Violets Verteidiger aufgeworfen hatte. Jedenfalls schien er keine Abneigung gegen sie zu verspüren, und das machte mich froh.
Dann wurde dieses Thema nicht mehr zwischen uns berührt, auch nicht im Zuge, der uns Hereford entgegentrug. Während eines großen Teils der Fahrt saß der Gelehrte stumm in seiner Ecke, den goldenen Pendel leise schwingend, zum sichtlichen Erstaunen des einzigen Passagiers, der mit uns das Abteil teilte.
Ich saß ihm gegenüber, von bittersüßen Erinnerungen heimgesucht. Damals, als ich die Reise zum erstenmal gemacht hatte, war ich dritter Klasse gefahren, den Rucksack auf dem Rücken und die Hoffnungen der Jugend im Herzen. Die romantischen Hügel und Täler des Grenzlandes wollte ich durchstreifen, das Goldene Tal und die unbetretenen Beacons, die auf Breconshire herabsehen. An jeden Schritt des Weges erinnerte ich mich, von dem Morgen an, als ich, das Angesicht nach Westen gerichtet, auf die bewaldeten Hänge von Blakemere zugewandert war, bis zu der Stunde, als ich in dem paradiesischen Frieden plötzlich jene getroffen hatte, die für mich dasselbe wurde wie dereinst Königin Guinevere für Lancelot.
Kaum vier Jahre waren seitdem verstrichen, und nun kehrte ich zu den Gefilden meiner schwermütigen Romanze zurück ... als ein Vertreter des Gesetzes, beauftragt, gegen die Gefährtin jener Tage eine Untersuchung durchzuführen.
In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. Ruhelos wälzte ich mich in dem Hotelbett herum. Doch ehe wir unsere Zimmer aufsuchten, war es mir geglückt, mich ein paar Minuten von dannen zu stehlen, unbeaufsichtigt von den scharfen, grauen Gelehrtenaugen ein paar Zeilen zu kritzeln und sie nach Schloß Tyberton abzuschicken. Sie lauteten:
»Seien Sie morgen früh, wenn Sir Frank Tarleton ankommt, abwesend. Um zwölf bei der Scheune, wenn möglich. Zenobia.«