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Vielen, innigen Dank für deine lieben Telegramme, aber ich bleibe vorläufig doch noch. Ich will mich von meinem Schicksal nicht feige hetzen lassen, ich will den Kampf aufnehmen, ihm die Stirn bieten.
Sophie habe ich seit drei Tagen nicht wiedergesehen. Sie ist mit der Mutter nach Cannes zur Prinzessin Wales gereist. Die Reutters sprach ich gestern und erkundigte mich unauffällig. Sie gebrauchte wieder einmal ihr geliebtes Wort »komisch«. Die Prinzessin hat vor der Abfahrt vor der Villa gestanden und mit traurigen Augen, auf die großen Buchstaben deutend, zu der Gräfin gesagt:
» La joie ... oui, oui ... la joie est morte, ma comtesse ...«
Mir sind in jener Nacht, als ich den Brief an dich schrieb, die unsinnigsten Pläne durch den Kopf gezogen. Ich wollte mich der Großherzogin entdecken, sie auf Knien beschwören, und verwarf ängstlich den Plan. Dann wollte ich ihn, der doch immer viel für uns, besonders für mich, übrig hatte, um Beistand bitten. Aber wo fände ich Hilfe gegen einen unsichtbaren Feind, gegen einen unantastbaren Schatten?
Ich widme mich in diesen Tagen des Alleinseins viel der Fürstin Loskutoff. Ihr schneidender Sarkasmus, ihre bittere Lebensironie tun meiner kranken Seele wohl. Sie ist hochgebildet und spricht über alles, das soziale Thema erwärmt sie sogar. Sie ist eine ausgesprochene Sozialistin, ja Anarchistin, wenigstens ihren Gedanken nach. Nicht aus Zerstörungswut, antimonarchischen Gefühlen oder gar eigenen schlechten Erfahrungen, sondern aus Überzeugung und einer glühenden Liebe zum Volk. Wenn man alles glaubt, was sie über die sozialen Verhältnisse in Rußland erzählt, möchte man wirklich an der großen Unvollkommenheit des Lebens verzagen. Nicht einmal der Gutsherr kann dort auf größeren Herrschaften sich und seine Bauern vor dem Betruge der Behörden und der eigenen Beamten schützen. Dabei zieht die Fürstin aus ihrem Sozialismus merkwürdige Konsequenzen, z. B. will sie sämtliche Kinder, die nicht vollständig gesund zur Welt kommen, morden lassen, und hält unseren Basar für die Krüppel Nizzas für Sünde. Sie hat jetzt einen Neffen da, einen Prinzen gleichen Namens, der ihre Millionen gern erben möchte. Er ist der Typ des russischen Edelmannes, prinzipieller Nichtstuer, verlebt und ausgemergelt. Sie behandelt ihn aber auch schlecht und sucht ihn zu demütigen, wo sie kann. Als wir gestern nach dem Frühstück auf der Terrasse den Mokka nahmen, äußerte sie den Wunsch nach einem frischen Lorbeerzweig. Es regnete in Strömen. Fräulein von Vils, die Gesellschafterin, wollte hinauseilen, aber die Fürstin wandte sich an ihren Neffen: » Veuillez ...« Und während er in den Regen hinauswatete, sagte sie auf deutsch:
»So möchte ich sie alle quälen, diese Schmarotzer!«
Und auf mein vorwurfsvolles: »Aber, aber!« fügte sie hinzu:
»Um einen einzigen Tag seines üppigen Lebens zu bezahlen, gehen in seinen Bergwerken täglich viele Hunderte dem qualvollen Quecksilbertode entgegen.«
Da haben's unsere Dörfler doch besser.
*
Ach, Hug, du glaubst nicht, was ich gestern für einen Tag durchlebt habe. Ich sah sie zum ersten Male nach jenem Ritt wieder. Sie sah erschreckend elend aus, so zart und beinah abgemagert. Und die Augen, Hug, die Augen, die das blasse, süße Gesichtchen ganz überschatteten, schauten so verzagt, so gequält und gehetzt, diese großen, wundervollen Augen ...
Es war am Basartage. Um vier Uhr versammelten wir uns im London-House. Ich sagte den Herrschaften flüchtig guten Tag und ging gleich in die Herrengarderobe neben der Bühne. Das Publikum strömte aus den Seitensälen, in denen die Verkaufsbuden aufgeschlagen waren, in den Theatersaal, und trotz der hohen Preise wurde das Haus übervoll. Im Bühnenvorraum übten die Vicomtessen und Marquisen ihre zierlichen Tanzfiguren, die Monsieurs machten scherzhafte Pas, und diskrete Lachsalven schallten zu mir herüber. Der Herzog eilte geschäftig hin und her, ermahnend, aufmunternd und hin und wieder niederkniend, um das Band eines Lackschuhes bei einem jungen Mädchen fortzustecken. Mich fragte er, was ich spielen wollte, und war ganz verblüfft, daß ich es selbst noch nicht wußte. Was sollte ich dem Publikum vorsetzen, Ernstes oder Heiteres, Schweres oder Leichtes? Ich entschied mich für eine leichtverständliche, gefällige Sammelkomposition für Cello über Motive von Beethoven, die ziemlich unbekannt ist, aber wegen ihrer Lieblichkeit Gefallen zu finden pflegt und auch von Laien beim ersten Hören verstanden wird. Da ich als Clou des Abends zuletzt auftreten sollte, hatte ich noch über eine Stunde Zeit. Sauton, mit dem ich mich, soweit es bei meinem fast ausschließlichen Dienst bei Großherzogs möglich ist, recht angefreundet habe, holte mich ab, und wir setzten uns bei einer Flasche Pommery in die erhöhte Nische eines Seitenzimmers. Durch die offene Saaltür konnten wir einen Teil der Bühne und die Orchesterloge, in der die Biesenburger mit der Prinzessin Wales und den anderen hohen Herrschaften aus Cannes Platz genommen hatten, übersehen. Die Sophie saß an der Wand die die Loge gegen die Neugier des Hauses schützt. Uninteressiert blätterte sie im Programm, legte es auf die Logenbrüstung, nahm es wieder zur Hand und sah bei besonders lebhaftem Applaus auf die Bühne.
Sauton ist mir doch ein sehr angenehmer Mensch. Er verbirgt unter großer Blasiertheit, die ihn zuerst fast fade und geistesarm erscheinen läßt, eine sehr feine Beobachtungsgabe und große Menschenkenntnis. Er steht eigentlich allein in der Welt, hat in der Normandie eine große Herrschaft mit zwei Schlössern und versucht, seine reichen Gaben im Genuß zu ersticken, wie er selbst sagt. Sein Genießen liegt aber nicht in der landläufigen Bedeutung dieses Wortes, die vor allem hier Geltung hat, sondern in einer feinen Beobachtungsgabe und seiner großen Menschenkenntnis, in der er sich über seine Umgebung stellt, die Menschen als Versuchsobjekte der Natur betrachtet und sie auf ihr Schicksal, ihre Zukunft seziert. Er spricht das nicht aus, aber ich habe es aus seinen Äußerungen herausgefühlt. Er ist von einer maßlosen Menschen- und Lebensverachtung, aber zu klug, sie zu zeigen. Im Klub ist er sehr angesehen, wird oft als Schiedsrichter in allen möglichen Fragen angerufen, steht aber keinem näher. Sein Alter ist sehr unbestimmt, man kann ihn für fünfunddreißig halten, aber auch für fünfzig, besonders in Momenten, in denen er sich unbeobachtet glaubt. Mir macht er den Eindruck, als ob er gegen mich besonders offen wäre, vielleicht fühlt er eine leise Wahlverwandtschaft, vielleicht bin ich ihm aber auch nur ein besonders interessantes Problem des Lebens.
Moritz brachte das Cello auf die Bühne, und unter lautloser Stille im Saale folgte ich. Erstaunt sah ich die vieltausend Köpfe mit den starrenden Augen und fand die Situation fast lächerlich. Dann begrüßte ich die hohen Herrschaften in der Loge und wandte mich zum Stuhl. Während ich dann den Bogen ansetzte, streifte mein Blick das Auditorium und blieb an dem hageren Gesicht des Grafen Sauton hängen, das fein und amüsiert zu lächeln schien.
Dann spielte ich Beethoven ... du kennst ja diesen Gott. Und während ich spielte, schaute ich auf die Prinzessin. Sie hatte den Sessel etwas zurückgeschoben und saß zur Seite gebeugt, den Kopf an die Logenwand gelehnt. Bleich und schmal leuchtete mir ihr Gesicht aus der Dämmerung entgegen. Sie fühlte meinen Blick, hob die halbgesenkten Lider, und Aug' in Aug' sahen wir uns an.
Wie soll ich dir schildern, was dann kam! Ich vermag es nicht. Es war ja auch nur Musik, ich sprach ja nur meine Sprache, aber ich sprach sie, wie ich sie noch nie redete.
Ich vergaß alles um mich her, sog den Blick der Sophie in mich ein und schloß die Augen.
Brüsk brach ich ab. Ich entsinne mich noch, es war mitten in der Erinnerung an die F-Mollsonate. Ich mag wohl zu dem Kapellmeister eine Gebärde gemacht haben, denn auch die Begleitung schwieg.
Meine Muskeln spielten, mein Körper erzitterte, meine Nerven waren in tobendem Aufruhr und in die atemlose Stille des verblüfften Publikums hinein rauschte mein Lied ... das Lied meiner Liebe.
Und es begann mit einem tiefen verwunderten Erzittern der C-Saite, mit einer Frage, die wie ein Erwachen war. Und es wuchs und flackerte und lohte, flutete in schweren Wellen und wand sich in sehnsuchtsvoller Qual. Und es bäumte sich hoch und suchte in rasender Eile zu fliehen, und müde kam es langsam und schneller und schneller zurück. Und es stand tief unten am Berge und schrie vor Sehnsucht nach oben und es sprang am Fels in die Höhe und wurde vom Nichts zurückgestoßen. Und es brach und raffte sich wieder verbissen und stürmte von neuem, bis es ohnmächtig wimmernd verzweifelt liegen blieb und zagend in flüsternden Fragen an die alles verschlingende Zeit zerrann ...
Es war ein Lied der Liebe, Hug ... das Lied meiner Liebe ...
Mit einem feinen Knirschen glitt der Bogen von den Saiten. Schwankend und feucht am ganzen Körper erhob ich mich.
Das Publikum war konsterniert. Lautlos, ohne sich zu rühren, starrte es mich an.
Ich wandte mich zur Loge und fühlte die brennenden Blicke vieler hoher Augen. Ich sah aber nur ein schneeweißes, zurückgebeugtes Gesicht, zwei festgepreßte Lippen, eine schweratmende Brust und zwei starr auf mich gerichtete Augen, in die das Schicksal die Antwort auf die Frage meines Liedes geschrieben zu haben schien. Dann verneigte ich mich tief gegen die Loge und ging unter dem Toben und Füßetrampeln der begeisterten Menge in die Garderobe. Moritz kam mit dem Pelz und Sauton fuhr mit mir, halb mitleidig, halb spöttisch lächelnd, ins Hotel.
Als ich mich zum Souper bei der Großherzogin umgekleidet hatte und vor der Villa ausstieg, leuchteten mir in der Dämmerung wieder die großen Buchstaben aufdringlich entgegen und ich dachte an die Worte der Sophie: La joie ... oui, oui ... la joie est morte ...
Der alte Beserbeck empfing mich.
» La princesse s'est mise au lit, une fièvre subite ...«
Es war ein erlauchter Kreis, den die hohe Frau um sich versammelt hatte. Die Prinzessin Wales hatte ihre Kinder nach Hause geschickt und war mit all den anderen hohen Herrschaften aus Cannes zum Diner geblieben. Die Dänen waren zu vieren vertreten, dann waren da die Großfürsten Stanislaus und Michael mit ihren Frauen, der Herzog von Vichien und die wenigen erlauchten Klubmitglieder des Basarkomitees. Der alte Beserbeck strahlte in seiner Würde.
Die Großherzogin hatte einen glänzenden Tag. Sie war von bestrickender Herzensgüte, erkundigte sich, nachdem ich den anderen Höchsten präsentiert war, in überaus gnädiger Weise nach meinem Befinden und zeichnete mich fast ostentativ aus. Ich war eine ganze Weile der Mittelpunkt in diesem illustren Kreise. Hugdieterich der Stolze hätte Freude an seinem Epigonen gehabt. Dann schlenderte ich mit Sauton durch die Zimmer. Es sind hohe, weite Räume von gediegener Pracht, die mich manchmal an das Brägelsdorffer Schloß erinnern. Du weißt, daß ich das Eckige, Kahle nicht liebe. Schwere Portieren, geschnitzte Plafonds, gedeckte Fußböden sind mir Bedingung zur Behaglichkeit.
Besonders ein Zimmer in der Villa ist es, das ich liebe. Ich sprach dir schon von dem großen Glück der großherzoglichen Ehe. In diesem Zimmer nun hat das Paar, wie mir die Großherzogin einmal mit ihrem feinen, schmerzlichen Lächeln erzählte, seine glücklichsten Stunden verlebt. Deine Frau, die so für das scheußlich Moderne ist, würde es aber einen Staubfang nennen. Hoch, mittelgroß, mit getäfelter Decke und paneelierten Wänden, enthält es eine Unmenge historischer Waffen und alter englischer Stiche mit Szenen aus dem Reiter- und Jagdleben oder auch wohl Ereignisse aus der Biesenburger Geschichte darstellend. Den Boden bedecken schwere Perser und weiche Felle. Wehmütig zeigte mir die Großherzogin einige kleine, kaum wahrnehmbare Brandflecke, die von den Zigarren des Verewigten herrühren. Hier pflegte die Großherzogin am Spätnachmittag am Fenster zu sitzen, ein Buch im Schoß und vor sich den dämmernden Park. Und der hohe Gemahl ging mit der schweren Import im Zimmer auf und ab oder saß auch wohl am Kamin, lang in den bequemen Sessel gestreckt und sinnend dem Rauch seiner Zigarre nachblickend. Diese Schummerstunden waren dem hohen Paar die Krone des Tages, der größte Genuß ihres großen, wunschlosen Glückes.
Abgespannt und elend, wie ich war, hatte ich mich nach der Tafel hierher zurückgezogen. Ich betrachtete das Bild des Großherzogs, das mit seinen milden, ernsten und doch so kraftvoll männlichen Zügen immer wieder ein Gefühl großer Verehrung für den toten, unbekannten Mann in mir auslöst, und setzte mich dann in den Kaminsessel, um mich zum hundertsten Male in das schwere Lederalbum zu vertiefen, das nur Bilder von der Prinzessin enthält. Und dann rauschte mit einem Male die königliche Erscheinung der Großherzogin ins Zimmer. Unter den matten Birnen des Kronleuchters blieb sie stehen, neigte den feinen Kopf zur Seite und sah mich halb schalkhaft, halb ernst an. Ihre nach oben geöffnete schmale Hand mit der rauchenden Zigarette hob sich und drohte mir:
»Sie sehen recht elend aus! Faites attention, mon ami ...!«
Ob die feinfühlige Frau wohl ahnt?