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10.
Der Gang um Mitternacht.


Ich war mit Genossen meines Alters und meiner Studien noch spät in die Nacht hinein beisammengewesen. Es war über Mitternacht hinaus, als wir uns trennten. Mein Weg führte mich einsam in eine entfernte Gegend der Stadt. Ich mußte über den Schloßplatz, über die Kurfürstenbrücke, fast die ganze Königsstraße hinab, dann nach dem Köpenicker Stadtviertel zu. Vergebens hatte ich einen der lustigen Brüder aufgefordert, mich wenigstens einen Theil des Weges zu begleiten; der Eine wohnte am Opernplatz, und fand es unerhört anmaßend von mir, daß ich ihn verleiten wolle, so weit ab von seinem Ziele zu irren, der Andre gab vor, noch einen Gang bis an's Brandenburger Thor zu machen, um dort bei einem kranken Freunde zu wachen, der übrige Theil entfernte sich streitend und lärmend, [106] ohne viel auf mein Verlangen zu hören. So war ich denn allein. Die Straßen waren wie ausgestorben, die helle Mondscheibe stand am Himmel. Grade an dem Tage hatte die Nachricht von der Kaiserwahl in Frankfurt in den Zeitungen gestanden, und in der Gesellschaft, die eben auseinander ging, hatte ich mich erhitzt, zu beweisen, wie vortrefflich es sei für Preußen, für Deutschland, wenn der König, was er auch, wie ich fest überzeugt war, thun werde, die ungebotene Krone annähme. Ich hatte anfangs Gegner gefunden, zuletzt aber vereinigten wir uns Alle in der einen Ueberzeugung, und Jeder von uns strengte seine Phantasie an, immer einen neuen Zug an dem Bilde der Macht, Größe und des Glanzes der Stadt und des Landes hinzuzufügen, wie Beide in der Zukunft sein sollten. Berlin sollte die Kaiserresidenz werden und ein zweites Babylon an Pracht und Schimmer. Wie ich nun in den einsamen Straßen mich befand, mich ein kühler Nachtwind anwehte, kamen mir jene Bilder und Gedanken neu in die Seele. Ich schritt mit einem gewissen Stolz über die Brücke, der Reiterstatue des großen Kurfürsten vorüber, indem ich zu dem alten Herrn hinaufsah, ihn gleichsam um Billigung meiner Träume und Hoffnungen ansprechend.

[107] In der Mitte der Königsstraße gesellte sich ein Herr zu mir, den ich nicht kannte. Auch er schien ein Nachtvogel, wie ich, auch er kam wohl aus einer lustigen Gesellschaft, die sich erst spät trennte. Aber dieses Mannes Wesen wollte mir nicht behagen. Schon, daß er ohne Weiteres sich zu mir gesellte, daß er, indem er neben mir auf dem nicht sehr breiten Steinwege daherschritt, mich mit Schulter und Arm öfters berührte, und vor allen Dingen, sein leises Flüstern, und undeutliches Sprechen machten, daß dieser nächtliche Wanderer mir unheimlich vorkam, und ich danach trachtete, mich von ihm los zu machen. Dies gelang mir aber nicht. Wie ich ihn einmal scharf anblickte, kam es mir vor, als wenn er unter seinem Hute gar keine Augen hätte, oder ein Auge zu viel, jedenfalls ging unter dem Schatten dieses breitränderigen Filzes, der eine ganz ungewöhnliche Form hatte, und von einem unbeschreiblich schadhaften, mottenfraßigen Ansehen war, etwas Mysteriöses vor. Der Mann erzählte mir, daß er lange in irgend einem Winkel Schottlands – ich glaube, er nannte mit auch den Ort – gelebt, und nun, wie durch Zufall, hierher nach Berlin gekommen. Er besitze die Gabe der Schotten, setzte er hinzu, Dinge zu sehen, die noch in der Zukunft [108] verborgen; man nenne diese Gabe ›das zweite Gesicht.‹ Bei diesen Worten wendete er mir den Fleck unter seinem Hute zu, wo nichts als eine mit glatter Haut bespannte Fläche war, statt der Augen. Mich ergriff ein namenloses Grausen; aber als ein junger Bursch, der anständig zu leben weiß, selbst mit Gesellen aus dem Geisterreiche, bezwang ich mich, sagte nichts, sondern ging still und keck neben dem abscheulichen Maulwurf her. Er sprach fort und fort, und zuletzt faßte ich eine Art Gewohnheit zu ihm, und fragte ihn:

›Könnten Sie wohl auch schon sehen, wie eine Stadt um hundert Jahr ausschaut?‹

›Gewiß, das kann ich,‹ erwiederte er.

›Und diese Gabe auch mir mittheilen?‹ fragte ich.

›Gewiß, das kann ich‹ – sagte er wieder. ›Sie müssen sich mir nur fest anschließen, und meine Hand nicht loslassen.‹ – Teufel! es war auch recht angenehm, diese kalte, feuchte Tatze ohne Handschuh immer in der meinigen zu halten! – ›Dann wollen wir einen Boden betreten, auf dem ein Geschlecht wandelt, noch nicht geboren.‹

Mich erfaßte wieder das frühere Grausen.

›Gut,‹ sagte ich, ›hier ist meine Hand.‹

[109] ›Und hier die meinige.‹ – Und nun bekam ich diese große, feuchte, eiseskalte Hand ohne Handschuh.

›Aber Sie müssen mir Eins versprechen, und dieses Eine unverbrüchlich halten. Sie dürfen nie eine Frage, die man an Sie richtet, beantworten; Sie selbst können fragen, so viel Sie wollen. –‹

›Sie haben gut verbieten!‹ rief ich ärgerlich. ›Wen soll ich hier in der Stille und Einsamkeit fragen.‹

›O, was das betrifft,‹ entgegnete mein Maulwurf, ›so werden wir bald nicht mehr einsam sein.‹

Wir bogen jetzt in die Köpenicker Straße ein, und es fiel mir auf, daß die ganze, lange Straße, so weit ich sie hinabsehen konnte, in einen weißlichen Nebel gehüllt war; die übrigen Straßen zeigten sich im hellen Mondschein klar und deutlich.

›Wer ist da?‹ rief ich. ›Woher dieser Nebel?‹

›Wir müssen durch –‹ entgegnete mein Gefährte.

Und je weiter wir gingen, um desto dichter wurde der Nebel um uns her, so daß ich zuletzt, wie in einem Milchbade, schwamm, und nichts, auch nicht einmal meine Hand, wenn ich sie vor meine Augen erhob, sehen konnte. Hätte ich nicht die kalte Hand meines Begleiters, der mich gewaltsam weiter zog, [110] in meiner Rechten gefühlt, ich hätte mich rettungslos für verloren geben müssen.

Endlich wich der Nebel.

Und wer beschreibt mein Staunen, als ich einen Wunderbau um mich her entstehen sah. Der weiße Nebelschleier glitt von dem prächtigen, schlanken Wuchs himmelragender Säulen mit vergoldeten Capitälern nieder, und eine Kirche, so stolz und so mit Pracht überladen, wie ich sie nie – auch nicht in Abbildungen kostbarere Bauwerke – gesehen, stand vor uns. Um diese Kirche herum, in einem weiten Rund, standen Palläste an Palläste, eines dieser Marmorhäuser immer herrlicher als das andre, und alle im Silberlichte des Mondes zauberhaft erblühend, mit ihren blinkenden Dächern und dem Walde von Statuen auf denselben.

›Was ist das?‹ rief ich – ›Ist das meine bescheidene Köpenicker Straße?‹

›Still,‹ sagte mein Begleiter, mit einem sonderbaren, schnarrenden Tone in der Sprache. ›Sie wissen, daß wir nicht mehr sind, wo wir waren. Während wir durch den Nebel gingen, ist allerlei mit uns und der Welt passirt. Lesen Sie jene Verordnung dort!‹

Die Verordnung selbst enthielt nichts Wichtiges, [111] sie betraf irgend ein gewöhnliches Straßen-Polizei-Gesetz, wie erschrack ich aber, und wie bebte ich an allen Gliedern, als ich unter dem Gesetz die Jahreszahl 1949 las.

›Also, Berlin im Jahre 1949!‹ rief ich.

›Ja, Berlin im Jahre 1949!‹ wiederholte die schnarrende Stimme.

Wir waren über den Platz gegangen, den ein Obelisk von außerordentlicher Höhe zierte, der mit Inschriften über, der Himmel weiß, was für Siege illustrirt war, und standen jetzt vor einem Hause, dessen Fensterreihe sich glänzend erleuchtet zeigte. Eine Menge prachtvoller Equipagen warteten hier in langer Reihe auf ihre Eigenthümer. Das Fest schien seinem Ende nahe zu sein.

›Wer wohnt hier?‹ fragte ich.

›Kenne ich die Namen?‹ entgegnete mein Gefährte kurz. ›Weiß ich, wie ein Geschlecht heißt, das erst um hundert Jahre nach uns seine Tage zu zählen beginnt? Ich bin hier so unbekannt wie Sie; lassen Sie uns die Treppe hinaufgehen.‹

Wir traten in's Vorzimmer. Ein Herr kam uns entgegen. Er kehrte, als er uns erblickte, rasch wieder um und rief der Gesellschaft im Salon zu:

[112] ›Aufmerksamkeit meine Herren und Damen, es kommen Masken!‹

›Masken?‹ wiederholte ich, und sah dabei meinen Begleiter an. Dieser hatte sein unscheinbares Hütchen mit dem breiten Rande noch tiefer in's Gesicht gedrückt, und schritt voran.

›Erinnern Sie sich an Ihr Versprechen,‹ flüsterte er mir zu.

Als wir in den Saal traten, erkannte ich auf den ersten Blick den Grund, weshalb man uns als Masken angekündigt. Unsere Kleidung war sehr verschieden von der, die wir hier sahen. Es war fast die Kleidertracht aus dem Jahrhundert Ludwig des Vierzehnten, doch mit merklichen Unterschieden. Eine große Entfaltung an kostbaren Stoffen zeigte sich, ein Luxus in Edelsteinen und Gold, und eine Anwendung eines gewissen Putzgegenstandes, den ich nicht kannte und daher nicht zu nennen weiß; es waren eine Art Schleier, die aber zugleich wie lange Straußfedern aussahen und bei denen ich nicht errieth, ob sie ein Erzeugniß der Kunst oder der Natur seien. Jedenfalls hatte dieser Putz, den nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer trugen, etwas sehr Phantastisches. Bei Einigen diente dieser schimmernde und zarte Ueberwurf zu einem [113] Mantel, in den sie sich einhüllten. So sah ich mehrere solche vermummte Gestalten in den Ecken stehen und an der Unterhaltung nicht Theil nehmen. Wahrscheinlich beobachteten diese Wesen, vielleicht schliefen sie auch. Bei Einigen, an denen ich zufällig vorbeiging, sah ich die dunkeln Augen hinter dem Flor oder den Federn hervorblitzen.

Mein Begleiter verließ mich nicht; er hielt mich fortwährend an der Hand. Von ihm ging die Traumkraft aus, die mich in diesem merkwürdigen Zustand erhielt. Ich fühlte, daß, sowie er mich frei lassen würde, ich den Boden unter meinen Füßen wanken fühlen würde.

›Es ist recht artig von Ihnen,‹ sagte die Dame zu uns, ›daß Sie aus dem Maskensaale von drüben in Ihrem Costüm hierher gekommen sind. Ich kenne diese Tracht, und sie ist mit großer Genauigkeit wiedergegeben. Es ist die Kleidung aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Eine alberne und lächerliche Tracht. Mein Urgroßvater hat sich als Bräutigam darin malen lassen.‹

Sie ging an uns vorüber, und wir befanden uns jetzt dicht bei einem kleinen Manne von großer Lebendigkeit und nicht geringerer Gesprächigkeit. Es war mir lieb, zu hören, daß es ein Professor der [114] Geschichte war. Jetzt eilte ich, einige Fragen an ihn zu richten, doch mußten diese Fragen nothwendig so gestellt sein, daß sie nicht meine gänzliche Unkenntniß der Dinge, die sich seither ereignet, kund gaben.

›Mein Himmel!‹ rief ich, ›wie groß und schön ist Berlin geworden!‹

›Seit wann haben Sie es nicht gesehen?‹ fragte mein Historiker rasch.

Ich war in der größten Pein wegen der Antwort. Zugleich fühlte ich das Zucken der Hand meines Führers in der meinigen. Zum Glück wartete der lebendige, kleine Mann auf keine Erwiederung.

›Es ist wahr,‹ sagte er: ›Berlin schließt jetzt gleichsam drei große Städte in sich. Aber der älteste Theil zerfällt in Trümmer, und ist fast nicht mehr als Stadt zu rechnen; so zum Beispiel die Gegend nach dem ehemaligen Thiergarten hinaus, vor hundert Jahren eine sehr beliebte und bedeutende Gegend; jetzt bildet sie das Armen-Viertel von Berlin. Dagegen war vor hundert Jahren der Platz, wo jetzt die Stadt ihre prächtigste und stolzeste Größe entfaltet, wo das neue Residenzschloß steht, ein wüstes Feld. Man hat neulich, als man den Grundstein zu der Kaserne der Tscherkessischen Garde legte, die Trümmer eines alten Gebäudes beseitigt, das [115] den Namen Bethanien führte und einst ein Krankenhaus gewesen sein soll, von einer grandiosen Ausdehnung.‹

›Eine Tscherkessische Garde?‹ fragte ich verwundert.

›Nun ja, eine Tscherkessische Garde‹ – antwortete ein Mann – ›die besteht ja schon seit dreißig Jahren.‹

Ich fühlte wieder eine Verlegenheit. Das Gespräch stockte, und der kleine Gelehrte sah mich eine kleine Weile mit Verwunderung von der Seite an. Zugleich überkam ihn aber, mir sehr gelegen, die Lust zu plaudern wieder in dem Grade, daß er, ohne weiter sich aufzuhalten, in seinen Betrachtungen über das ehemalige Berlin fortfuhr:

›Mein Urgroßvater, der einst berühmte Historiker Ranke, der die neun Bücher preußischer Geschichte geschrieben hat, hinterließ bei seinem Tode interessante Notizen über das damalige Berlin, die ich jetzt zu veröffentlichen gedenke.‹

›O, ich bin noch heute mit ihm in einer Gesellschaft zusammen gewesen –‹ platzte ich heraus.

›Mit meinem Urgroßvater?‹ sagte der kleine Gelehrte spitz. Er schien es für einen Scherz zu nehmen und sagte mit Lächeln: ›Wie belehrend und [116] belustigend wäre das. Mein Urgroßvater lebte noch zur Zeit der preußischen Könige.‹

Ich wußte nicht, wie ich es anfangen sollte, zu fragen, ob diese Könige jetzt nicht mehr regierten. Mein kleiner Schwätzer überhob mich der Verlegenheit, indem er die folgenden Thatsachen mit jenem Gleichmuth zu referiren begann, mit dem er auf dem Katheder zu sprechen pflegte.

›Friedrich Wilhelm IV., der zur Zeit meines Urgroßvaters regierte, stemmte sich, wie dies auch sehr löblich war, gegen die damalige Idee, ganz Deutschland zu einem großen Ganzen zu machen, was, nebenbei gesagt, eben so wenig gelingen wird, als Italien jemals zu einem Ganzen zu machen, oder Griechenland. Aber der Nachfolger Friedrich Wilhelm IV. ging auf diese Idee ein und wie bekannt, erlebte Deutschland darauf seinen zweiten dreißigjährigen Krieg, der noch viel blutiger war, als der erste, schon aus dem Grunde, weil die erhöhte Wissenschaft tausend Mittel mehr den Kriegern in die Hände gab, zu morden und zu vertilgen. Es war ein Bürgerkrieg, wie ihn noch nie die Welt gesehen.‹

Wie gern hätte ich mich nach den nähern Umständen dieses Krieges und nach dem Orte seines Friedensschlusses erkundigt, allein, was hätte mein [117] Professor zu dieser Unwissenheit gesagt? Ich schwieg also und wartete ab, daß er, ohne gefragt zu sein, mir die gewünschte Auskunft ertheilen werde. Er that es auch.

›Nach dem Frieden von Moskau,‹ sagte der kleine, gelehrte Sprecher, ›kamen denn die Verhältnisse zu Stande, wie sie beinahe jetzt noch bestehen. Rußland nahm bis zum Rhein dasjenige Deutschland, das sich früher Preußen, Hannover und Mecklenburg nannte. Griechenland erhielt Bayern durch Erbschaftsansprüche, Frankreich nahm den Süden des ehemaligen Deutschland nebst einem Theile des Königreichs Bayern. Oesterreich wurde zu einem großen Magyarenstaate gemacht, der es noch ist, und das eigentliche Deutschland, das heißt, was noch diesen Namen führt, besteht aus dem, wenige Quadratmeilen Umfang fassenden, ehemaligen kleinen Fürstenthum Lichtenstein. Das ist jetzt das Fürstenthum Deutschland.‹ –

Ich blickte durch's Fenster. Der helle Mondschein lag über diesen Dächern, beleuchtete diese Säulen und Kuppeln, die einer Stadt gehörten, an der ich keinen Theil hatte. Ich betrachtete dieses Geschlecht der Menschen um mich her, die ich sprechen hörte, an denen ich hinstreifte und sie berührte, während [118] die Kluft eines Jahrhunderts mich von ihnen trennte. Ein Schwindel erfaßte mich. Die eben gehörten Worte trieben wie Kreisel in meinem Gehirn herum. ›Mein Himmel! Wenn dies Alles sich vollendet haben wird, was dann?‹

Diese Frage mußte wohl unwillkürlich meinen Lippen entschlüpft sein, denn der Gelehrte sah mich an und fing lebhaft mein ›Was dann?‹ auf.

›Nun, die Frage ist leicht zu beantworten. Deutschland wird in einigen Jahren ganz von der Bühne der Weltgeschichte verschwinden. Aber darum wird sein Erbe für die anderen Nationen nicht verloren sein. Der deutsche Tiefsinn, die deutsche Gründlichkeit, der deutsche Fleiß, der deutsche Forschergeist, die deutsche klare und tiefe Poesie wird den Nationen, die grade an diesen Eigenschaften Mangel leiden, zu Gute kommen. So hat ja auch das aufgelös'te Römerreich eine ganze barbarische Welt befruchtet mit Wissenschaft, Kunst und Humanität. Die einzelnen Staaten gehen unter, aber auf dem Sterbebette hinterlassen sie ihren Mitbrüdern große Schätze.‹

›Es ist aber auch möglich,‹ rief ich, ›daß Deutschland sich doch wieder erhebt und mächtig wird.‹

›Möglich! Ja, denn was wäre auf dem Globus, [119] den wir als Ameisen umkriechen, nicht möglich. Der junge Fürst von Deutschland ist ein energischer Charakter. Der letzte Handstreich, den er hat ausgehen lassen, ist nicht übel.‹

›Und welcher ist das?‹ fragte ich höchst neugierig.

›Nun, er hat die Archive geplündert. Er hat Briefe und Dokumente durch Raub an sich gebracht, die da seine Rechte auf verschiedene Throne nachweisen.‹

›Auf verschiedene Throne? Ah – ich glaube, er wird Recht haben.‹

›Freilich hat er Recht. Ich habe selbst in meinem letzten historischen Werke, in dem neunundsiebenzigsten Bande meiner sämmtlichen Schriften, nachgewiesen, daß, da dieser Fürst ein Hohenzoller ist, er nothwendig in diesem Lande regieren müßte. Ich habe durch diese kühne Meinung eine Schuld der Dankbarkeit abgetragen, die mein Urahn jenem Hohenzollerschen Königsstamm schuldete, unter dessen Schutz er lebte und schrieb.‹

›Das ist hübsch von Ihnen,‹ sagte ich.

›O ja, ich glaube es wohl, es ist sehr hübsch von mir,‹ wiederholte der kleine Gelehrte selbstzufrieden.

[120] Wir waren näher an's Fenster getreten und wieder weilte mein Blick auf dem ungeheuren Platze mit seinem Springbrunnen und Marmorgruppen. Diese märchenhafte Residenz schien jetzt nach und nach in Schlummer zu sinken. Man sah nur wenige Leute über den Platz gehen und der große Obelisk warf seinen Schatten, wie die Zeiger einer Riesenuhr, über das runde Zifferblatt des Platzes hin und schien auf die Mitternachtsstunde zu zeigen.

›Wie sich schön die Gruppe dort, der Raub der Sabinerinnen, macht? Im Mondschein ganz vortrefflich. Der Anführer der Schaar ist die Portrait-Statue unseres Kaisers. Das Ganze ist eine Allegorie. Die geraubten Sabinerinnen sind die eroberten Staaten. Die Gruppe ist ein Meisterstück unseres Rauch, wie Sie wissen werden.‹

›Rauch?‹ rief ich und schöpfte Athem zu einer sehr kindischen Frage, ›desselben Künstlers, der die Standbilder Blücher's und Scharnhorst's geschaffen?‹

Der Gelehrte sah sich verwundert um und rief: ›Davon ist mir nichts bekannt. Wer sind jene Männer?‹

Ich schwieg. Jener setzte hinzu: ›Der Künstler stammt aus einem Geschlechte, das manches brave Talent produzirt hat. Zu den Zeiten meines [121] Urahn's, des berühmten Historikers, wie ich schon bemerkt habe, der die neun Bücher preußischer Geschichte geschrieben hat, lebte auch ein Rauch; von seinen Werken ist nichts übrig geblieben als eine sitzende Victoria, die allerdings sehr schön ist, und die in den Sälen des kaiserlichen Museums aufbewahrt wird. Bei der Gründung der neuen Hauptstadt des griechischen Kaiserreichs fand man unter den Trümmerhaufen eines Gebäudes, das den Namen Wallhalla führte, unter sehr vielen werthlosen Schöpfungen diese Muse.‹

›Was bedeutet,‹ fragte ich, ›jene schwarze Draperie um die zwei vordern Säulen jener Kirche?‹

›Man wird morgen einen Trauergottesdienst dort feiern,‹ sagte ein Nachbar. ›In den ungeheuren Gewölben jener Kirche ist die Unmasse von Gebeinen aufgesammelt, die in jenen mörderischen Bürgerkriegen fielen. Deutschland unter eine Religion zu bringen hat den ersten mörderischen dreißigjährigen Krieg hervorgebracht. Deutschland in eine politische Gestaltung zu gießen, hat den zweiten Mordkrieg veranlaßt, das Land fast zur Wüste gemacht, und es fremden Gebietern untergeordnet. Ich habe in meinem neuesten Buche nachgewiesen, in dem [122] achtzigsten Bande meiner gesammelten Werke, wie glücklich Deutschland hätte sein können, wenn die einzelnen Staaten unter gesicherten Regierungsformen neben einander hätten bestehen wollen. Griechenland hat so bestanden, es ist ein hellstrahlendes Staatenmeteor am Himmel der Geschichte geworden. Deutschland hat viel Aehnlichkeit mit Griechenland. Es hat die Empfänglichkeit und Bedächtigkeit, die eine immer höher steigende Völkercultur zuläßt. Und wer sagt, was da kommt; könnte ich um hundert Jahre wieder auf der Welt erscheinen, so würde ich vielleicht sehen, wie Deutschland aus der Nacht der Prüfung hervorgezogen, und geläutert endlich die Größe erreicht, die ihm bestimmt ist, nämlich freie Staaten in einem freien und starken Staatenbunde; blühend in Allem, was Kunst, Leben und Völkerverkehr heißt. Mein Urahn hat etwas Aehnliches in einer seiner Schriften gesagt, er konnte aber nicht voraus sehen, daß, ehe Deutschland diese Staffel seines Ruhms erstieg, es erst durch die gefährlichen Stürme der Ränke und Eifersüchteleien der einzelnen Stämme werde steuern müssen. Die schlechte und unächte Freiheit mußte erst ihre Geißel über das arme Land schwingen, ehe die gute und ächte ihre Segnung zu vertheilen schien.‹

[123] ›Das ist ein großer und erhebender Gedanke,‹ rief ich.

›Ja,‹ entgegnete der Gelehrte, ›ich pflege nie andere als große und erhebende Gedanken zu haben. Das ist einmal das Erbtheil meiner Familie. Aber darf ich fragen, wie viel Uhr es ist?‹

Ich zog meine Uhr hervor und sagte rasch: ›es hat eben zwölf geschlagen.‹

Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, als ich die Gestalt des Gelehrten vor mir erzittern, und in eine schwarze, verworrene Nebelmasse zusammenrinnen sah. Zu gleicher Zeit ging ein schrillender Laut durch das Zimmer. Ich sah, wie zahllose Schatten an mir hinglitten, und ein eisig kalter Wind pfiff um meine Schläfe. ›Was haben Sie gethan!‹ hörte ich meinen Führer rufen, und sich krampfhaft an meinen Arm klammern. ›Was haben Sie gethan!‹ –

›Diese Zeit ist nicht die unsere!‹ hört' ich eine Stimme sagen.

In diesem Augenblicke waren Palläste und Kirchen, Straßen und Plätze verschwunden, und wir standen auf dem öden Felde. Ein dichter, weißer Nebel hatte sich, wie früher, um uns her gelagert. Kaum war es möglich diesen Nebel zu durchdringen.

Endlich gelangten wir wieder in bekannte [124] Gegenden. Meinen Gefährten, ohne ein Wort zu sagen, verließ ich. Er hatte einen drohenden und wilden Ausdruck im Gesicht. Ich habe ihn nicht wieder gesehen.«

 

Die kleine Gesellschaft schwieg, nachdem diese letzten Worte verklungen. Alle ohne Unterschied hatte der Gehalt dieses phantastischen Berichts ergriffen. Clementine preßte die kleinen Hände fest vor die Augen und rief, sich in unheimlichen Schauern schüttelnd: »Gott! Wenn es wirklich dahin käme! Wenn alles das Wahrheit würde! Wenn unser herrliches Preußenland – unsre Hauptstadt – Nein, nein, nein! Es ist nicht möglich! Es ist das ein wahnwitziger, abscheulicher Traum! Ich will gar nicht mehr daran denken.«

»Und es würde und müßte so werden,« sagten die jungen Männer, »wenn unser König nicht weise und überlegt von sich weiset, was ihm geboten wird in diesen Tagen.« –

»Und dieser Mann ›ohne Augen‹,« sagte der Kommerzienrath, »wie gern möchte ich ihm einst begegnen. Also in der Gegend der Kurfürstenbrücke trafen Sie auf ihn?«

Die Damen lächelten: »Kommerzienräthchen!« rief Clementine, »Sie erfinden selbst so viel und so oft, [125] und wissen doch eine Erfindung nicht zu würdigen? Ei wie seltsam! Es ist ja kein Wort wahr an Allem! Unser Poet hat's nur geträumt. Aber solche Träume liebe ich nicht. Ich sage nochmals, es kann nicht so kommen, es wird nicht so kommen. Ich will noch heute Abend auf's Köpenicker Feld hinausfahren, und zu dieser lieben Haide, zu diesem interessanten Kartoffelfelde sagen: ›bleibe nur hübsch so wie Du bist, und laß Dir bei Leibe nicht in den Sinn kommen, einst russische Kirchen und Palläste zu tragen. Hörst Du!‹« –


[126]


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