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Zwölftes Kapitel.

Hug, es ist entsetzlich. Seit zwei Tagen haben wir uns kaum flüchtig einige Minuten allein gesehen. Der Erbgroßherzog weicht nicht von ihrer Seite, ist von morgens bis abends um sie. Wir reiten zusammen, spielen zusammen Tennis und fahren Automobil. Der Weidinger trägt seine Absichten mit naiver Offenheit zur Schau, und die wenigen Augenblicke, die wir für uns allein haben, quäle ich sie, bis sie schluchzt, und ich kann doch nicht anders. Ich verlange von ihr Unmögliches, fordere, daß sie nie mit ihm lacht, sich die verwandtschaftlichen Anreden verbittet und ihm immer wieder ihre Abneigung zeigt. Sie tut, was sie kann, und mehr noch. Wenn er sie ansieht, übt sie sich im Schielen und schneidet Gesichter ...

Unsere hohe Frau aber unterstützt ihn in jeder Weise. Als wir gestern nach dem Frühstück auf der Terrasse saßen, forderte sie die Prinzessin auf, dem Vetter den Park zu zeigen. Gehorsam, wenn auch nicht sehr einladend gegen den Erbgroßherzog, folgte die Prinzessin. Und während ich ihr fassungslos, unfähig, mich zu beherrschen, nachsah, führte die Großherzogin die Hand durch die Luft, als ob sie etwas auslöschen wollte, und murmelte wie zu sich selbst:

»C'est la vie ... c'est la vie ...«

*

Gestern bekam ich den ersten Brief von ihr. Sie ist krank, fiebert und liegt im Bett. Die hohe Mutter hat mit ihr gesprochen. Morgen kommt der Großherzog aus Biesenburg auf telegraphische Ansage. Ich bin wie gehetzt ...

*

Nachts zwei Uhr. Wir sind eben gelandet. Klatschend peitscht der Regen die Fenster und der Südost heult um das Haus, ein verirrter, wahnsinnig gewordener Scirokko. Ich zittere am ganzen Körper und vermag kaum die Feder zu halten ...

*

Ich ging zum Diner und traf den Arzt vor dem Portal.

»Ein schweres Fieber ... ohne Besinnung ... merkwürdiger Erschöpfungszustand der Nerven ...«

Selbst fiebernd trat ich ins Vestibül. Der alte Beserbeck kam und teilte mir mit, daß die Großherzogin mit ihrer alten Kammerfrau allein die Pflege übernommen habe. Ich erschrak vor mir selbst, als ich in den Spiegel sah. Ein eingefallenes Gesicht mit tiefliegenden Augen starrte mir entgegen. Dann schritt ich wie ein Trunkener in den altdeutschen Saal und wurde dem Großherzog vorgestellt. Ein ernstes Gesicht, das mit dem des Vaters viel Ähnlichkeit hat, vielleicht etwas weichere Züge. Auch der Weidinger reichte mir die Hand. Ich war wie bewußtlos und mußte mich erst vom alten Beserbeck aufmerksam machen lassen, mich bei ihm genauer nach dem Befinden der Prinzessin zu erkundigen. Dann gingen wir zur Tafel. Der Großherzog war schweigsam, tiefernst, aber außerordentlich freundlich und dankte mir für meine Anhänglichkeit. Der Weidinger redete ausschließlich von der Sophie, wunderte sich über die plötzliche Erkrankung und ließ sich vom Großherzog und dem Hofmarschall trösten. Dann trank er etwas zu viel Sekt und stieß mit dem Biesenburger auf nahe Verwandtschaft und ewige Freundschaft an. Der alte Beserbeck sprach von dem innigen Verkehr der Väter und von den Reden auf der Taufe der Prinzessin. Und ich saß dabei, sprach gleichgültig von Pferden und Automobilen, ließ mir vom Weidinger über meine Remonten berichten und horchte fiebernd gegen den Plafond. Ich glaubte, den Schritt unserer hohen Frau zu vernehmen, sah sie am Bette sitzen und mit der kühlen Hand leise und beruhigend über die heiße Stirn der Tochter streichen. Und ich sah das bleiche Gesichtchen der Sophie in den flutenden Haarwellen, sah die hastig arbeitende zarte Brust, die glitzernden Zähne in dem halb geöffneten Mund und hörte es durch die Dämmerung des Krankenzimmers leise hallen: Hab' doch Vertrauen ... hab' doch Vertrauen ... Und ich sah, wie sich die Augen der Mutter mit Tränen füllten, wie sie sich über das Bett beugte und ihr Kind küßte. Nach der Tafel hielt es mich nicht länger. Ich log nicht, wenn ich von Krankheit sprach, fühlte teilnehmend die ernsten Augen des jungen Herrschers auf mir ruhen und stürmte hinaus.

Schon der ganze Tag war von Nebel und lauem Wind unangenehm begleitet worden, und jetzt in der Dämmerung sah ich, wie sich schwere Wolkenmassen am Himmel türmten. Und plötzlich erinnerte ich mich an ein paar hingeworfene Worte Sautons, als er mit mir um die Jacht herumfuhr und mir den eigentümlichen Spruch zeigte.

»So sicher, wie auch Sie die Einsamkeit des Meeres lieben lernen werden, gilt dieser Spruch auf meinem Schiff für Sie: Flüchten Sie sich jederzeit in seinen Kreis, wenn Ihre Stunde gekommen ist.«

Ich eilte ins Hotel, kleidete mich um und ließ mich an den Strand fahren. Dann kettete ich in der schweren, dunkelen Brandung das kleine Boot los und war eben im Begriff, abzustoßen, als ich Sauton auf mich zueilen sah. Er kam vom Pferdchenspiel aus dem Seepavillon und rief mich laut an. Ich konnte nicht mehr ausweichen und wartete auf ihn.

» Est-ce que vous êtes fou? C'est une chose impossible, c'est insensé, de faire voile ...«

Er sah mich prüfend an, dann sprang er mit einem Satz ins Boot.

» Moi je n'ai rien à perdre!«

Wir kämpften uns durch die Dünung in die hohlgehende See, ruderten auf die stark schlingernde Jacht zu und klommen mühsam an Bord. Der Kapitän empfing uns verwundert, deutete auf die schwarze Wolkenwand am Himmel und machte auf das stoßweise Pfeifen und Singen des Windes in der Takelage aufmerksam. Es sei unmöglich, meinte er, in See zu gehen, in einer Stunde sei der Sturm über uns und würde uns bei der Nähe der Küste unzweifelhaft auf die Riffe werfen.

Sauton ließ ohne Antwort die Mannschaft antreten, stellte denen, die sich fürchteten, den Kutter zur Verfügung und trieb sie, sich zu entscheiden, da wir die Küste bald hinter uns haben mußten.

Die harten, wettergebräunten Gesichter der Matrosen blickten fast gleichgültig, und keiner trat hervor, um an Land zu gehen. Auf einen Wink Sautons stürzten sie an die Ankerwinde und holten die rasselnden Ketten ein. Andere setzten am Bug Segel, und die Jacht schob sich langsam und unschlüssig vor den Wind. Schließlich hob sich das Hauptsegel schlackernd am Mast, blähte sich, und ächzend bog sich das ganze Schiff um seine eigene Achse tief auf die Leeseite. Dann gab es in allen Fugen erzitternd nach, und in wachsender Fahrt rauschten wir über die schwer rollenden Wogen scharf vor dem Westwind in südöstlicher Richtung dem offenen Meere zu.

Ich schreibe dir das alles so genau, lieber Hug, um meine Gedanken zu disziplinieren ...

Wir hatten beide Ölzeug angelegt und folgten, gegen den Mast gelehnt, den heftigen, sprunghaften Bewegungen des Schiffes, das von dem böigen Winde gegen die Wellenberge geworfen wurde, sich bald tief auf die Seite legte, bald hob, bald mit dem Klüverbaum in einen Wellenberg stieß und flutende Wasserströme übernahm.

Es dunkelte stark, die Küste begann bald in einem dunstigen Nebelschleier zu verschwinden. Aus der Ferne blinkten, gleichsam in der Luft hängend, die Lichter der großen Bogenlampen des Kasinos von Monte Carlo herüber, und in der kalten, feuchten Luft rauchte uns der Atem um Mund und Nase. Wir hielten uns an den Messingringen des Mastes und hatten uns Leinen um den Arm geschlungen. Dicht hinter uns hörten wir die Ketten des Steuerrades knarren, Kapitän und Steuermann hatten sich festgebunden und hielten das Ruder schwer gegen die See. Das Meer ging immer hohler, immer häufiger flutete das Wasser über unsere Füße.

Plötzlich rief hinter uns der Kapitän. Sauton ließ den Messinggriff los, spannte das Seil und schwankte vorsichtig auf den Steuerbau zu. Da stieß eine scharfe Böe aus dem steifen Wind heraus und bog das Schiff so tief in Lee, daß die Leinwand fast auf dem Wasser lag. Sauton glitt aus und rutschte dicht an meinen Füßen vorbei ins Meer. Ich hörte ein trockenes Lachen und sah, als sich das Schiff wieder aufrichtete, wie Sauton sich am Seil mühsam über Bord arbeitete. Er triefte von Wasser, sprang auf und schwankte schnell auf den Kapitän zu. Abgerissene Worte flogen zu mir herüber, und ich hörte, wie sie wegen des Großsegels verhandelten. Dann stand Sauton mit mächtig arbeitender Brust wieder neben mir. Plötzlich begann der Wind ganz abzuflauen, ich war im Begriff, mich vom Seil zu lösen. Da gellte die Stimme Sautons an mein Ohr, hoch, scharf, schneidend durch die Luft klingend. Dann sah ich einige Matrosen um mich herum huschen, sah die schlackernde Bewegung der Leinwand dicht vor meinen Augen, und plötzlich senkte sich das Großsegel rauschend vor meine Füße und wurde vertäut. Von dem schweren Druck des Hauptsegels befreit, der dem Schiffe bisher die Kraft zum Widerstande gegen die Wellen gegeben hatte, tanzte die Jacht wie eine Nußschale auf dem Meere. Wir hatten nun nur noch vorn und hinten die winzigen Sturmsegel in den Tauen.

Es war die höchste Zeit zum Einziehen des Großsegels gewesen. Von Westen her ertönte immer näher ein heulendes Brausen, und hoch aufwälzend überschlugen sich die schwarzen Wassermassen, von schäumendem Gischt bedeckt. Wütend tobten sie gegen die feinen Hickoryplanken der Schiffswände, machten die Jacht bis in das Innerste erzittern und umpeitschten unser Gesicht mit salzigem Wasser. Das schlanke, umhergeworfene Schiff glich einem Instrument, auf dem die tobenden Wasserberge mit rauher Hand ihre wilden Weisen spielten.

Wieder ganz plötzlich kamen zwei, drei Windstöße, dann zeigte uns das sausende Brüllen in den Lüften an, daß der Sturm uns erreicht. Die Jacht, die sich während der Flaute kaum vor dem Winde gehalten hatte, schoß, durch die beiden zum Platzen geschwellten Sturmsegel getrieben, nach vorn und flog dann pfeilschnell vor dem Winde her, immer bestrebt, dem Sturm und den Wellen die südöstliche Richtung abzutrotzen.

Dann sprang der Wind in einem jähen Stoß nach Nordosten um. Vereint mit der ersten aus Südwest heranbrausenden Woge faßte er die volle Breitseite und bog die Jacht um ihre Längsachse ins Meer. Ich fühlte, wie mir der Boden unter den Füßen entglitt, wie das Wasser schwer um meinen Körper schäumte, und glaubte, mein letztes Stündlein sei gekommen. Doch jäh richtete sich der Schiffsrumpf auf, und meine steifen Füße faßten wieder festen Boden. Ich sah, wie Kapitän und Steuermann an der Erde lagen und mit Aufbietung aller Kraft das Ruder herumwarfen. Dann drehte das Schiff bäumend bei, wir lagen wieder vor dem Winde und flogen in nordöstlicher Richtung der Küste zu. Ich hörte, wie Sauton dicht neben mir mit den Zähnen knirschte; seine Stimme klang schneidend durch das Getöse zum Kapitän. Es schien mir überflüssig, was er rief:

»Scharf Osten halten!«

Dann beugte er sich zu mir herüber, so daß ich seinen Bart an meinem Ohre fühlte, und rief mir zu:

»Der Wind zieht immer mehr aus Süden, es ist unsere letzte Fahrt.«

Und nun entlud sich die aufgespeicherte Spannung meiner Nerven. Mir wurde plötzlich ganz leicht ums Herz. Das stille Krankenstübchen, das mir immer vor Augen geschwebt hatte, verschwand, ich empfand mitten auf dem rasenden Meere, von dem tobenden Anprall der Wellen hin und her geworfen und den sicheren Tod vor Augen, ein fast wollüstiges Gefühl der Freude. Mir wurde so leicht ums Herz, so leicht, ich hatte das Gefühl, als ob sich mein Körper weit abseits der Seele befände, staunte darüber, befühlte mich mit steifen Händen und lächelte selig. Und dann fühlte ich, wie ich am Maste niedersank und Tau und Messinggriffe meinen Händen entglitten ... und ich hatte die Prinzessin eng umschlungen, und wir saßen zu Füßen unserer Mutter, und Mutter sang uns ein altes, altes Lied, und die Großherzogin kam dazu, und wir fühlten ein großes, tiefes, wunschloses Glück ...

Sauton rief laut meinen Namen, und ich merkte, wie ich langsam über das Deck glitt, und wie Sauton mit einem Strick um den Leib an meinem Arm zog. Als ich wieder am Mast stand, schaute ich mich verwundert um, fühlte einen schweren Faustschlag auf meiner Schulter und hörte Sautons Stimme:

»Brägelsdorff, seien Sie ein Mann!«

Ich raffte mich aus meiner Betäubung auf und hörte auf die abgerissenen Worte, die mir auseinandersetzten, daß wir auf der Höhe von San Remo sein müßten, und daß wir in anderthalb Stunden ertrunken wären. Und wir scherzten zusammen und bedauerten die armen Matrosen.

Der Sturm sprang immer mehr aus Süden, wir mußten jetzt senkrecht auf die Küste zujagen. Der Kapitän hatte mehrmals versucht, einen östlichen Kurs, die Richtung auf den Golf von Genua, aufzunehmen, doch immer wieder mußten wir über [Stag] gehen, immer wieder wurde das Ruder herumgeworfen, um die Jacht vor dem Kentern zu bewahren. Und dann mit einem Male tönte durch das Heulen und Pfeifen des Sturmes das donnernde Brausen der fernen Brandung.

Gleich darauf hemmte die Jacht ihre rasende Fahrt. Wir wurden weit nach vorn geschleudert und hörten ein lautes Schurren am Schiffsboden. Es war das erste Riff, der nächste Wellenberg hob uns wieder empor, und wir jagten weiter. Sauton war aufgesprungen und rief die Mannschaft mit gellender Stimme zusammen. Sie kamen einer nach dem andern, am Tauwerk entlang gleitend oder auf allen vieren über Deck kriechend, und sammelten sich um das Steuer. Sauton schrie ihnen beruhigende Worte zu. Seine Stimme klang eisern, hart, unbeugsam. Er verteilte die Schwimmwesten und zwang dem Kapitän die letzte mit Gewalt um den Leib. Dann schurrten wir wieder auf ein Riff, wurden nach vorn geschleudert und warteten auf die nächste Woge, die uns wieder lösen mußte. Wir warteten ... warteten ... und schienen in einem tiefen Tal. Plötzlich aber wurde die Jacht auf der Backbordseite von einem mächtigen Wasserhügel gefaßt und in westlicher Richtung vom Riff geschleudert. Zugleich setzte der Sturm aus. Bevor ich mich noch über die veränderte Bewegung des Wassers wundern konnte, gellte ein Befehl Sautons an mein Ohr. Er selbst sprang an das Ruder und arbeitete keuchend in den Speichen des Rades, während die Matrosen an verschiedenen Stellen Segel setzten.

Der schwere Bleikiel überrannte noch ein, zwei unterseeische Riffe, und dann merkten wir an dem gleichmäßigeren Schwunge der Wellen und dem entfernteren Tosen der Brandung, daß wir wieder ins offene Meer kamen. Einmal noch scholl das Brüllen der Brandung näher, wir sahen hoch oben das Licht des Leuchtturms von Cerizzia vorübereilen, hörten auf wenige hundert Meter das Heulen und Schäumen des Meeres an den senkrechten Felsen und wußten, daß wir gerettet waren. Wir hatten das offene Meer erreicht.

Der Himmel klärte sich etwas auf, wir sahen tiefliegende, sausende Wolken und fühlten die ersten schweren Regentropfen. Der rissige Sturm verwandelte sich in einen gleichmäßigen steifen Ostsüdost.

Sauton trat zu mir, und wir gingen in die Kajüte. Er war wieder ganz der alte, lächelte spöttisch – mitleidig, und während mir der Hals einer Kognakflasche die Zähne einzuschlagen drohte, klopfte er mir auf die Schulter:

»Schade für uns beide!«

Draußen dämmert's. Die Buchstaben tanzen Cakewalk, und auf dem Papier sind große schwarze Punkte. Ich fröstele und habe wohl etwas Fieber ...


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